Emmerich, Friedrich Carl Timotheus - Am Reformationsfeste.
Text: Offenb. Joh. 3, II.
Es ist heute abermals der frohe Jahrestag der Reformationsfeier wiedergekehrt; eines Festes, welches vor einem Jahre alle, des Höheren noch einigermaßen empfänglichen Gemüter unter den Protestanten so lebendig ergriffen hat, und das bei denen, die in der Religion nicht einen Anfang von Leben, sondern dessen wesentlichen Inhalt erblicken, gewiss eine reiche, sich immer mehr entwickelnde Saat zurückließ von Trost, von Freude, von siegendem Mute bei allen Kämpfen mit der Christo widerstrebenden Welt. Ist doch die Reformation eine augenscheinliche, tatenreiche Bestätigung jener Worte, womit unser Heiland von seinen Jüngern Abschied nahm: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden; und siehe! ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt!“ Ist sie doch ein kraftvoller Erweis jenes aller Macht der Erde und den Pforten der Hölle trotzenden Schutzes, den Christus seiner Kirche verheißen hat, und welchen er nicht müde wurde und nicht müde werden wird ihr zu erteilen, bis dereinst Eine gereinigte Herde und Ein Hirte sein wird. Wenn aber die gesamte Geschichte der christlichen Kirche, und die Reformation insbesondere, jedem forschenden Auge unwiderleglich dartut, wie das Evangelium durch die Kraft des göttlichen Wortes und die Kraft des Heiligen Geistes immer weiter über die Erde und über die Geschlechter der Menschen sich verbreitet, wie es dem Feuer und dem Schwerte der weltlichen Gewalt und den Ränken des Unglaubens siegreich widerstanden, wie es von den Schlacken menschlicher Satzungen, Torheiten und Irrtümer immer zur rechten Zeit aufs neue gereinigt und den Menschenherzen wieder näher gebracht wurde, wie endlich aus jedem Verderben, welches den Untergang ihm zu drohen schien, es jedes Mal glorreicher, geläuterter und segnungsvoller sein Haupt emporhob, und in jedem Kampfe als Gotteswerk sich erprobte; wenn auf diese Weise Christus alles das Seinige tut, um seine Kirche, sein Evangelium zu erhalten, zu schützen, zu verbreiten, so müssen wir, wenn wir Teil an ihm haben wollen, auch auf unserer Seite nichts versäumen, um die uns von so mächtiger Hand dargebotene Krone nicht durch eigene Untreue zu verlieren. Halte fest, was du hast, auf dass Niemand dir deine Krone raube! so ruft er auch jetzt uns evangelischen Christen zu; denn noch ist der Kampf nicht geendet, noch ist die christliche evangelische Kirche eine streitende Kirche, noch hat ein jeder unter uns für sich selbst und für diejenigen, welche ihm anvertraut sind, dafür zu sorgen, dass nicht menschliches Ansehen, Unglaube oder Gleichgültigkeit ihm und den seinigen das Evangelium von Jesus Christus raube, welches als Unsterblichkeitskrone, als leuchte des ewigen Lebens von Gottes Gnade ihm ist dargeboten worden.
