Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Jesus Christus - Die Auferstehung und das Leben
Joh. 11, 25. 26. 27.
“Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an Mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebt, und glaubt an Mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu Ihm: HErr, ja, ich glaube, dass du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.“
1.
Leben - Lebensgenuss - Lebensfortdauer - Freiheit von Lebenseinschränkung und Tod sucht der zum Leben erschaffene Mensch. Dieser Trieb nach Leben und Lebens-Genuss ist tief in unsere Natur eingegraben, und ein Wirkungsgesetz unserer Seele. Alles, was Leben gibt, Leben erweitert und erhöht, ist dem Menschen wünschenswert und wird von ihm gesucht; Alles, was Leben einschränkt, hemmt, raubt, ist ein Gegenstand unsers Abscheus und unsers Hasses. Nur im Leben, im Lebensgefühl und Lebensgenuss sucht der Mensch sein Wohlsein und sein Glück; und daher ist ihm jedes Mittel willkommen, das ihn zu diesem Zwecke führt; Lebenskränkung und Lebensverlust sieht er als Unglück und Elend an. Diesen Sinn hat der gütige Schöpfer in das Herz des Menschen eingepflanzt, und nur die drückendste Not, in der er keinen Rat und keinen Ausgang mehr findet, kann ihn verleiten, von diesem Grundgesetz seiner Natur abzuweichen, und das Ende des Lebens wünschenswert zu finden. Im Stande der Unschuld war das Leben des Menschen Seligkeit, ein ungestörter, reiner, Gott wohlgefälliger Freudengenuss, dem nichts beigemischt war, das Schmerz und Kummer verursacht hätte. Es war ein Leben aus Gott, das im Umgang mit Gott und in der freudigen Befolgung seines Willens stets die seligste Nahrung fand, und zu immer neuen und höheren Freuden hinführte. Von Lebenseinschränkung und Tod wusste der Mensch eben so wenig, als er die schmerzhaften Ursachen kannte, welche die traurigen Übel der Sünde unaufhaltsam herbeiführten. Die Sünde allein brachte die schrecklichsten Zerrüttungen in dem Leben des Menschen hervor. Durch sie verlor das reine Leben der wonnevollsten Unschuld seine beseligende Richtung zu Gott; und das Sinnliche im Menschen erhielt das Übergewicht über den göttlichen Lebensfunken; durch sie ward ein fruchtbarer Same alles dessen, was den einzig wahren Lebensgenus verbittert, tief in die Seele des Menschen gelegt; durch sie keimte Kummer und Sorge, verkehrter Wille und böse Leidenschaft, Krankheit und Tod in dem gefallenen Menschen auf. So ging jenes schöne Leben heiliger Unschuld für den Menschen verloren, und seine Stelle nahmen mancherlei hartnäckige Feinde des wahren Lebensgenusses ein, welche am Ende den Tod herbeiführen. Seit die Sünde unter dem Menschen-Geschlechte diese giftigen Wurzeln fasste, hat der arme Knecht der Sünde dem großen bedeutungsvollen Wort „Leben“ eine andere Bedeutung untergelegt, welche von der Verkehrtheit des menschlichen Herzens zeugt. Leben in der gewöhnlichen Weltsprache heißt: Seinen sündlichen Lüsten und Begierden den freien Zügel lassen, die vergänglichen Erdenfreuden ungestört genießen, den Taumelkelch der sinnlichen Wollust bis auf den letzten Tropfen austrinken, und dadurch die Bedürfnisse und Anforderungen des unsterblichen Geistes zum Schweigen zu bringen. Wenn das „Leben“ heißt, so hat nur der leichtsinnige Sündensklave sein Glück in dieser Welt gemacht und am Ende seiner wilden Erden-Laufbahn das Ziel seines Lebens erreicht. Wehe alsdann dem Armen, dem Elenden, dem Unterdrückten, dem Kranken und Frommen, den das Wort Gottes, die Stimme des Gewissens und äußere Dürftigkeit an seinem Lebensgenusse hindert, und die Erreichung seines Zieles unmöglich macht!
