Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Todesfurcht und Todes-Sehnsucht.
Joh. 11, 12-16. „Da sprachen seine Jünger: HErr! schläft er, so wird es besser mit ihm. Jesus aber sagte von seinem Tode. Sie meinten aber, Er redete vom leiblichen Schlaf. Da sagte er es ihnen frei heraus: „Lazarus ist gestorben; und Ich bin froh um euertwillen, dass Ich nicht da gewesen bin; auf dass ihr glaubt; aber lasst uns zu ihm ziehen.“ Da sprach Thomas, der da genannt ist Zwilling, zu den Jüngern: „Lasst uns mitziehen, dass wir mit Ihm sterben.““
1.
In dem lieblichsten Bilde hatte Jesus seinen Jüngern den erfolgten Tod seines Freundes Lazarus angezeigt. „Er ist eingeschlafen“, sagte Er zu ihnen; und um sie über diese ihren Herzen schmerzhafte Nachricht zu beruhigen, setzt Er sogleich hinzu: „Ich gehe hin, dass Ich ihn aufwecke.“ Dies ist Handlungsweise des liebendsten Menschenfreundes. Für jede Wunde, die Er schlägt, hat Er den Balsam zum Voraus zubereitet; der erquickendste Trost liegt immer neben dem Schmerz, den Er auflegt. Mit der zärtlichsten Schonung will Er nach und nach die Herzen seiner Jünger auf die Trauergeschichte in Bethanien aufmerksam machen, und schon jetzt einige liebliche Lichtstrahlen von der hellen Sonne seiner göttlichen Macht, die nun bald am Grabe des verstorbenen Freundes in vollem Glanze aufgehen sollte, sie erblicken lassen. Aber ihre Herzen sind mit ganz andern Gedanken angefüllt. Sie haben nicht Geistessammlung, um aufmerksam über das nachzudenken, was Er ihnen sagte. Seitdem Er wieder über den Jordan gegangen ist, hatten sie ihre unbefangene ruhige Gemütsfassung ganz verloren. Die Vereitlung ihrer schönsten Hoffnungen, das irdische Messias-Reich bald errichtet zu sehen, und als die ersten Staatsdiener vor dem Thron ihres HErrn zu stehen, war für sie eine schwere Aufgabe, in die sie sich so bald nicht zu schicken wussten. Wir finden in der Geschichte Jesu, dass diese Sache sogar noch einige Zeit später und zwar ganz kurz vor dem Antritt der Leiden Jesu von ihnen zur Sprache gebracht wird, und dass sie sich mit dem Verlust dieser Lieblings-Vorurteile so bald nicht aussöhnen konnten. Schon dies trug vieles dazu bei, dass sie ihren göttlichen Meister, so deutlich Er auch mit ihnen sprach, nur halb verstanden, und den Sinn seiner Worte nicht zusammenfassen konnten. Was ihr erschüttertes Gemüt noch mehr beunruhigte, war die bange Furcht vor Leiden und Tod, und all' den Schrecknissen, die sie mit ihrem Eintritt in Judäa zu fürchten anfingen. Einen solchen traurigen Ausgang der Sache Jesu hätten sie nicht vermutet. Ihre Leidensscheue und Todesfurcht hatte es niemals gewagt, die deutlichen Vorhersagungen Jesu von seinem bevorstehenden schweren Leiden und Tod so wörtlich auszulegen; noch immer, hofften sie, werde Er vermöge seiner Wundermacht dieser traurigen Sache eine andere Wendung zu geben wissen, und die Arglist und Bosheit seiner Feinde besiegen. Genug sie hatten von ihren falschen Hoffnungen noch immer etwas übrig zu behalten gewusst. Und da sich nun ihr sonst so vorsichtiger Meister von seinem Entschluss, nach Judäa zu gehen, nicht abbringen lässt, so überfällt sie aufs Neue ihre schon öfters gefühlte ängstliche Leidensscheue und bange Todesfurcht, die sich am Ende bei Thomas in eine Art von Lebens-Überdruss und Mutlosigkeit verwandelt!