Die Unterwerfung unter ein menschliches Ansehen und unter menschliche Satzungen in Dingen, die das ewige Heil betreffen, dies ist der erste Feind, gegen den wir unsere Krone, das Evangelium Jesu Christi, zu bewahren haben. Das Verwerfen, das Protestiren gegen ein solches menschliches Ansehen in Sachen des christlichen Glaubens, die Unterwerfung unter die Aussprüche der Bibel, als der einzigen Quelle, aus welcher wir die Kunde vom echten Christentum schöpfen können, dies macht den eigentlichen wesentlichen Unterschied unserer protestantischen Kirche von derjenigen kirchlichen Gesellschaft aus, aus deren Schoß Luther und seine Gefährten verstoßen wurden. Und wie, meine Brüder, hatten die Reformatoren nicht volles Recht, in Sachen des Glaubens sich einzig und allein auf die Bibel zu berufen, und alles das zu verwerfen, was mit der Bibel im Widerspruch stehet, dasjenige aber, was zwar ihr nicht widerspricht, jedoch auch in ihr nicht gegründet ist, der Prüfung eines Jeglichen zu unterwerfen, und es für eine Sache zu erklären, die nicht zu dem Einzigen, was Not tut, gehöre? Beweisen sie nicht gerade durch ein solches Verfahren ihre tiefe Einsicht in die göttlichen und menschlichen Dinge? Denn seht, wenn ein Mensch oder eine Gesellschaft von Menschen sich vermisst, uns zuzurufen: Du musst über Gott, über Christus und sein Erlösungswerk, über das Leben, das jenseits deiner wartet, über den Weg endlich, der zu Gottes Sohne, und durch ihn zum Vater und zu seinen Himmeln führt, dies oder jenes glauben, weil wir dir es als Wahrheit versichern; können und müssen wir ihnen nicht antworten: mit welchem Rechte maßt ihr euch denn dieses Ansehen an? wo ist der Beweis, dass ihr in Gottes Geheimnisse mehr als wir eingeweiht seid? Seid ihr etwa in den Himmeln zu Hause, wo die Geheimnisse der göttlichen Gerechtigkeit und der göttlichen Erbarmung sich dem staunenden, anbetenden Blicke entfalten, und bringt ihr von dort herab uns eure neue Lehre? Niemand ist ja von dort herabgekommen, als der wieder gen Himmel hinaufgefahren ist: der Sohn Gottes, der allein den Vater erkennt, und dem Menschen offenbart und erklärt hat, was zu seinem Heile notwendig ist. Oder sagt ihr: in den heiligen Schriften sei nicht alles enthalten, was Christus und die Apostel gelehrt hätten, es sei dieses von den Aposteln ihren Nachfolgern, den Bischöfen, nur mündlich überliefert worden, und diese mündliche Überlieferung, die sich in der Kirche bis auf diesen Tag erhalten, wäre ebenso verbindlich, als die schriftliche im Neuen Testamente. Allein öffnet doch die Jahrbücher der Geschichte; lehren sie nicht, dass gerade dasjenige, worin die schriftliche Kirche zu allen Zeiten und aller Orten übereingestimmt hat, auch in dem N. T. enthalten sei; dass hingegen die Satzungen, welche ihr uns neben der Bibel aufdringen wollt, erst späterhin aufgekommen, und bald angenommen, bald auch verworfen worden sind. Wolltet ihr aber, unter dem Vorwande einer mündlichen Überlieferung, oder einer euch hierzu erteilten besonderen göttlichen Vollmacht, uns Lehren und Gebräuche und Vorschriften aufdringen, die mit Christi und der Apostel Lehre, wie sie im N. T. enthalten ist, im Widerspruche stehen, so seht wohl zu, dass euch nicht jenes Wort des Apostels Paulus an die Galater treffe: Wenn wir, oder selbst ein Engel vom Himmel euch würde ein anderes Evangelium predigen, als wir gepredigt haben, der sei verflucht. Oder saget ihr endlich: so sind wir wenigstens dazu eingesetzt und bevollmächtigt das N. T. zu erklären; die andern sind verbunden, unsere Erklärung als die richtige blindlings anzunehmen, da ja sonst ein jeder eine andere Erklärung hervorbringen kann. Allein teils würdet ihr uns unmöglich beweisen können, warum gerade ihr das Recht haben solltet, solche richtige Erklärung zu geben, teils wäre eine solche