Aber ganz anders erscheint uns die eigentliche Bestimmung des Lebens aus dem erhabenen und lichtvollen Gesichtspunkte, den uns Jesus Christus, der eingeborene Sohn des himmlischen Vaters, eröffnet. Die größte, inhaltreichste Bedeutung hat das Wort „Leben“ in seiner Sprache und nach seinem Sinne. Das höhere Leben des Geistes, die unsichtbare, ewigdauernde, unaussprechlich beseligende Gemeinschaft mit seinem Vater und mit Ihm, die durch die Sünde verloren gegangen war, hat Er durch sein Leben und durch seinen Tod wieder ans Licht gebracht. Jede Einschränkung und Zerrüttung dieses einzig wahren Lebens, das durch seinen Geist in den Herzen seiner Schüler hervorgebracht und unterhalten wird, soll aufgehoben und vertilgt, und der Mensch der Urquelle des ewigseligen Lebens, die Er selbst ist, wieder nahegebracht werden. Eben daher spricht Er zu Martha die großen bedeutungsvollen Worte aus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an Mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an Mich, der wird nimmermehr sterben.“
2.
Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer so von sich reden, sich selbst die Auferstehungskraft und die Quelle des unsterblichen Lebens nennen kann und darf, der ist Gott, so menschlich Er sich auch dem Menschen zeigen mag. So hat noch kein Mensch weder vor noch nach Jesu Christo gesprochen, diese Gottesgleichheit in Kraft und Leben sich außer Ihm noch Niemand zugeschrieben. Welcher Sterbliche hätte es auch wagen dürfen, so etwas von sich auszusagen, da jeder Sarg und jedes Grab ihm und Andern die Unwahrheit seiner Behauptung laut in das Angesicht gerufen hätte. Nur Jesus Christus konnte in diesen Ausdrücken von sich reden, und sich als den allmächtigen Todes- Überwinder und die ewige unerschöpfliche Lebens-Quelle dem sterblich gewordenen Adams-Geschlechte darstellen, weil Er es wirklich war, und Er durch die unwidersprechlichsten Tatsachen die Wahrheit seiner Worte bekräftigen konnte. So hoch und anmaßend auch diese Ansprüche auf Gottes- Ähnlichkeit und Gotteskraft in den Ohren der Ungläubigen klingen mochten, und nach achtzehn hundert Jahren noch in ihren Ohren klingen mögen Er hielt sie nicht zurück, tat nicht verborgen und geheimnisvoll mit der Sache, sprach nicht zweideutig und unbestimmt, sondern so klar und deutlich davon, dass es Jeder verstehen konnte und musste. Früher schon hatte Er bei mehreren Anlässen diesen majestätischen Lichtstrahl seiner Gottheit in die noch blöden Augen seiner Schüler fallen lassen, und durch Wort und Tat die Wahrheit derselben versiegelt. Es kommt die Stunde, spricht Er vor Freunden und Feinden, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben. Denn wie der Vater das Leben hat in Ihm selber, also hat Er dem Sohne gegeben, das Leben zu haben in Ihm selber. (Joh. 5, 25. 26.) „Niemand nimmt mein Leben von Mir, sondern Ich lasse es von mir selber; Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zu nehmen.“ „Du hast Ihm Macht gegeben über alles Fleisch“, spricht Er von Sich in seinem hohenpriesterlichen Gebet zu seinem Vater, „auf das Er das ewige Leben gebe Allen, die Du Ihm gegeben hast.“ (Joh. 17,2.) - Eben daher konnte Er bei dem Grabe seines verstorbenen Freundes der trauernden Schwester so bestimmt von Sich sagen: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“, und von ihr erwarten, dass sie Ihm in diesem entscheidenden Augenblicke alles Zutrauen schenke, und es getrost glaube, dass seiner Gotteskraft die Auferweckung ihres Bruders auch jetzt noch nicht unmöglich sei. Mag immerhin der Unglaube seine unselige Kunst versuchen, diese unmissverstehbaren Aussprüche Jesu von sich wegzuphilosophieren, zu verkleinern, zu untergraben - noch stehen sie, Gottlob und Dank! als unwidersprechliche Wahrheit in unserm lieben Bibelbuch; werden von vielen Tausenden zu ihrem ewigen Trost und köstlichen Labsal in der Stunde beängstigender Trübsal gelesen, betrachtet, geglaubt der Leidende lebt dadurch aufs Neue auf, und stillt sein heißes Bedürfnis an dieser unversiegbaren Lebensquelle. Solch' einen allmächtigen Freund bedurfte die arme Menschheit, die unter der Furcht des Todes und den tausendfachen Störungen und Ertötungen des Lebens bange seufzte, und in ihrer Mitte vergeblich nach einem Überwinder des Todes und nach einem Geber des ewigen Lebens sich umsah. Nun fällt die schwere Bürde vom Herzen hinweg, welche die gerechte Ausschließung vom Genuss einer ewigen Seligkeit fürchten ließ; denn hier bietet sich dem ermatteten Geiste ein erquickendes Lebensmanna dar, das alles, was Lebensstörung und Tod heißt, verschlingt, und das Herz mit der seligsten Wonne und den heitersten Aussichten erfüllt. Jesus Christus ist die Auferstehung und das Leben! - Welch' ein unbezahlbares Wort, das der Besitz von tausend Welten nicht aufwiegt. Nehmt diesen Ausspruch heraus aus dem Worte des ewigen Bundes so sinkt Alles in Staub und Moder, was auf diesem leidensvollen Schauplatz wandelnder Erscheinungen das schmachtende Herz allein beruhigen und stärken kann. Raubt dieses Labsal dem blöden Herzen, so habt ihr demselben schon hier eine qualvolle Hölle bereitet. Aber nehmt es einfältig an, wie es da steht, glaubt es, haltet euch als an dem sichersten Anker der Hoffnung an demselbigen fest, so wird euere Seele leben, und der Strom der süßesten Tröstungen niemals versiegen.