Sind euch diese inneren Erfahrungen des bald verzagten und bald trotzigen Herzensfremde? Leidensschüler! Oder waren bloß die Jünger Jesu so schwach, sich von diesen trüben beängstigenden Empfindungen umher treiben zu lassen? - Ihr verurteilt die Jünger Jesu um dieser Schwachheiten willen nicht, weil euch die Geschichte euers Lebens ähnliche Stunden in Erinnerung bringt, in denen ihr von drückender Leidensscheue und banger Todesfurcht gequält um Trost verlegen wart, und nach Trost schmachtetet; oder Stunden, in denen finstere Niedergeschlagenheit und heftige Todes-Sehnsucht sich eurer bemächtigen, und euch in trübsinnige Schwermut versehen wollten. Gern werdet ihr euch überzeugen lassen, dass diese finsteren Seelenstimmungen pflichtwidrig und des Christen ganz unwürdig seien. Ihr werdet mit Vergnügen die Art und Weise wahrnehmen, wie Jesus bei seinen Jüngern diese schmerzhaften Wunden zu heilen pflegte.
2.
Die Jünger Jesu hatten seinen bildlichen Ausdruck von dem Tode seines Freundes nicht verstanden. Jesus hatte von seinem Tod gesprochen. Sie hingegen meinten, Er rede nur vom leiblichen Schlafe. „HErr! schläft er, so wird's besser mit ihm!“ war ihre Antwort. Sie wollen Ihm auf eine feine Art zu verstehen geben, dass es nun nicht nötig sei, nach Bethanien zu gehen, und sich unnötiger Weise einer Lebensgefahr auszusehen; indem an dem Schlafe zu erkennen sei, dass ihr Freund Lazarus auf dem Wege der Besserung sich befinde. Wir haben schon oben bemerkt, dass eigentlich Leidensscheue und Todesfurcht die Ursache waren, welche den Jüngern den Weg nach Bethanien so schwer machten. Sie ahnten nichts als Verfolgung und Tod, und diese Gedanken versetzten sie in eine sehr furchtsame Gemütsstimmung. Dieses Entsetzen vor dem Tod, dieses unangenehme peinliche Gefühl, das uns den Tod als das schrecklichste Übel darstellt, das uns treffen kann, hat in der ganzen Beschaffenheit des Menschen seine natürlichen Ursachen. Es ist ein angeborener Trieb des Menschen, sein Leben zu lieben, und in der ungehemmten Wirksamkeit seiner natürlichen Kräfte ein Wohlbehagen zu finden. Es ist eine wohltätige Einrichtung, die der weise Schöpfer unserm Willen und Empfindungs-Vermögen aus wichtigen Gründen gegeben hat, dass eine Sehnsucht nach Leben, eine Freude an demselben, ein süßes Vergnügen an seiner Regsamkeit, so wie auf der entgegengesetzten Seite ein Abscheu gegen den Tod und ein Ekel gegen die Wirkungen desselben sich in unsrer Seele findet. Der Mensch soll in diesen wohltuenden Empfindungen des Lebens eine Wohltat Gottes wahrnehmen, die des demütigsten Dankes würdig ist, und durch die Freuden am Lebensgenuss zur Sorge für die Erhaltung desselben stets angetrieben werden. Auch der große Vorrat leiblicher Gaben, welche Gott in die Natur gelegt hat, ist darauf berechnet, uns das Leben angenehm zu machen, und seine Reize zu verschönern. Der gütige Schöpfer und Erhalter der Menschen hat nicht bloß für seine Lebens-Bedürfnisse, sondern auch für seine Vergnügungen auf das väterlichste gesorgt, und allenthalben die reichlichsten Mittel zum heitern Lebensgenusse dem Menschen nahe gelegt. Daraus entsteht eine natürliche Liebe zum Leben, und eine Furcht vor Allem, was demselben Nachteil und Zerstörung droht. Dieses Entsetzen der Natur vor dem Tode wird vermehrt durch die furchtbare Art, wie sich derselbe den meisten Menschen ankündigt, und durch die schauerliche Verwüstungen, welche er dem Auge des Zuschauers zurücklässt. Die Sünde hat dem Tode dieses Grauen-erregende abschreckende Bild aufgedrückt, und ihn samt allen seinen Schrecknissen dem armen gefallenen Menschen zum Sold gegeben. Dadurch hat er sich demselben furchtbar gemacht, und über den natürlichen Menschen eine Schreckens-Herrschaft sich erworben, von der sich derselbe aus eigener Kraft nicht losmachen kann. Der Sünder muss vor der Erscheinung des Todes zittern, und mit Abscheu und bangem Ekel an alle seine Verwüstungen gedenken. Daher entsteht die ängstliche Todesfurcht, jenes peinliche Entsetzen vor Allem, was dem Leben Schaden und Vernichtung droht.