gleichförmige Erklärung gar nicht nötig zum Heile des Christen. In dem N. T. ist ja das Wort der göttlichen Vernunft enthalten, und wer seine menschliche Vernunft reinigt von Irrtümern der Sinnlichkeit und der Verderbnis seines Herzens, wer mit einem Heiligen Sinne und auf eine vernünftige Weise die heiligen Schriften liest, wer endlich überzeugt ist, dass Gottes Wort nichts lehren könne, als was den Menschen sittlicher, heiliger, liebender, friedevoller macht, und also jede Erklärung verwirft, welche von diesem das Gegenteil tun würde, zu dem wird auch die Himmelsvernunft des N. T. klar, und richtig, und vernehmlich sprechen. Das Einzige was Not tut, findet jeder nach Wahrheit strebende Leser offen und aufgedeckt vor seinem geistigen Auge; und was die Nebensachen anbelangt, so mag darin, wie in vielen andern Dingen, immerhin eine Verschiedenheit der Meinungen, der Gebräuche, der kirchlichen Einrichtungen bleiben, eine Verschiedenheit, welche nicht kann vermieden und aufgehoben werden, da sie sich auf die verschiedene Fassungskraft, Gemütsart und Bedürfnisse der Menschen gründet. Nur bei einer freien vernünftigen Forschung in der Heiligen Schrift, bei einer freien vernünftigen Prüfung der Glaubenswahrheit kann das eigene Denken des Geistes gedeihen, und durch dieses eigene Denken eine eigene, feste, unerschütterliche, ins Leben übergehende, Überzeugung in uns begründet werden. Der Geist des Menschen, dessen Leben in einem freien Bewegen seiner selbst, in einem vernünftigen Denken besteht, soll sich nicht sklavisch beugen vor dem Worte eines andern Menschen, der unter den nämlichen Gebrechen des Irrtumes befangen ist, wie wir; er soll bloß sich kindlich und überzeuget dahingeben an das Wort Christi und seiner vom heiligen Geiste ergriffenen Apostel, weil in Christus und seinen Aposteln nicht eine bloß menschliche, sondern die höhere, himmlische, göttliche Vernunft zu uns gesprochen hat, um unserer verfinsterten Vernunft die ursprüngliche Klarheit wiederzugeben. Und glaubet nicht, dass die Bibel, dass das Christentum durch ein solches freies Forschen, durch eine solche vernünftige Prüfung, wenn sie von einem reinen Herzen und einem geraden Sinne unternommen wird, ihr Ansehen verlieren. In der Bibel fände sich nicht Gottes Wort, das Christentum wäre nicht eine himmlische Vernunft, wenn vor der menschlichen Vernunft sie nicht bestehen könnte, und wahrlich, sie hat schon beinahe zwei Jahrtausende diese. Prüfung bestanden und sie wird durch jede neue Prüfung immer mehr bewährt werden.
Verwerfung alles menschlichen Ansehens in Sachen des ewigen Heils, und überzeugtes Unterwerfen unserer geschwächten Menschenvernunft unter das göttliche Wort in der Heiligen Schrift: dies ist das Eine, was der evangelisch protestantische Christ festzuhalten hat, um seine Krone zu bewahren. Aber jenes menschliche Ansehen ist nicht der einzige, ja nicht einmal der gefährlichste Feind, den wir in unserer Lage zu bekämpfen haben: ein anderer weit gefährlicherer droht, uns und den unsrigen unsern Schmuck, unsern Trost und unser Heil, das Evangelium Jesu Christi zu entreißen, und dieses ist der Unglaube, gefährlicher noch als jenes menschliche Ansehen, weil die Versuchung dazu bei uns weit größer ist, weil in unsern Zeiten und in unsern Gegenden der Hang der Protestanten sich nicht sowohl zur sklavischen Unterwerfung als zur frechen Empörung des Erdenverstandes und der Sinnlichkeit gegen die Vernunft in uns und gegen die Himmelsvernunft der Bibel sich hingeneigt hat; gefährlicher, weil ein frommes, nach Wahrheit und nach Reinheit dürstendes Gemüte auch in den andern christlichen Kirchen, die noch ein menschliches Ansehen anerkennen, sich zum Christentum hindrängen, sich dasselbe, wenn gleich vielleicht unvollkommener, aneignen, und dadurch zum Leben in Gott gelangen kann, der