Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Wie man sich im Schreiben aneinander immer mehr ganz einfach nach den Umständen, in denen man sich. befindet, und nach den Eingebungen seines Herzens richten soll, ohne Zwang und Einschränkung. Von des Schreibers Eintritt in sein fünfzigstes Jahr, und etwas über seine Gemütsstimmung.
In Jesus, der das Leben und alI Deiner Seele sei, sehr werte und herzlich geliebte Schwester!
Sowohl Deinen letzten lieben Brief vom 4. dieses wie auch den vorigen, eingeschlossen in jene Schreiben vom Bruder C. und von den Freundinnen A. B., habe ich richtig erhalten. Und um Dir nur zu schreiben, was mir zuerst in die Gedanken kommt, so muss ich sagen, dass mir bei den wenigen Zeilen Deiner Hand einfiel: wir müssten gegenseitig beim Schreiben aneinander nur ganz einfach zu Werke gehen, bloß nach der Stimmung, worin man ist, und nach der Eingebung des Herzens wenig oder viel schreiben, je nachdem man gestimmt ist oder Lust hat, ohne das Gemüt zu zwingen oder einzuschränken. Ein paar Zeilen, ein bloßer Bericht, wie es uns geht, nebst einem kindlichen Gruß dabei ist uns das Porto wohl wert. Die Gemeinschaft im Geiste und mit der Feder ist um so süßer und köstlicher, wenn man sich, wie der Franzose sagt, dabei nicht geniert; denn so sind die Kindlein. So verfahrend hat Alles einen gewissen Duft von Gnade und einen Raum, der das Herz erquickt und nicht aus seiner Lage bringt, sondern vielmehr in Gott ausdehnt, selbst wenn man auch wenig von Gott oder göttlichen Dingen gesprochen oder geschrieben hätte. Der Leib ist zwar tot um der Sünde willen, aber der Geist muss in Gott an nichts gebunden sein (Röm. 8, 10.). Wie einfältig, wie geräumig muss das Herz sein, um einem so unermesslichen, unendlichen Gute als Gott Platz zu geben! Sieh' indessen, liebe Schwester, das hier Gesagte nicht so an, als ob ich glaubte, Du handeltest anders: nein, ich sage Dir nur meine Meinung, mit der Du einstimmen wirst. Der Herr mache uns in jeder Hinsicht noch mehr zu Kindern, an denen er seine Lust findet (Sprichw. 8, 31.).
Wenn ich bis zum nächsten Freitage lebe, dann trete ich in mein fünfzigstes Jahr. Trage mich dann, wenn es Dir gefällig ist, besonders dem Herrn auf, und sage es auch unsern Schwestern A. und O., auf dass, wenn es etwa mein letztes Jahr sein möchte, (ja auch außer dem,) der Herr dieses Jahr und mich selbst besonders heilige, mir die Fülle der Freiheit seiner Kinder verleihe, und mich wieder zu meiner Habe und zu meinem Geschlecht kommen lasse (Lev. 25, 10.). Was mich betrifft, ich habe nichts zu säen und zu ernten, sondern werde auch in diesem Jahre leben müssen von dem, was der Herr selbst wachsen lässt. Ich wünsche es uns gesamtlich, dass wir das ganze Werk und uns selbst für Zeit und Ewigkeit dem Herrn wie Kindlein anvertrauen mögen, nichts von uns erwartend, noch Wohlgefallen in uns findend. O, wie wohl gefällt dem Herrn dieser kindliche Zustand! ich kann es nicht ausdrücken, was mich der Herr zuweilen davon fühlen lässt, obgleich es nur wenig ist. Die Kinder des Hauses sind zu nichts fähig, als nur den Eltern Mühe zu machen; dennoch werden sie am meisten geliebt und lieben am reinsten: sie lieben, ohne von Reichtum und Armut etwas zu wissen; sie vertrauen ohne Nachdenken und Kummer; sie glauben, dass Alles gut ist, was der Vater tut, ohne zu beurteilen, und dass bei ihm alle Dinge möglich sind; Alles, was der Vater hat, ist das Ihrige, und man lässt es ihnen auch zu wegen ihrer Einfalt: sie freuen sich ihres Vaters, seiner Gegenwart; sie teilen seine Freude usw. Und dies ist die reine Liebe, zu der uns der Herr gründlich bereiten und läutern möge! Niemand kann Gott nach Würden ehren und lieben, als er selbst. Gott tut dies auf das vollkommenste und von Ewigkeit zu Ewigkeit; und er selbst will sich auch so lieben und verherrlichen in uns! Im fühlbaren Bekenntnis seines Nichts dies zu erkennen und mit Wohlgefallen zu finden in dem, was Gott ist und tut, das heißt Gott ehren und lieben, und ist die Seligkeit der Kreatur.
Ich bleibe
Dein im Herrn verbundener Bruder.
Mülheim, den 22. November 1746.