3.
Ist Jesus Christus die Auferstehung und das Leben, kann Niemand als Er allein Todes-Freiheit, Auferstehungskraft und ewiges Leben mitteilen, so ist Jeder, der zutrauensvoll sich an Ihn hält, aufs Beste beraten. Schon im gegenwärtigen Dasein geht von dieser ewigen Lebensquelle eine unzerstörbare Lebenskraft in Jeden über, der an ihr seinen Durst nach seliger Unsterblichkeit löscht. Wer an Ihn glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Wer ein unumschränktes Zutrauen zu Jesu fasst, und durch Glauben und Liebe in sein Bild umgestaltet wird, der erhält eben dadurch ein Leben in sich, das kein Tod ihm rauben kann. Sein Körper kann sterben, und stirbt wirklich um der Sünde willen, aber der Geist lebt, um der Gerechtigkeit willen. Dieser göttliche Keim des ewig unzerstörbaren Lebens wird in der Wiedergeburt von oben in die Seele jedes Gläubigen gelegt; und er reift mitten unter millionenfachen Umwandlungen der vergänglichen Welt für das ewige Reich der Seligkeit. Ohne ein solches Gegengift gegen die inneren Verwüstungen der Sünde wäre der gefallene Mensch ein Raub des ewigen Todes geworden. So mächtig hat die Sünde in der Seele des Unwiedergeborenen um sich gegriffen; aber wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden. Denn so um des Einigen (Adams) Sünde willen der Tod geherrscht hat durch den Einen, vielmehr werden die, so da empfangen die Fülle der Gnade und der Gaben zur Gerechtigkeit, herrschen im Leben, durch Einen, Jesum Christ. (Röm. 5, 17.) Wer kann die Tiefen und Höhen dieser Gnadenfülle aussprechen, die dem erkrankten, zum ewigen Tod gereiften Sündergeschlechte durch Jesum Christum erworben ward und angeboten wird? In eine solche ewig unzertrennliche Geistes- und Herzens-Verbindung voll Leben und Seligkeit kann und soll schon hier der Mensch durch Glauben mit Christo treten. Eben darum konnte Jesus so zuversichtlich sagen: „Ich bin das Brot des Lebens, das vom Himmel kommt; auf dass, wer davon isst, nicht sterbe. Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohns und trinken sein Blut, so Habt ihr kein Leben in euch. Wer mein Fleisch isst, und trinkt mein Blut, der hat das ewige Leben, und Ich werde ihn auferwecken am jüngsten Tag.“ (Joh. 6, 48-54.) Wer sein Vertrauen auf Ihn setzt, mit dem will Er in eine so enge und unzertrennliche Verbindung treten, dass Er, wie Speise und Trank, die wir genießen, ganz unser wird, unserm geistlichen Leben zur täglichen Nahrung dient, und durch seine himmlischen Mitteilungen ein neues ewiges seliges Leben in uns pflanzt und unterhält. Diese neue geistige Wirksamkeit, dieses allmächtige Triebwerk, das Er im Herzen seiner Gläubigen schon hier in Bewegung setzt, und das in seiner und seines Vaters-Erkenntnis seinen Grund hat, (Joh. 17, 3.) ist die Liebe, die größte unter allen Himmels-Gaben. Diese göttliche Liebe, welche Gottes Geist in die Herzen der Gläubigen ergießt, durchdringt und heiligt die innersten Gefäße unsers Geistes und Herzens, und verwandelt das bloße Naturleben des gefallenen Menschen in das ewig dauernde und ewig selige Leben der Gnade. Wer durch den Glauben