Unglaube hingegen geradezu der Tod alles geistigen höheren Lebens im Menschen ist. Ja wohl, öde und leer wird es in dem Herzen, wenn Gott und Christus aus demselben gewichen sind; die Verwesung alles Großen, Edlen und Schönen beginnt unaufhaltsam in dem Gemüte, in welchem der Glaube ans höhere, geistige Leben erschüttert wird, und sie wird vollendet, wird zur Vernichtung, wo der erschütterte Glauben in Unglauben übergegangen ist. Der Ungläubige ist zum Tiere geworden, denn nur die Religion, nur das Hangen und Leben in Gott macht die eigentliche Menschheit aus. Oder setzt ihr die Menschheit in die Feinheit der Sinne, in die körperliche Kraft? haben nicht viele Tiere weit feinere Sinne, weit mächtigere Kraft? Oder setzt ihr sie in den Verstand? äußeren nicht viele Tiere in ihrem Instinkte einen Verstand, den der menschliche Verstand bewundern und anstaunen muss? Aber das Tier ist unvernünftig; es kennt seinen Gott nicht und die ewige Welt der in Gott sich fühlenden Geister; dir aber, o Mensch! ist die Vernunft gegeben, und diese Vernunft glaubet ihrem Wesen nach an Gott und ans geistige Leben. „Allein, möchte hier der eine und der andere entgegnen, wohl fühle ich dies alles; ich bin von dem Dasein Gottes, von meiner Unsterblichkeit und von der Notwendigkeit überzeuget, meine Pflichten zu erfüllen; aber dies dünkt mir auch genug, ich brauche des Christentums nicht; ich glaube nicht an Christum als an den Sohn Gottes, und an das Christentum als eine höhere Offenbarung.“ Es dünkt dir jener Glaube, jene sogenannte natürliche Religion genug? Aber wie, mein Freund, sei doch offenherzig, und gesteh' es dir selber: ist dein vornehmer Weltengott dir so nahe, wie dem echten Christen sein himmlischer Vater? ist er deinem Herzen ein stets zur Seite stehender Freund? lehrt dich dein Glaube an ihn so alles, ganz alles seiner Fürsorge übergeben? verleiht er dir jenen unerschütterlichen Mut, jenen überwindenden Frieden im Leben und Sterben, im Schmerze und in der Entsagung? macht dich deine natürliche Tugend immer demütiger, je vollkommener und vollendeter du wirst? weißt du es denn bloß und allein durch deine menschliche Vernunft, ob dir deine Sünden von der göttlichen Gerechtigkeit vergeben sind, wenn du umkehrest und dich zum Guten wenden willst ? hast du die Tiefen der göttlichen Erbarmung durchdrungen, um dies gewiss und sicher zu wissen? Und wenn dies nicht der Fall ist, kannst du mit freudigem Mute, mit kindlicher Zuversicht auf der neuen, bessern Bahn fortwandeln, die du betreten willst? kannst du getrost vor dem Richter der Todten und der Lebendigen er, scheinen, wenn die sinnliche Hülle fällt, und die verborgene Wahrheit ans Licht kommt? und wo nimmst du endlich die Kraft her, zu einem geistigen Leben in Gott, da der menschliche Wille so schwach, die sinnliche Natur aber, und die böse Angewöhnung und die Ge walt des verführerischen allgemeinen Beispiels so stark ist? Ohne das Christentum, ohne den überzeugten Glauben an Jesum Christum, als den Sohn Gottes, bleibt dein Denken über die wichtigsten Angelegenheiten des Menschen unsicher und schwankend; dein Herz, wenn es auch ist, was die Menschen gut nennen, dir selbst mit seinen geheimen Unlauterkeiten verborgen; deine Ruhe und dein innerer Frieden ohne festen, unerschütterlichen Grund. Wie hingegen mit dem echten, inneren Christentum, mit dem überzeugten, lebendigen, tätigen Glauben ans Evangelium alles im Menschen sich verändert, wie sein Denken helle, fest und erhaben, sein Herz immer reiner und stärker, wie seine Liebe zu Gott und zu den Menschen immer mehr einen göttlichen Charakter annimmt, und sein Friede unerschütterlicher wird, dies kann freilich dem, der noch von ferne stehet, mit Worten nicht ganz anschaulich gemacht werden, da hierzu, wie bei allem, was den inneren Menschen angeht, durchaus