Monod, Adolphe - Langsam zum Reden
Adolf Monod schreibt an eine christliche Schwester:
Lyon, 31. Juli 1830.
„In Christo geliebte Schwester! Unser himmlischer Vater hat uns in seinem Worte durch des Apostels Mund folgendes Gebot gegeben: „Lasst uns untereinander selbst wahrnehmen mit Reizen zur Liebe und guten Werken“ (Hebr. 10, 24) und im alten Bunde befiehlt er: „Du sollst Deinen Nächsten strafen, auf dass du nicht seinethalben Schuld haben musst“ (3 Mos. 19, 17). Aus der ersten Hälfte des letzten Spruches: „Du sollst Deinen Bruder nicht hassen in Deinem Herzen“ ließe sich selbst der Schluss ziehen, dass ein Unterlassen dieses göttlichen Befehls ebenso strafbar wäre als Bruderhass.
Danach würde es mir scheinen, als wäre meine Liebe zu meinem Gott und zu Ihnen nicht rechter Art, wenn ich Sie nicht auf eine Sünde aufmerksam machen würde, welche ich an Ihnen wahrgenommen zu haben glaube. Ich will dies ohne weitere Vorbemerkung tun, nachdem ich es vor dem Herrn reiflich erwogen und ihn mehr denn einmal gebeten habe, mir zu verleihen in aller Einfalt, Liebe und Demut zu Ihnen zu reden, nach der Vorschrift Pauli: „Nichts tut durch Zank oder eitle Ehre, sondern durch Demut achte Einer den Andern höher als sich selbst.“
Das apostolische Gebot, welches Sie übertreten, lautet: „Ein jeglicher Mensch sei schnell zu hören, langsam aber zu reden“ (Jakobi 1, 19). Noch bevor ich unter der Zucht des Heiligen Geistes gelernt hatte, den Herrn und seine Kinder lieben, hatte ich bereits diese Bemerkung gemacht: seitdem mir jedoch Auge und Ohr geöffnet worden sind, ist dies bei verschiedenen Gelegenheiten, bei welchen ich mit Ihnen zusammengetroffen bin, in noch höherem Maße der Fall gewesen. Dasselbe haben auch Andere, vornehmlich aufrichtige Christen, bei Ihnen bemerkt: diese Wahrnehmung kann daher nicht völlig unbegründet sein. Ich lege es Ihnen deshalb dringend ans Herz, um der Liebe Jesu willen, Ihn anzuflehen, dass Er Ihnen zeigen möge, wie es bei Ihnen damit steht, und Sie von dieser Sünde zu befreien.
Dies ist das Wichtigste von dem, was ich Ihnen mitteilen wollte. Jedoch möchte ich noch einige Bemerkungen beifügen, die der Herr segnen wolle, damit Ihnen dieselben unter Gebet und Selbstprüfung wahren Segen bringen mögen.
Sowohl ihrem Ursprung als ihren Folgen nach, ist die Sünde, welche ich Ihnen vorhalte, eine bedenkliche.
Woher kommt das „Viel Worte machen,“ zu dem wir so geneigt sind, wenn andere sündhafte Neigungen uns nicht nach einer andern Richtung hin verleiten?
Es entspringt aus dem Leichtsinn unseres natürlichen Menschen.
Wenig und langsam werden wir reden, wenn wir in Gottes Gegenwart, unter Gebet, nach seinem Rat und Willen reden; wenn wir nur das sagen, was zur Förderung seines Reiches dienen kann, und alles Andere aus unsern Reden weglassen; wenn wir daran gedenken, dass wir aus unsern Worten gerechtfertigt und aus unsern Worten verdammt werden, wenn wir überlegen, welches Unheil ein gesprochenes Wort anrichten, welchen Segen dagegen ein anderes, durch den Heiligen Geist eingegebenes Wort stiften könnte, wenn wir auf seine Warnung gehorcht, und seine Zeit abgewartet hätten.
Wenig würden wir besonders dann reden, wenn wir bei unsern Worten allezeit danach trachteten, nichts anderes zu sagen als solche Dinge, deren wir uns am jüngsten Tage und im Hause unsres Gottes noch freuen können! Es kann ja Ausnahmefälle geben, in welchen wir nach dem deutlich erkannten göttlichen Willen darauf verwiesen werden können, mehr zu sprechen als sonst. Aber durch wie viel Gebet müssen wir uns alsdann darauf vorbereiten!
Was die Folgen dieser Sünde betrifft, so sind sie sowohl für uns selbst als für unsere Nächsten gefährlich.
In Bezug auf uns selbst beeinträchtigt das viele Reden, meiner Erfahrung nach, entschieden unsre Heiligung. Unser alter Mensch ist nur allzu sehr geneigt sich überall in den Vordergrund zu drängen und des Herrn wird dabei nur allzu sehr vergessen. Alles was innere Sammlung, Glaube, Demut, Gebetsgeist, wahrer Ernst heißt, wie leicht wird solches außer Acht gelassen, wo mehr Worte gemacht werden, als notwendig ist!
