Quandt, Emil - Der Brief St. Pauli an die Philipper - Gnade sei mit euch und Friede, der beste Neujahrsgruß.

Quandt, Emil - Der Brief St. Pauli an die Philipper - Gnade sei mit euch und Friede, der beste Neujahrsgruß.

Neujahrspredigt.

Kap. 1, 1.2.

Paulus und Timotheus, Knechte Jesu Christi, allen Heiligen in Christo Jesu zu Philippi, samt den Bischöfen und Dienern. Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesu Christo! Amen.

Das ist der Anfang der Epistel an die Philipper. Auf denselben gründen wir unsre Andacht am Anfang des neuen Jahres.

Paulus hat viele christliche Gemeinden gestiftet, aber keine, die ihm mehr Freude gemacht hat und die er zärtlicher geliebt hat als die Gemeinde von Philippi. Sie wurde, war und blieb während seiner ganzen apostolischen Wallfahrt sein Stützpunkt, sein Labsal, seine Krone. Die Epistel, die er an sie schrieb, ist die Nachtigall unter seinen Episteln, klein, unscheinbar, aber voll der lieblichsten, wundersamsten Töne, deren köstliche Musik im tiefsten Herzen wiederklingt. Es ist mit Recht gesagt worden: „Nicht weniger als fünfzehnmal lesen wir die Worte: Freude und Sichfreuen in dieser Epistel; sie soll und kann alle freudelosen Christen, alle traurigen, betrübten, in geistlich recht freudige und selige umwandeln. Benutze sie oft dazu!“ Wohlan, wir wollen sie in diesem Jahre oft dazu benutzen, heute zunächst ihren Anfang am Anfang des Jahres.

Am Anfang eines neuen Jahres ist es nicht bloß Weltsitte, sondern auch Christensitte geworden, einander mündlich oder schriftlich mit guten Grüßen zu begegnen. Ich will heute auch nach dieser schönen Sitte handeln und von der Kanzel herab meiner geliebten Wittenberger Gemeinde einen Neujahrsgruß sagen. Der Anfang der Epistel St. Pauli an die Philipper birgt den apostolischen Gruß in sich, mit welchem Paulus alle Gemeinden, an die er schrieb, zu grüßen pflegte, den Gruß: Gnade und Friede sei mit euch. Es gibt keinen besseren Gruß, mit dem Christen am ersten Tag des Jahres sich grüßen könnten, als diesen ehrwürdigen Gruß St. Pauli. Gnade und Friede sei mit euch, das ist der beste Neujahrsgruß. Denn er ist

1. der tiefste Gruß,
2. der frömmste Gruß,
3. der ernsteste Gruß.

All', was mein Tun und Anfang ist,
gescheh' im Namen Jesu Christ;
steh' du mir bei so früh als spat,
bis all mein Tun ein Ende hat. Amen.

1.

Was auch immer sonst zu Neujahr die Menschen einander Gutes wünschen mögen, Glück oder Gesundheit oder Vergnügen oder langes Leben oder alles zusammen, sie wünschen sich damit doch nur Güter, die auf der Oberfläche des Lebens liegen; in die Tiefe des Lebens, zu den Perlen des Lebens dringen diese Wünsche nicht. In die Tiefe taucht und die Perlen hebt nur der apostolische Gruß: Gnade sei mit euch und Friede.