die eigene Erfahrung gehört; und wer die Lehre Christi tut, nur der wird ganz und unwiderleglich erfahren, ob sie von Gott sei, oder ob unser Heiland von sich selber geredet habe. Aber, wenn du, ungläubiger Freund, wenn du doch fühlest, dass deine natürliche Religion, zwar allerdings schön und gut, aber doch äußerst mangelhaft und unvollkommen sei; wenn du fühlst, wie sie dennoch dich dem Grübeln und Zweifeln, der Unruhe und der Unzufriedenheit mit dir und mit den Menschen, mit dem Schicksale und mit Gott dich dahingeben lässt, wenn endlich in den lichten Augenblicken dir es klar wird, dass sie dein innerstes Leben doch nicht ganz befriedigen könne, und wenn alsdann glaubwürdige, edle Menschen, ja selbst solche, deren Namen durch die Größe ihres Geistes, durch den Umfang ihres Wissens, durch den Glanz ihrer reinen, stillen Tugend unter den ersten Heroen der Menschheit glänzen, die es versichern, dass sie im Christentume erst und im Christentum allein das wahre Licht, die echte Tugend, den sichern Frieden gefunden haben; dass in ihm die Fülle der göttlichen Herrlichkeit erschienen, und sie aus ihr Gnade um Gnade empfangen hätten: sollte dies dich nicht aufmerksam machen, sollte es dir nicht den Gedanken einflößen, dass dein Unglaube an das positive Christentum, dein Unglaube an Christum, als den Sohn Gottes, nicht sowohl daher komme, dass du ein starker Geist, ein aufgeklärter Denker bist, sondern vielmehr seinen Grund habe in der Unbekanntschaft mit dem echten Christentum, oder in der bisherigen Beschränktheit deines Geistes, oder endlich in der Unlauterkeit deines Herzens und deines Lebens? Sollte endlich es nicht den Wunsch in dir selbst aufregen, die Quelle kennen zu lernen, woraus so viele versichern, dass sie die ewige Gesundheit des Geistes geschöpft haben? Denn siehe, wir wollen nicht, dass du uns aufs Wort glaubst; wir wollen bloß dich zu jener Quelle hinleiten, und dich beschwören um deiner selbst willen, selber aus ihr zu schöpfen, und dich aus eigener Erfahrung zu überzeugen, dass Jesus Christus gekommen ist, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben mögen. Und wenn du ihn aufrichtig, ernst und mit geradem Sinne suchst, so wird er sich von dir finden lassen, und du wirst erlöst werden von dem unseligen Unglauben an ihn, der auch in der protestantischen Kirche jetzt so viele Gemüter ergriffen. und ihnen die Krone geraubt hat, die ihnen bestimmt war. Ja, dieser Unglaube an Christum, er ist der zweite, gefährliche Feind, gegen welchen die protestantische Kirche ihre Krone, das Evangelium Jesu Christi, zu schützen hat.
Aber, wenn wir die Sache genauer und tiefer auffassen, so zeigt sich uns noch ein dritter, und vielleicht der gefährlichste Feind, nämlich die Gleichgültigkeit, die Lauigkeit für alles was Religion überhaupt, und das Christentum insbesondere anbelangt; ein Feind, der auch in der protestantischen Kirche so unzählbar viele umstrickt hält mit seinen höllischen Banden. Es ist diese Gleichgültigkeit und Lauigkeit meist noch gefährlicher als der Unglaube. Denn dieser letztere entspringt oft bloß aus verkehrten Begriffen und Ansichten von Religion und vom Christentume, welche leicht können berichtigt werden; er entspringt oft aus der Unbekanntschaft mit Christo, und man darf einem solchen Ungläubigen, der Christum nicht, oder nicht recht kannte, ihn nur hinstellen in seiner milden Herrlichkeit, in seiner stillen Größe, in seiner alles bezwingenden Liebe und Wahrheit, und der erstaunte, überzeugte Menschengeist wird anbetend sich beugen vor dem Sohne des Allerhöchsten, wird dankend und freudetrunken ausrufen: So hab' ich denn gefunden, was ich so lange unbewusst gesucht, wonach vergeblich bisher mein Herz gedürstet, so hab' ich denn gefunden meinen Herrn und meinen Gott, dem von jetzt an alle Liebe meines