3.
Aber der Christ darf den Tod nicht fürchten; das ängstliche Zurückbeben vor demselben ist seiner Christenpflicht und Christenwürde sehr unwürdig. Das große Geheimnis seines Lebens und seines Todes ist auf das schönste aufgelöst, seitdem Christus Leben und unsterbliches Wesen an das Licht gebracht hat durch sein Evangelium. Christus ist sein Leben, und der Tod ein Gewinn für ihn geworden, dessen er sich im Glauben an den Sohn Gottes von Herzen freuen darf. Zwar ist immerhin dem sinnlichen Auge der Anblick des Todes und all' der Merkmale, wodurch er sich dem teilnehmenden Zuschauer zu erkennen gibt, furchtbar und grauenvoll; und unüberwindlich der Ekel, der uns vor den Opfern der Verwesung zurückschreckt. Aber der lebendige Glaube sieht ein heiteres Licht, wo das sinnliche Auge nichts als Dunkel und Schauer erblickt. Er durchdringt den dichten Schleier, der die Zeit von der Ewigkeit trennt; der Tod ist ihm die Brücke, die ihn über die engen Schranken der Zeit in die seligen Gefilde der Ewigkeit hinüberführt. Nicht gefürchtet, nein, erwünscht ist ihm dieser Bote des Friedens. Warum sollte er seine Annäherung fürchten? Ist ja doch diesem ehemaligen Schreckenskönig jede Macht, zu schaden, entrissen, seitdem Jesus Christus der HErr über Tod und Grab geworden. ist. Oder soll der Christ vor seiner Gestalt zurückbeben? Er darf dieselbige nicht sehen, denn er ist schon in diesem Leben vom Tod zum Leben hindurchgedrungen. Wills kommen und höchst erfreulich ist ihm daher die Botschaft: Der Tod nahet sich!“ Er hat Friede mit Gott und die Vergebung seiner Sünden durch das Blut Jesu Christi. Dadurch ist jede Furcht vor Strafe aus seinem Herzen geflohen, und er darf mit heiterem frohem Sinn am Ende seiner Erden-Laufbahn im Frieden von dieser Erde scheiden, weil sein Glaube in der huldvollen Freundschaft seines HErrn die tröstlichste Zusicherung seines Wohls gefunden hat. Euer Herz erschrecke nicht - so tröstet Jesus seine trauernden Jünger - glaubt an Gott, und glaubt an Mich. „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten, und will wieder kommen und euch zu Mir nehmen, auf dass ihr seid, wo Ich bin.“
4.