Der Neujahrstag ist der Meilenstein, der Grenzstein zwischen den Jahren, die hinter uns liegen, und dem Jahr, das vor uns liegt. An solchem Meilensteine ist es dem Christenherzen tiefes Bedürfnis, ehe es vorwärtsblickt, rückwärtszublicken. Und wenn wir rückwärts blicken, so können wir uns doch nicht damit begnügen, auf Gottes Huld zu sehen und Gott zu danken; gewiss, das muss das Erste sein, und es soll auch bei uns das Erste sein, und wir wollen gern und freudig bekennen: Bis hierher hat uns Gott geleitet, bis hierher hat Er uns erfreut, bis hierher uns geholfen! Aber wir müssen auch alsobald unsrer Schuld gedenken, die wir in all' den Jahren aufgehäuft und zuletzt noch im letzten Jahre vermehrt haben, all' der großen und kleinen Sünden, die auf den schwarzen Blättern unsers Lebensbuches verzeichnet stehen. Soll diese unsre Lebensschuld nicht als dunkle Wolke mit uns ziehen und uns von vornherein das ganze neue Jahr verdüstern, so bedürfen wir an der Schwelle des neuen Jahres alle vor allem der Vergebung unsrer Sünden, d. h. der göttlichen Gnade, die ja eben nichts anderes ist als die Liebe Gottes zu den sündigen Menschen in der Gestalt der Vergebung. Diese vergebende Liebe, diese Gnade Gottes wünsche ich denn von Herzen der ganzen Gemeinde und allen ihren Gliedern, dass in der Vergebung der Sünden alle Herzen hier sich recht entladen von der Last, die sie beschwert. Wenn wir dann vorwärts blicken auf den uns noch wieder einmal verlängerten schmalen Pfad, ja gewiss, wir haben auch da wieder zunächst Gott zu danken, dass er uns die Lebensfrist ausgedehnt hat, dass, während in den vergangenen Jahren und zumal noch im letzten Jahr viele teure Menschen zu unsrer Rechten, viele werte Gestalten zu unsrer Linken den Weg alles Fleisches gingen, wir noch weiter wandeln dürfen im Lande der Lebendigen. Das irdische Leben ist durchaus nicht das verächtliche Ding, zu dem es eine törichte Schwarzseherei stempeln will; es schließt vielmehr so viel echten Goldes und echter Edelsteine ein, dass das Menschenkind sich bei dem lieben Gott auf den Knien bedanken soll, wenn er ihm zu all den zuvor geschenkten Jahren noch ein neues Lebensjahr hinzufügt. Nur dass wie jede Reise, so auch die Lebensreise ihr Ungemach und ihre Gefahren hat; und wenn eine neue Strecke des Lebensweges beginnt, so besinnt man sich auf den alten Vers: „Auf dem so schmalen Pfade gelingt uns ja kein Schritt, es gehe denn die Gnade bis an das Ende mit.“ Nun auch diese Gnade, die unsre Schritte im neuen Jahr gelingen lässt, die mächtig in unsrer Schwachheit wirkende Gnade, wünsche ich der ganzen Gemeinde, dass alle Herzen hier heute sich füllen lassen mit den Kräften des Lebens zum Leben.

Ein Gnadenspruch ist der apostolische Gruß und zugleich ein Friedensspruch. Wenn aber der Apostel den Philippern in einem Atemzuge Gnade und Friede wünscht, so ist es klar, dass er den Frieden meint, der der Wiederschein der vergebenden und belebenden Gnade im Menschenherzen ist, den Herzensfrieden, das tiefe Gefühl der inneren Ruhe und Gelassenheit, welches der Besitz der Vergebung der Sünden, und das Vertrauen, dass der Meister sein Werk nicht liegen lassen wird, dem Herzen gewähren. Wer diesen Herzensfrieden hat, hat ein Gut, das köstlicher ist als Gold und viel feines Gold, das herrlicher ist als die ganze salomonische Herrlichkeit; er kann durch das Leben wandern, wie ein Kind an des Vaters Hand, und ihm ist wohl mitten im Wehe. Diesen seligen Herzensfrieden, der aus dem Born der Gnade fließt, wünsch ich euch allen von Herzen, m. L. Aber mein Friedenswunsch geht weiter, und dies Weitergehen wird nicht wider den Text sein. Nicht nur Herzensfrieden wünsche ich jedem einzelnen, sondern ich wünsche auch jeder Familie Hausfrieden. „Es scheint mir“, sagt Dr. Luther, „dass das lieblichste Leben sei, ein mittelmäßiger Hausstand, leben mit einem frommen, willigen, gehorsamen Weibe in Fried' und Einigkeit und sich mit wenigem genügen lassen und Gott danken.“ Ein gut Hausgemach ist über alle Sach' - ich wünsche Frieden jedem Hausgemach in Wittenberg. Ich gehe noch weiter und wünsche der Stadt und dem Staate zum neuen Jahre Landfrieden, dass wir trotz des ungeheuren Zündstoffs, der in der Luft dieser Zeit liegt, noch wieder ein Jahr hindurch Ruhe haben vor unseren Feinden und unter dem Regimente unserer Obrigkeiten ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.