dieses höhere Geistesleben, diese lautere Urquelle des Göttlichen in sich hat, der wird nimmermehr sterben. Göttliches Leben durch den Glauben besitzen, und dem, was der Mund Gottes Sterben heißt, unterworfen sein, wäre ein Widerspruch. Das Leben des Gläubigen ist über die wandelnden Erscheinungen und den zerstörenden Wechsel der Erdendinge ebenso hoch erhaben, als der Himmel von der Erde ist. Der Ungläubige mag sterben, die Bitterkeiten und Schrecknisse des Todes in ihrem vollen Maße fühlen, unter dem Fluch der Sünde schmachten und verschmachten, von der Finsternis des Erdenlebens in die ewigen Finsternisse einer qualvollen Unsterblichkeit übergehen: der Christ stirbt nicht; er ist einmal mit Christo der Sünde und dem Fluch derselben abgestorben und seitdem in ein ewiges Leben des Geistes übergetreten; was mit ihm im Tode vorgeht, ist eigentlich kein Sterben zu nennen, es ist Übertritt aus dieser vergänglichen Welt in eine Unvergängliche, sehnlich erwünschter Abruf von dem Schauplatz der Leiden in die ewige Herrlichkeit.
4.
Siehe, Leidender! Hier sagt dir Jesus Christus, der Mund der Wahrheit, um was du vor Allem zuerst und zuletzt zu sorgen hast. Kennst du dieses göttliche Leben der Erkenntnis Gottes und Jesu, diese allmächtige Wirksamkeit des Glaubens, dieses sanfte Alles durchdringende und erwärmende Feuer der Liebe? Lebt dieser himmlische Funken in deinem inneren Menschen, der all' dein Denken und Sorgen, dein Empfinden und Harren, dein Leiden und Schweigen, dein Reden und Handeln leitet? Trägst du die schönen Merkmale dieser unzerstörbaren Lebenskraft in und an dir? - Darfst du die mit Herzens-Beruhigung dieses Zeugnis geben, so hast du das Größte, was dem Christen hienieden zu Teil werden kann - du hast ein ewiges Leben in dir. Sollte dieser große Gedanke dir nicht Mut machen, geduldig die Lasten zu tragen, welche dir die Hand der Liebe auflegt? Solltest du nicht in diesem himmlischen Kleinod, dass du in dir trägst, zu jeder Stunde einen heilenden Balsam für deine Wunden finden? Du musst in deiner Lage Manches entbehren, was Andere genießen; aber besitzt du nicht das Größte, was der Himmel geben kann? Warum solltest du dafür nicht auch etwas Kleineres fahren lassen können, das dir schädlich ist? Du grämst dich mit allerlei bangen Besorgnissen, die nur auf dein zeitliches Leben hingerichtet sind; aber hat denn der Funke des ewigen Lebens, der in dir glimmt, keinen unendlich höheren Wert? Und siehe! Dieser ist dir unentreißbar, unentreißbar, indes alles Irdische, und selbst dein zeitliches Leben wie der Nebel vor der Sonne verschwindet. Dein Körper drückt dich oft schwer; du seufzt unter seiner Last und seinen Schmerzen doch getrost! Es wird nicht lange mehr währen, so wird das irdische Haus dieser Hütte zerbrechen, und dein verweslicher kranker Körper wird in unverweslicher Gesundheit, ewiger Lebenskraft und himmlischer Klarheit wieder auferstehen. Stille an dieser Trostquelle deinen Durst nach Leidens-Freiheit und ewigem Leben; sie wird nimmermehr versiegen, bis der Tod dein mattes Auge für dieses kummervolle Erdenleben schließt.
5.