Weil seine Jünger den Sinn der bildlichen Sprache ihres Meisters nicht gefasst hatten, und noch immer darauf umgingen, Ihn von seiner weitern Reise nach Judäa zurückzuhalten, so erklärt sich Jesus deutlich und bestimmt gegen sie. Er sagt es ihnen frei heraus: Lazarus ist gestorben! Ehe Er ihnen aber Zeit lässt, in ihrer damaligen Gemüts-Verwirrung ein unrichtiges Urteil über diese, auch ihrem teilnehmenden Herzen schmerzhafte Begebenheit auszusprechen, eilt Er sogleich mit einem neuen, ihnen freilich noch immer nicht ganz fasslichen Trostworte nach; und setzt hinzu: Und Ich bin froh um euertwillen, dass Ich nicht da gewesen bin, auf dass ihr glaubt. Aber lasst uns zu ihm ziehen.
Welch' unermüdete Sorgfalt und Liebe des treuesten Meisters gegen seine furchtsamen Schüler! - Welche herablassende Schonung gegen alle ihre Schwachheiten und Gebrechen! Mit dem reinsten zärtlichsten Muttersinn macht Er ihren Druck zu dem Seinigen; und ist himmlisch-froh, wenn Er ihnen Leiden ersparen, und auf dem möglich leichtesten Wege zum hohen Glaubens-Ziele hinanführen kann. Wenn das nicht zartfühlende Menschlichkeit, weislich schonende, Kummer ersparende Erziehers-Sorgfalt heißt - sagt, was nennt ihr denn sonst Humanität und Schonung der Liebe? - Er hätte seine Jünger in der nämlichen Zeit und zu demselbigen Zweck um das Sterbebett seines Freundes Lazarus herumstellen, ihn vor ihren Augen den Geist aufgeben, Benetzt von ihren Schmerzens-Tränen hoffnungslos zu Grabe bringen, und vier Tage lang eine Beute der Verwesung werden lassen - an diesem Allem hätte Er sie die gegenwärtigsten Zeugen sein lassen können, ehe Er das große Wunder der Auferweckung an dem verloren geglaubten Freund verrichtet, und dadurch ihren Glauben wieder zum Leben gebracht hätte. Aber aus zarter schonender Liebe will Er ihnen alle vorangehende Schmerzen und Kämpfe des Glaubens ersparen, und sie nur die Freude und den sichtbaren Glaubens-Triumph mit den leidtragenden und nun unaussprechlich erfreuten Schwestern teilen lassen. Er ist froh um ihretwillen, dass Er mit ihnen nicht am Sterbebette des Lazarus gewesen ist, damit ihr noch schwacher Glaube ohne einen vorherigen Schiffbruch neue herrliche Stärkungen erlange. So weiß Jesus Christus der Schwachheit zu schonen, und ihr aufzuhelfen. Es ist Ihm Wonne, das zerstoßene Rohr nicht zu zerbrechen, und das glimmende Docht nicht auszulöschen.
5.
Aber lasst uns jetzt zu ihm ziehen. Der Schritt seiner Jünger ist Ihm zu langsam. Der wehklagenden Schwestern in Bethanien hat Er nicht vergessen; Er zählt jede Minute, um ihrem müde-gewordenen Glaubens-Vertrauen zu Hilfe zu eilen. Seine Liebe ist stärker, als der Tod - denn auch der Tod scheidet seine Lieblinge nicht von seinem Herzen. Sie bedeckt ein Schutt Erde oder ein kalter Leichenstein; aber in seinem Herzen brennt die heißeste Flamme des liebenden Andenkens an sie. Auch der Tod kann und soll sie von Ihm nicht trennen, und sie aus dem Denkzettel seiner treuen Geliebten vertilgen.