Gnade und Friede besseres, tieferes kann der Mensch dem Menschen, der Christ dem Christen, der Pastor seiner Gemeinde nicht wünschen. Gnade und Friede sei mit euch, das ist der tiefste Neujahrsgruß.

2.

Und der frömmste. Denn er lautet vollständig: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesu Christo. Es ist ein Gruß mit dem Finger nach oben, mit dem Blicke auf den Thron der Gottheit, auf dem der Allmächtige als unser Vater thront und zu seiner Rechten Jesus Christus, der sich nicht schämt, uns seine Brüder zu nennen. Der Gruß der Gnade und des Friedens zum neuen Jahre ist eingehüllt in den Psalmenvers: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von dannen mir Hilfe kommt; meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat,“ und in den Jesaiasvers: „Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, welches Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friedefürst.“ Der Gruß der Gnade und des Friedens von Gott dem Vater und dem Herrn Jesus Christus ist ein Gebetsgruß.

Von den Neujahrswünschen, die in der Welt und nach der Weise der Welt ausgetauscht werden, kann man beim besten Willen nicht sagen, dass sie vom Hauche der Frömmigkeit durchweht seien. Das Gratulieren der Welt hat so wenig wie ihr Kondolieren einen Zusammenhang mit der Frömmigkeit. Weltleute denken bei ihren Neujahrswünschen und Neujahrskarten auch von ferne nicht an den lieben Gott, geschweige denn an den Heiland; sie beten an der Pforte eines neuen Jahres nicht einmal für sich selbst, geschweige für andere; ihre Neujahrsgratulationen sind, was sie sonst auch immer sein mögen, ob leere Phrasen landläufiger Höflichkeit, ob gutgemeinte Äußerungen aufrichtiger Liebe und Freundschaft, in jedem Falle nichts weniger als Gebete. Aber Christen, die sich lieben, beten füreinander und mit besonderer Inbrunst an den Meilensteinen ihres Lebens. Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesu Christo - dieser christliche Neujahrsgruß, dieser alte, ehrwürdige apostolische Gruß, ist ein Gebetsgruß, und darum der frömmste Neujahrsgruß.

Es hängt das eng zusammen mit seiner Tiefe. Die Gnade und der Friede, die der Christ dem Christen, die der Pastor seiner Gemeinde wünscht, ist nicht die Gnade eines Menschen, sondern die Gnade Gottes, nicht der Friede menschlicher Vernunft, sondern der höher ist als alle menschliche Vernunft. Wenn Menschen uns unsere Sünden vergeben könnten, wenn Menschen uns die Unruhe des Herzens stillen könnten, wir wollten sie aussuchen, und wohnten sie am äußersten Meer; wir wollten ihnen jeden Preis zahlen, und wäre er noch so teuer. Aber Sünde vergeben und Lebenskraft gewähren und das Herz mit Frieden füllen, das kann kein Mensch, das ist kein Menschenwerk. Gott allein kann geben Gnade, Fried' und Leben. In Jesu Christo ist die heilsame Gnade Gottes allen Menschen erschienen, Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selbst und rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. Jesus Christus hat die Reinigung unsrer Sünden gemacht durch sich selbst und unsere Füße gerichtet auf den Weg des Friedens. Und was er auf Erden uns erworben, das spendet er von seinem Himmelsthrone allen denen, die ihn bitten. Darum, indem ich der Gemeinde Gnade und Friede wünsche, falte ich meine Hände für sie und bete zu Gott im Himmel und Jesus Christ: Herr, unser Gott, gedenke auch im neuen Jahre dieser deiner Wittenberger Gemeinde nach der Gnade, die du deinem Volke verheißen hast; ob Berge weichen, ob Hügel hinfallen, lass deine Gnade nicht von uns weichen und den Bund deines Friedens nicht hinfallen! In Frieden hast du uns berufen, du Herr des Friedens; so verleihe uns Frieden gnädig auch im neuen Jahre, Frieden im Lande, Frieden in den Häusern und sonderlich Frieden in den Herzen, bis du uns lässt in Frieden fahren aus dem Kreislauf der wechselnden Zeiten in die sabbatliche Ruhe, die noch vorhanden ist dem Volke Gottes.

3.