Ja, ich möchte hier noch eine Frage einschieben, über welche ich noch nicht ganz ins Klare gekommen bin: kann man in Gottes Gegenwart lachen und scherzen?
Meiner Erfahrung nach ist es leichter in Seiner heiligen Gegenwart schweigend zuzuhören, als zu reden. Was den Nächsten anbelangt, so schädigt, ja zerstört sogar bisweilen die durch Jakobus gerügte Sünde den heilsamen Einfluss, welchen wir durch unsre Gespräche ausüben können.
Ein wahrhaft christliches, ernstes, gehaltvolles Gespräch verliert selbst bei aufrichtigen Christen an Wert, wenn es zu lange dauert und in ermüdender Weise die Gedanken entwickelt. Wie vielmehr tritt solches bei denen ein, die Gott nicht lieben, sich für göttliche Dinge nicht interessieren, und gerne einen Vorwand suchen, um auf seine Kinder einen Tadel zu werfen.
Ich danke es Ihnen von Herzen, dass Sie mich auf mein mürrisches und verzagtes Wesen aufmerksam gemacht haben! Ach, ich verdiene ja viel schwereren Tadel, als Sie, um der Art willen, wie ich das Wort gebrauche! Legt mir doch mein Amt doppelte Verantwortlichkeit auf, und lasse ich mich dennoch nur zu oft, entweder durch den Geist des Hochmuts oder des Leichtsinnes dazu hinreißen, zu viel zu reden, oder auch durch den Trauergeist verleiten, mich in düsteres Schweigen zu hüllen! Wie oft vermeide ich eines dieser Extreme nur dadurch, dass ich in das andere verfalle!
Darum nur Mut gefasst, teuerste Schwester! Wir wollen dem Herrn stille halten: ja wir wollen ihn bitten, dass er uns demütige vor unsern eignen Augen, vor denen der Welt und der gläubigen Christen, und zumeist vor Seinem heiligen Auge! Er helfe uns dazu jeden Überrest von eigner Gerechtigkeit und Selbstgefälligkeit unter unsre Füße zu werfen; er lasse uns durch ein Wunder seiner Gnade unempfänglich werden für alles, was unsern eignen Ruhm und Lebensgenuss fördern kann, damit wir dem Herrn allein dienen, unaufhörlich, ungeteilt, in demütigem Frieden, in mächtigem Glauben und in freiwilliger Selbstverleugnung.
Vor Allem möge Ihm wohlgefallen die Rede unsres Mundes! Möge die herrliche Gabe des Wortes, mit welcher wir solchen sündhaften Missbrauch getrieben haben, nur noch zur Förderung seines Reiches in uns und um uns her verwertet werden.
Ach! dass kein Wort aus unserm Munde gehen, kein Gedanke unsern Geist durchzucken, kein Gefühl unser Herz höher schlagen lassen wollte, welche nicht zur Heiligung seines Namens und zur Verkündigung seiner Wahrheit dienen!
Gott befohlen, liebe Schwester! Der Friede Gottes bewahre Ihr Herz und das meine mit denen aller Kinder Gottes in Christo Jesu unserm Herrn! Für Ihn wollen wir Eines das Andere lieb haben, warnen, ermahnen, strafen; in Seiner Liebe wollen wir bleiben und zu Seinen Füßen unser Leben verzehren!“
Ihr in Christo Jesu ergebener Bruder
Adolph Monod.
Antwort auf vorstehenden Brief:
L…, 13. Aug. 1830.
„In Christo Jesu verehrter Herr und Bruder!
Ich habe ein paar Tage nachdenken wollen, ehe ich Ihr Schreiben beantwortete; außerdem haben die neuesten Ereignisse meinen Brief noch länger aufgehalten.
Sie zweifeln aber hoffentlich nicht daran, wie sehr ich mich durch Ihr wahrhaft christliches und brüderliches Schreiben zu innigem Dank gegen Sie verpflichtet fühle. Zugleich aber verstehen Sie gewiss auch, dass dasselbe mich tief betrübt hat.
„Alle Züchtigung, wenn sie da ist, dünkt sie uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein;“ - aber ich hoffe, dass auch diese gegenwärtige in mir „wirken wird eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit.“ Wie viel Böses müssen wir doch bei der geringsten Selbstprüfung in uns entdecken, und wie tut es uns not, wenn wir gedemütigt werden sollen, ohne doch ganz in die Verzagtheit zu geraten, dessen eingedenk zu bleiben, dass wir nicht unter dem Gesetze, sondern unter der Gnade sind!
Auch bei dieser Gelegenheit fürchte ich, dass die meiner Eigenliebe widerfahrene Demütigung mich tiefer schmerzt als die Sünde, mit welcher ich meinen Gott betrübt!
Sie sagen mir, dass Sie strafbarer sind als ich, weil Sie stets geneigt sind von einer Sünde in die andere zu verfallen. Wenn Sie mich genauer kennten, so wüssten Sie, dass auch ich sehr oft gegen Verzagtheit und Schwermut zu kämpfen habe. Der gegenwärtige Sommer ist in dieser Beziehung eine besonders harte Zeit für mich; an meinem jetzigen Aufenthaltsorte bin ich von aller christlichen Freundschaft und Gemeinschaft abgeschnitten und empfinde den Mangel einer derartigen Stütze, wie ich an dieselbe gewöhnt war, außerordentlich schwer.