Lasst uns zu ihm ziehen! Bekümmerte, tieftrauernde Seelen! die ihr den unvergesslichen Verlust der Geliebten euers Herzens beweint, und auf ihrem Grabhügel ihre modernde Asche benetzt - Hemmt den heißen Strom eurer Kummertränen! Jesus Christus, der liebevollste Menschenfreund, lässt seine Geliebten nicht allein im Grabe zurück. Er zieht zu ihnen, um sie in das herrliche Reich seines Vaters abzuholen. Er kann nicht leben und selig sein, ohne seine Freunde, die stillen Überwinder, bei sich zu haben, und bei ihnen zu sein. Was sucht ihr die Lebendigen bei den Toten? Warum bleibt euer Trauerblick an dem düstern Grabe und dem Moder der Geliebten trostlos hängen? Schaut aufwärts zu den ewigen Wohnungen des Friedens! Dort leben, dort freuen sie sich bei Jesu Christo, ihrem HErrn. Er hat sie zu sich in seine selige Nähe gezogen. Freilich erreicht euer schwache Sinnenblick den schönen Wohnort ihrer Seligkeit nicht aber der Glaube schwingt sich zu demselben empor, freut sich ihrer Freuden und ihrer Entlastung vom Erdenjammer, und umfasst den süßen beglückenden Gedanken, früher oder später, aber einmal doch gewiss, ihnen in jene Wonnegefilde der Ewigkeit nachzueilen.
6.
Lasst uns zu ihm ziehen! Der trübsinnig gewordene Thomas fasst dieses Freundeswort Jesu, das ihn hätte aufrichten und stärken sollen, von einer trüben finstern Seite an. „Ja, spricht er hoffnungslos zu seinen übrigen Mit-Jüngern: „Lasst uns mitziehen, auf dass wir auch mit ihm sterben.“ Melancholische Todes-Gedanken haben sich bis zum Lebens-Überdruss seines Herzens bemächtigt. Er hat nicht mehr Stärke genug, einen heitern klaren Lichtpunkt des Glaubens zu ergreifen. Die ganze Welt ist öde und freudenleer für ihn geworden, weil er mit dem gewissen Tode seines HErrn seine schönsten Hoffnungen auf einmal zu Grabe gehen sieht. Was soll er länger in einer Welt tun, die nichts wünschenswertes mehr für ihn in sich schließt? Lieber sterben, denkt er, als allein und trostlos in dieser Wildnis des Lebens zurückbleiben! Lazarus, unser Freund, ist gestorben; ihm ist's gut gegangen, er darf den Jammer nicht mehr mit ansehen, seinen und unsern geliebten Meister dem Tode entgegengehen sehen zu müssen. Er geht seinen Weg zum Grabe fort - wir auch, denn ohne Ihn haben wir nichts mehr in dieser Welt zu tun. So denkt die finstere Schwermut, die am Ende bitteren Lebens. Überdruss gebiert. So hat selbst ein Jünger Jesu einst gedacht, der von nichts als von Leiden sprechen hörte. War dies nicht auch schon deine Sprache, tief niedergedrückter Träger schwerer Kreuzes-Lasten? Eine kränkelnde, überall vom Zahn des Todes angegriffene Hütte drückt deinen Geist. Du hattest lange Frohmut genug, um dich über diesen Druck hinweg in das helle Reich des Glaubens zu erheben. Lange übtest du stille Geduld und Ergebung. Jeden Tag fingst du an, Besseres zu hoffen, und diese süße Hoffnung versüßte dir die Stunden des Weinens und Leidens! Aber statt besser zu werden, wird es mit jedem Tage schlimmer. Der Druck deiner sterblichen Hütte, die beängstigenden Sorgen für dein Durchkommen, die unverschuldeten Zerrüttungen in deinem Beruf und in deiner Haushaltung nehmen zu. Dein heiterer Blick auf Gott, der deine einzige Stütze im Leiden war, wird verdunkelt, d. h. scheint sich ganz von dir zurückzuziehen. Selbst in manchen deiner vorigen Freunden findest du den vorigen teilnehmenden Freundschafts-Sinn nicht mehr. Lange seufztest und betetest du vergeblich. Das Ohr des HErrn scheint verschlossen zu sein, und dich nicht mehr zu hören. Du wirst endlich des Lebens müde, bange Schwermut ergreift dein Herz, die süßesten Tröstungen des Evangeliums sind dir grundlos geworden, und du wünscht dir den Tod.
7.