Gnade und Friede sei mit euch, das wünscht Paulus den Philippern, das erfleht er für die Philipper von Gott, unserm Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Wünscht und erfleht er ihnen diese beiden edlen Gaben nur zum Genuss, zu flüchtiger Freude? Nimmermehr. Gnade und Friede sind keine geistlichen Spielsachen, sondern sehr ernste Dinge, die Tag aus Tag ein und in jedem Jahr aufs Neue benutzt, im praktischen Leben verwertet werden wollen. Paulus schreibt an Titus von der göttlichen Gnade, dass sie uns züchtigen soll, zu verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste, und züchtig, gerecht und gottselig zu leben in dieser Welt; und er schreibt an die Kolosser vom Frieden Gottes, dass er regieren soll in unsern Herzen, dass er die Macht sein soll, die unser ganzes inneres Leben durchwaltet und bestimmt. Wenn Paulus seinen Philippern Gnade und Friede betend anwünscht, so liegt in diesem Gebetswunsche zugleich die ernste Mahnung, dass sie sich unter die Zucht der Gnade und unter das Regiment des Friedens stellen sollen, gerade wie in dem Ehrentitel, mit welchem er die Philipper als Heilige in Christo Jesu begrüßt, nicht bloß die Anerkennung liegt, dass die Philipper Gott angehören, von Gott zum Eigentum angenommen sind, sondern auch die Aufforderung, sich solcher Ehre würdig zu verhalten und der Heiligung nachzujagen. Der apostolische Gruß, unser Neujahrsgruß heute, drängt und treibt und mahnt zur Heiligung, darum ist er der ernsteste Gruß.

Die Kinder dieser Welt lassen sich zu Neujahr gern gratulieren, aber ungern mahnen. Die Heiligen in Christo Jesu, die für das Evangelium gewonnenen Menschen, nehmen an der Schwelle des Jahres Mahnungen aus Gottes Wort mit willigem Herzen an. O, meine Freunde, ich will mich gern mit mahnen lassen, als der ich auch von Gottes Gnaden ein Knecht Jesu Christi bin, nicht wie Paulus, der hohe Apostel, nicht wie sein jugendlicher Genosse Timotheus, sondern ein Knecht Jesu Christi auf der untersten Stufe, auf der ich meinen Platz im neuen Jahre gern besser, treuer ausfüllen möchte als in den vergangenen Jahren. Stellen wir uns, meine Freunde, im neuen Jahre alle, die Bischöfe und Diener, die Männer und die Frauen, die Eltern und die Kinder, die Herrschaften und die Dienstboten unter die Zucht der göttlichen Gnade und unter das Regiment des Friedens Gottes nach der Heiligung zu streben. Die Heiligung erfordert Müh'; du wirkst sie nicht, Gott wirket sie; du aber ringe stets nach ihr, als wäre sie ein Werk von dir!

Wir wollen der Gnade leben im neuen Jahr. Jeder folgt gern seinem Stern; unser Stern, unsre Sonne sei die göttliche Gnade. Die Erbarmung, die uns widerfahren ist, leuchte aus unseren Augen; Lammsgeduld und heiteres Wesen sei uns stets im Aug' zu lesen. Die Erbarmung, deren wir nicht wert sind, spreche aus unseren Worten, dass wir nicht aufhören zu preisen und zu loben das Evangelium. Die göttliche Erbarmung öffne unsere Hände, dass wir Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen. Die Barmherzigkeit Gottes durchhauche unser ganzes Leben, dass wir uns mit allem, was wir sind und haben, Gott zum Opfer begeben, dass da sei lebendig, heilig und Gott wohlgefällig.

Und wir wollen dem Frieden leben im neuen Jahre, dem Frieden, der von oben kommt, und dem Heile unsrer Seelen. Wir wollen nachjagen dem Frieden gegen jedermann und durch den Neid und Streit der Zeit hindurch wandeln als friedfertige Kinder Gottes. Gott helfe uns dazu! Er, der Herr des Friedens, heilige uns durch und durch, und unser Geist ganz samt Seele und Leib müsse behalten werden unsträflich auf die Zukunft unseres Herrn Jesu Christi.

Gnade sei mit euch und Friede, das mein Neujahrsgruß für dich, teure Gemeinde. Tragen wir diesen tiefen, frommen, ernsten Gruß aus der Kirche mit in das Leben! Amen.

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autoren/q/quandt/philipper/quandt_philipper_1.txt · Zuletzt geändert: von aj
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