Mehr als je drängt es mich, den Herrn zu bitten, mein Herz immer mehr mit seiner Gemeinschaft zu erfüllen, und mir immer klarer zu zeigen, wie Er für Alles Ersatz bieten kann. Zwischen meinen eignen Anschauungen, Gefühlen und Neigungen, und denen der meisten unter meinen Angehörigen, besteht eine so fühlbare Verschiedenheit, dass ich mich von früher Jugend an daran gewöhnt habe, im Familienkreise still und verschlossen zu bleiben.
Daher mag es wohl zum Teil auch kommen, dass, wenn ich mich dann einmal unter Gleichgesinnten bewege, ich mich zu vielem und zu lebhaftem Reden hinreißen lasse.
Zu meiner Beruhigung glaube ich es aussprechen zu dürfen, dass ich mich nach alledem der Sünde, die Sie mir mit Recht vorhalten, doch weniger schuldig gemacht habe, als Sie meinen. Dann glaube ich aber auch sagen zu dürfen, dass ich durch die langjährige Gewohnheit meine Worte zu wägen, mit der Hilfe Gottes, die ich demütig anrufe, einst noch dahin kommen werde, einen Fehler abzulegen, dessen ganze Bedeutung ich mit Ihnen empfinde, seitdem Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben.
Sehr oft schon musste ich mir Abends sagen: „Heute hast Du wieder zu viel geredet, und sicherlich den Einen oder den Andern in der Gesellschaft durch Deine Redseligkeit ermüdet.“
Ganz besonders ist dies im Gedanken an Sie mehr denn einmal der Fall gewesen. Während meines Aufenthaltes in Lyon habe ich auch oft schon selbst unmittelbar den Eindruck davon gehabt, dass ich zu viel spreche. Allein gerade das, was Sie „Ihre düstere Schweigsamkeit“ nennen, versetzte mich in eine unbehagliche Verlegenheit, in welcher ich am besten daran getan hätte, stille zu bleiben, während ich dagegen durch dieselbe mich zu törichtem Geschwätz reizen ließ, in einer übertriebenen Weise, wie ich sie selbst missbilligte. Ich kann dies jetzt nicht einmal mehr missbillig7en, da mein Benehmen mir von Ihrer Seite diese liebevolle Strafe zugezogen hat, deren ich so sehr bedurfte, und für die ich Ihnen und meinem himmlischen Vater innigen Dank darbringe, weil Er sich Ihrer Hand bediente, um mir diese heilsame Züchtigung zu senden.
Was die Frage betrifft, über welche Sie noch nicht zur Klarheit gelangt sind, nämlich „ob es erlaubt ist, in der Gegenwart Gottes zu lachen und zu scherzen?“ so erlaube ich mir nur, Ihnen zu bemerken, dass wir in solchen Dingen, über welche die Bibel uns keine bestimmte Richtschnur gibt, uns doch sicherlich vor unsrer natürlichen Neigung hüten müssen. Ihr Hang zur Schwermut könnte wohl, wenn Sie nicht auf sich selbst Acht haben, in allzu große Strenge ausarten. Wie Sie, betrachte auch ich den Ernst als eine köstliche Eigenschaft bei einem wahren Christen, aber ich glaube nicht, dass ein harmloses Scherzen, eine Fröhlichkeit, wie diejenige der Kindlein, die uns durch den Heiland selbst oft zum Vorbild hingestellt sind, ihn beleidigen können, und uns das Bewusstsein seiner Gnadengegenwart rauben.
Mir scheint im Gegenteil, dass ein finsteres Wesen, welches bei vielen Christen die Folge solch strenger Vorschriften wäre, dem Geist des Evangeliums weit mehr widersprechen muss. Sind wir doch nicht mehr Sklaven, die vor ihrem Herrn zittern, sondern versöhnte Kinder, welche mit Freude und Hingebung Zugang haben zum besten und zärtlichsten Vaterherzen!
Das Land, das mich umgibt, liegt im Banne einer geistlichen Finsternis, welche mein Herz dar= niederdrückt: Wie nötig ist es den Herrn zu bitten, dass er Arbeiter in diese große Ernte sende! Wir können nicht dankbar genug sein, dass die politischen Unruhen (die Julirevolution von 1830) in dieser Gegend kein Unheil angerichtet haben. Mögen doch alle. diese Ereignisse das Kommen des Reiches Christi fördern helfen! Möge er auch die Ihnen anvertraute Kirche mehr und mehr segnen, und Ihnen die Freude zu Teil werden lassen, Ihm immer mehr Seelen zuzuführen!
Leben Sie wohl, teurer Freund und Bruder im Herrn!
Gedenken Sie meiner in Ihrer Fürbitte, und bitten Sie insbesondere unsern himmlischen Vater, dass er mir die Gnade verleihe, Ihre brüderlichen Ermahnungen recht fruchtbar in meinem Herzen zu verwerten.“
Ihre im Herrn verbundene Schwester
C. L.