So fühlt dein Herz in den trüben Stunden des Lebens; aber du hast Ursache, misstrauisch gegen diese Seelenstimmung zu sein, und mit Ernst der trüben Quelle derselben entgegen zu arbeiten. Es ist freilich kein großes Kunststück, die Leiden und Prüfungen dieser Zeit mit der Seligkeit der vollendeten Welt zu vertauschen, wenn man an eine selige Fortdauer nach dem Tode glaubt. Aber hast du denn dein von Gott dir aufgelegtes Tagewerk bereits schon vollendet, um den Lohn der Vollendung hoffen zu dürfen? Hast du in dieser Welt nichts mehr zu lernen und zu üben, dass du das Ende deines Lebens so sehnsuchtsvoll herbeiwünscht? Du klagst über deine Unbrauchbarkeit hienieden; aber siehe zu, dass diese Klage nicht in Undankbarkeit gegen Gott ausarte. Gesetzt auch, dass du um deiner Leiden willen den Menschen durch deine Tätigkeit nichts mehr nützen kannst so nütze ihnen durch das Beispiel deines festen Christen-Glaubens, deiner beharrlichen Geduld, deiner demütigen Unterwerfung unter den Willen Gottes. Du kannst dir nicht vorstellen, warum dich Gott länger auf dieser Welt lassen soll! - Sei nicht verwegen, dem allweisen Regierer deines Schicksals kühn vorzuschreiben, wie Er mit dir handeln, und zu welcher Stunde Er dich zu sich abrufen soll. Er wird zur rechten Zeit kommen, und dir die Pforte des ewigen Lebens öffnen. Weißt du denn nicht, dass jeder Augenblick deines Lebens eine unschätzbare Gnaden-Wohltat ist? Nur deine Undankbarkeit ist Ursache daran, dass es dir lästig ist, und du seinen hohen Wert nicht zu schätzen weißt. Du sollst weiser, demütiger, reiner, Gott ergebener, für die Wohnungen des Friedens und den Genuss Gottes tauglicher werden. Nütze diese Augenblicke, und lerne stille auf das Ende deines Lebens warten. Der HErr wird zur rechten Zeit kommen. Jetzt ist sein Angesicht vor dir verborgen, und du schmachtest nach seinem Anblick und seiner Erquickung. Er wird sich dir wieder in seiner unaussprechlichen Freundlichkeit und Liebe zeigen, und dein schmachtendes Herz trösten! Du sollst seine gänzliche Unentbehrlichkeit, und deine grenzenlose Ohnmacht ohne Ihn, durch tiefgehende Erfahrungen kennen lernen, und stärker, als zuvor, nach Ihm verlangen. Lerne auf Ihn in Geduld hoffen, und dein ungeduldiges Herz stillen. Er ist größer, als dein Herz und lässt keinen vergeblich auf seine beseligende Nähe warten. Aus der Finsternis wird, ehe du es erwartest, dir ein heiteres Licht aufgehen, und du wirst dich deines ängstlichen Zagens und deines trüben Lebens-Überdrusses von Herzen schämen.
Himmelan, nur Himmelan soll der Wandel geh'n!
Was die Frommen wünschen, kann dort erst ganz gescheh'n,
Auf Erden nicht.
Freude wechselt hier mit Leid;
Richt' hinauf zur Herrlichkeit
Dein Angesicht.
Himmelan erheb' dich gleich, wenn dich Kummer drückt;
Weil dein Vater, treu und reich, stündlich auf dich blickt.
Was quält dich so?
Droben in dem Land des Lichts
Weiß man von den Sorgen nichts ;
Sei himmlisch froh!
Himmelan wallt neben dir alles Volk des HErrn;
Trägt im Himmels-Vorschmack hier seine Lasten gern.
O schließ dich an!
Kämpfe treu, wie sich's gebührt;
Denke: Auch durch Leiden führt
Die Himmelsbahn.
Himmelan führt dich zuletzt selbst die Todesnacht;
Sei's, dass sie dir, sterbend jetzt kurze Schrecken macht:
Harr' aus! Harr' aus!