beseligten Herzens gehöret und geweiht ist! Aber wie ganz anders ist es mit dem Gleichgültigen, dessen Herz für Gott weder kalt noch warm ist, mit dem, der keinen Sinn hat, als für den Gewinn und das Vergnügen und seine Gemächlichkeit; mit dem Menschen, der, wenn von Wahrheit geredet wird, spöttisch lächelnd, wie dort der feine Weltmann Pilatus, antwortet: was ist denn Wahrheit? Was soll mit dem geschehen, der seinen Gott Gott sein lässt, und seines Weges zieht, der von Christus hört, und auf eine Lustbarkeit sinnt, der zwar Himmel und Hölle, der eine vergeltende Unsterblichkeit nicht leugnet, aber es dahingestellt sein lässt, und in die Erde noch fester sich einbauet? Kein ernster Gedanke kann in seinem Geiste Wurzel fassen, kein Interesse für etwas Höheres und Ewiges kann in seinem Herzen Wohnung machen; und dennoch, du Leichtsinniger, du Gleichgültiger, dennoch bist du unsterblich; den noch ist der Abgrund unter deinen Füßen geöffnet, und du weißt den Augenblick nicht, wo er dich unaufhaltsam verschlinget. Wie bist du unselig verblendet, du laues Gemüte, dass ein Gewinnst, eine Lust, die nur eine Spanne Zeit lang dich betäuben könne, deine ganze Seele ergreifen, mit Hass und mit Liebe dich erfüllen, das ewige Heil deiner selbst aber dir etwas Gleichgültiges bleibt, auf welches ernsthaft zu denken sich der Mühe nicht lohne; wie bist du unselig verblendet, der du mit kindischen Klagen dich härmst über einen geringen Verlust, über einen vergänglichen Schmerz, während spielend und träumend du eine ewige Freude verschmerzest, und den Schmerzen dich in die Arme wirfst, die deine Seele zerreißen werden. Und wie, mein Bruder, muss nicht eine solche unselige Gleichgültigkeit und Lauigkeit für das Höhere, fürs echte Christentum sich immer mehr der Gemüter bemächtigen, wenn der Geist der Zeit ein Geist der Entnervung und der Schwächlichkeit geworden ist, eine Entnervung, hervorgebracht durch den unersättlichen Durst nach glänzendem Aufwande, nach rauschenden Vergnügen, nach weichlichem Sinnengenuss und Bequemlichkeit; durch die Lesewut, die sich aller Stände bemächtigt hat, die aber, statt an die Bibel, und an andere geist- und herzerhebende Schriften sich zu halten, nur solche aufsucht, welche entweder die Sinnlichkeit anreizen, oder durch eine kränkelnde Empfindelei alle wahre, kräftige, höhere Empfindung töten, und der Seele einen Ekel vor jedem ernsten Nachdenken über das Unsichtbare und Ewige einflößen; hervorgebracht endlich durch den zur Leidenschaft werdenden Trieb stets außer sich zu leben, und den unsterblichen Geist durchs Haschen nach Zerstreuung in einen tötenden Schlummer einzuwiegen? Wenn aus den Wohnungen des ewigen Friedens ihr wieder herabstiegt, ihr hohen, ernsten Geister der Reformatoren, wenn du kraftvoller Luther, und du einfacher Melanchthon erblicktest das schlaffe, entnervte, laue Geschlecht, das mit euerm Namen sich schmückt, wenn ihr säht, wie sie gleichgültig hinweg sich wenden von dem, wofür ihr alles Gut und alle Lust der Erde, ja das Leben selbst freudig geopfert habt; welcher tiefe Unwille und welche noch tiefere Wehmut würde eure Seele durchdringen, und euch den Ausruf erpressen: Warum, warum habt ihr sie nicht festgehalten die Krone, die wir so teuer euch erkauft haben! Uns aber, meine Brüder, uns treffe nicht dies zerschmetternde Wort, uns sei, wie den Reformatoren, die Krone des Evangeliums Jesu Christi der lieblichste Schmuck, das teuerste Gut, und unsers Lebens ernstestes Streben; uns belebe wie sie, der aufopfernde Eifer, denen die uns anvertraut sind, denen die Gottes Hand uns finden lässt, mitzuteilen nach besten Kräften von der Gnade, die Gott uns in Jesu Christo hat zu Teil werden lassen, auf dass, wenn der Herr kommt, wir ihm entgegeneilen, und ausrufen können: Siehe, hier bin ich, und die du mir gegeben hast!