Glaubst du das? fragt Christus die trostbedürftige Martha, um ihren wankenden Glauben wieder aufzurichten. Er will, sie soll Ihm recht Vieles, ja Alles zutrauen, und durch den Glauben an Ihn jeden bangen Zweifel wegen der Auferweckung ihres Bruders überwinden. Sie soll zuvor glauben, ehe sie sieht; einfältig vertrauen, ehe ihr geholfen wird. Je mehr du glaubst, desto näher ist deine Hilfe. Durch dein Vertrauen ziehst du die hilfreiche Allmacht Jesu herbei; denn Er lässt dich bloß darum leiden, und unter Leiden warten, damit du glauben mögest. O wie manches drückende Leiden hat schon der Glaube der Kinder Gottes verschlungen! Wie manche Finsternis des Herzens dieses kindliche Zutrauen verjagt! Glauben ist die einzige Arznei der erkrankten, gepressten Menschheit. Könnte sie heute noch glauben, wie Jesus Christus geglaubt haben will, die Erden. Not nähme heute noch ein Ende, und dieser trauervolle Schauplatz des Elendes würde ein Paradies.
Glaubst du das? Leser, Leserin! Frage dich ernstlich, weil Jesus Christus dich fragt. Der Glaube des Andern kann dich nichts nützen, du selbst musst glauben lernen, wenn dir geholfen werden soll. Warum solltest denn du nicht glauben lernen wollen, wenn dem Glauben so große Dinge verheißen sind? Soll dieses göttliche Bedürfnis deines inneren Menschen noch lange leblos liegen, und niemals zur Wirksamkeit gelangen? Der Schaden deiner Glaubenslosigkeit wird Niemand anders als dir zur Last fallen.
Glaubst du das? Ist dir der Ausspruch Jesu entscheidend und wahr? Hast du keinen Zweifel mehr? Kannst du dich daran festhalten, wie du dich an das Versprechen jedes ehrlichen Mannes festhältst? Findest du Trost und Beruhigung darin, Kraft zum Leben und zum Leiden? Es ist nicht genug, bloß im Allgemeinen an das Wort Gottes zu glauben; was im Worte Gottes steht, ist auch dir geschrieben; was der HErr zur Martha sagt, eben das sagt Er auch dir; und du sollst es annehmen und festhalten, und darauf ruhen, als ob Er es mündlich und lautvernehmbar zu dir gesprochen hätte. Dies ist die Natur des Glaubens. Er wendet das Allgemeine auf sich an, findet sich selbst allenthalben gemeint, ist in jedem Wort, in jeder Geschichte für sich interessiert, wie der Reiche das Vermögen, das Er hat, als sein betrachtet. Kannst du die Worte Jesu auch also glauben, und auch dann noch glauben, wenn Tausende um dich her vom Glauben abfielen, und deines Glaubens spotteten? Kannst du auch dann noch fortfahren, in diesem Glauben fest und getrost zu handeln, wenn Leiden und Entbehrungen, wenn Schmach und Verfolgungen dein Los um deines Glaubens willen wären? Frage dich, Schüler, Schülerin Jesu! ist dir die Bibel so glaubenswürdig geworden?
Glaubst du das? Nicht was deine Vernunft darüber sagt, was die Welt davon hält, was die Weisen und Aufgeklärten des Zeitalters darüber urteilen, sondern was Jesus Christus spricht, eben darum, und allein aus dem Grund, weil Er es sagt, und von den Seinigen geglaubt haben will. Du sollst Ihn für mehr als einen bloßen Menschen, oder einen weisen Lehrer der Wahrheit, oder einen Zugendhelden halten. Dieser Glaube an Ihn ist noch lange nicht sein Glaube, den Er gründen will. „Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt Er hier, wer an Mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an Mich, der wird nimmermehr sterben.“ Glaubst du auch das? und kannst du es getrost darauf ankommen lassen, wenn deine Geliebten sterben, und du selbst im Tode erblasst, dass du durch Ihn Bürger und Erbe einer seligen Unsterblichkeit geworden bist, und dass selbst dein Leib einmal in verklärter himmlischer Gestalt mit deinem vollendeten Geist werde vereinigt werden? Er will dir nicht bloß Mensch, Lehrer der Weisheit und Tugendmuster, Er will dir Gott selbst, und Alles in Allem sein. Was du von Niemand erwarten kannst, das sollst du von Ihm erwarten; was dem Menschen und dem Seraph vor dem Throne Gottes unmöglich ist, das sollst du seiner Macht und seiner Liebe getrost zutrauen. Glaubst du das, und bist du selig in diesem Glauben?
6.
Martha antwortete: HErr! Ja ich glaube, dass Du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. So hatte sich nun Marthas Glauben glücklich durchgekämpft und gesiegt. Sie war auf den Punkt gekommen, auf den sie der Glaubens-Vollender hinaufschwingen wollte, um an ihrem Bruder die größte Wundertat verrichten zu können. Er war ihr Messias, der Sohn Gottes und verheißene Retter des Volks geworden. Das Zeugnis, das einst Petrus in seinem und seiner Mitjünger Namen von Jesu ablegte, (Matth. 16, 16.) und um dessen Bestätigung es dem Johannes mit seiner evangelischen Geschichte hauptsächlich zu tun ist, (Joh. 20, 31.) war ihr Glaubens-Bekenntnis geworden, das sie ohne Zögern freimutig und offen hier öffentlich bekennt. Darum war es Jesu, der bei allem seinem Tun den Hauptzweck seiner Liebes- Tätigkeit, das Wachstum des zutrauensvollen Glaubens, nie aus den Augen lässt, mit seinem bisherigen Warten allein zu tun gewesen, und nun konnte Er vollenden, was sein Erbarmen gern schon längst getan hätte. O des Ewig-Treuen! - Wie viel musste Er sich mühen, um dieses Glaubensziel, die zutrauensvolle Anerkennung seiner Messias-Würde und Messias-Kraft allmählig in den Herzen seiner Schüler zu Stande zu bringen. Wie viele Mühe gibt Er sich heute noch, dass wir Ihn getrost und zuversichtlich für den verheißenen Retter des Menschengeschlechts und den Sohn Gottes halten, und dieses Glaubens so froh werden, als Er uns froh machen kann. Unaussprechlich glücklich ist das Herz, das mit dem Herzen einer Martha sagen kann: HErr! Ja ich glaube, dass Du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.
Aber wie selten findet man in unsrer heutigen Christenwelt dieses heitere, offene Bekenntnis der Wahrheit! Ist dies nicht die eiternde Wunde, an welcher der herrschende Geist unsers aufgeklärten Zeitalters krank darnieder liegt? In wie mancher Gesellschaft würde man ein bemitleidendes Hohnlächeln, ein verächtliches Achselzucken wahrnehmen müssen, wenn ein Freund der Wahrheit mit Marthas Freimütigkeit das offene Zeugnis ablegte: „Ich glaube, dass Jesus ist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.“- Einige würden seine Verstandes-Schwäche beklagen; und Andere in vollem Ernste zu beweisen suchen, dass sie in Jesu alles Andere, nur nicht den Sohn Gottes finden, der in die Welt gekommen ist. Aber dieses Irrlicht unsrer Tage ist fürwahr nicht von oben her, sondern mit den Klarsten Behauptungen Jesu von sich im geradesten Widerspruch. Wie hätte Er Marthas offenes Bekenntnis mit so sichtbarer Billigung anhören können, und nicht viel mehr demselben ebenso klar und bestimmt widersprechen müssen, wenn es Ihm nicht ausdrücklich und absichtlich darum zu tun gewesen wäre, von der Welt als Sohn Gottes anerkannt und verehrt zu werden?
Freunde! Lasst euch nicht verführen! Wer aus Gott ist, der hört Gottes Wort. Über Alles teuer und heilig sei Euch dieses Wort der Wahrheit und jeder Ausspruch aus dem Munde Jesu und seiner Apostel! - Die lebendige Überzeugung, dass Jesus Christus der Sohn des lebendigen Gottes ist, sei und bleibe der Grundpfeiler unsers allerheiligsten Glaubens, den keine Satans-Macht und keine täuschende Menschen Weisheit in unsern Herzen zu erschüttern vermöge. Auf dieses glaubensvolle Bekenntnis hat Jesus von Anfang an seine Gemeine gegründet und durch seine Gottes-Macht bisher unter allen Stürmen der Welt diesen seligmachenden Glauben unter einer Zahl seiner wahren Bekenner erhalten. Darum lasst uns standhaft bei diesem freimütigen Bekenntnis bis zum Ende beharren, und dieses schöne Ziel unsers Christen-Glaubens nie aus dem Auge verlieren. Er rüste unsre Seelen aus mit den Waffen des Geistes, um am bösen Tage gegen die Angriffe des Bösewichts Widerstand zu tun, und das Feld zu behalten.