Godet, Frederic - Die Heiligkeit des Alten Testaments

Godet, Frederic - Die Heiligkeit des Alten Testaments

Vorwort.

Ein öffentlicher Angriff auf das Alte Testament, eingekleidet in die Verhandlung über eine Frage des Jugendunterrichts, legte in Neuenburg Herrn Prof. Godet die Verpflichtung auf, diesen ersten grundlegenden Teil unserer Heiligen Schrift gegenüber der falschen Darstellung wieder in das rechte Licht zu rücken. Sein Vortrag musste im Drang des Augenblicks rasch entworfen werden, aber man spürt ihm an, dass er aus einem gründlichen Verständnis und aus einer geheiligten Liebe zum Gegenstand geboren ist. So glauben wir, dass er auch anderwärts manchen Suchenden wohltun, manchen, die der Zeitgeist anficht, weiter helfen kann. Einige Zusätze des Verfassers schalteten wir am passenden Orte ein; was hingegen nur auf den vorübergehenden örtlichen Angriff Bezug hatte, ließen wir im Einverständnis mit dem Verfasser bei Seite; denn die Menschenmeinungen, so sehr sie eine Zeitlang Geräusch machen, verrauschen wieder; aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit.

Dass wir dieses ewige Wort lebendiger und heller verstehen lernen, dazu müssen auch die Gegner unsern Eifer wecken. Es trifft sich schön, dass so eben auch in unserm Verlag das Büchlein von Füller: das Alte Testament dem Zweifel und dem Anstoß gegenüber, in zweiter vermehrter Auflage erscheint. Gott lege seinen Segen auf beide Schriften.

Die Heiligkeit des Alten Testaments.

Weder die Göttlichkeit noch die Wahrheit des Alten Testaments will ich für jetzt verteidigen, sondern seine Heiligkeit. Ich rede jetzt nicht von der pädagogischen Frage, ob es nämlich passend sei, den Band des Alten Testaments so, wie er ist, in die Hände von Kindern zu legen. Über diesen Punkt, glaube ich, können Männer von sonst gleicher religiöser und moralischer Gesinnung verschiedener Meinung sein. Die Hochachtung, die wir dem Alten Testament schuldig sind, ist durchaus unabhängig von dieser Frage. Denn das Alte Testament ist nicht zu dem Zwecke verfasst worden, ein Lehrbuch des religiösen Elementarunterrichtes zu sein. Es ist die große Nationalgeschichte Israels, die Urkunde seines öffentlichen Rechts, sein Zivil- und Kriminalgesetzbuch, sogar seine Philosophie. Kein Geschichtsschreiber oder Jurist oder Philosoph hat sich je die Verpflichtung auferlegt, seine Schriften so zu verfassen, dass sie gerade so, wie er sie verfasste, könnten der Jugend in die Hände gelegt werden. Ich trete auf diese pädagogische Frage hier nicht ein, und wenn Jemand nach einem gründlichen Studium des Alten Testaments dabei angelangt wäre, zu erklären, er halte es für schädlich, dasselbe den Kindern in die Hände zu legen, so würde ich zwar immerhin mit Sorgfalt die Richtigkeit seiner Gründe erwägen, aber keineswegs die Verpflichtung fühlen, seine Behauptung öffentlich zu bekämpfen.

Eine ganz andere Frage, eine religiöse Frage von der höchsten Wichtigkeit ist aber die, ob das Alte Testament um seines unsittlichen Charakters und schädlichen Einflusses willen aus dem Religionsunterricht überhaupt zu beseitigen sei. Das wird behauptet, es wird das Alte Testament als ein religiös, moralisch und intellektuell ungesundes Buch bezeichnet; und darauf habe ich zu antworten.

Zwei Dinge freuen mich in dieser Erörterung. Einmal: dass in unserer Zeit die Aufmerksamkeit der Christen so mächtig auf unsere heiligen Bücher geleitet wird. Der Glaube schläft ein, wenn man ihn nicht schüttelt. Zum andern freut es mich, dass zwischen uns und unsern Gegnern noch ein gemeinsamer Boden bleibt: denn im Namen des uns angeborenen moralischen Sinnes, im Namen der Idee des wahren Gottes protestiert man gegen den Geist des Alten Testaments. Ich für meine Person erkenne vollständig die Befugnis dieses Richterstuhls der natürlichen Religion und des Gewissens an; ja gerade im Namen dieses uns angeborenen Sinnes zur Unterscheidung von Göttlichem und Ungöttlichem, von Recht und Unrecht trete ich in die Schranken, um den Beweis zu führen, dass der Angeklagte nicht schuldig sei, ja was sage ich? dass er heilig, dreimal heilig sei.

Drei Punkte werden uns beschäftigen, und ich denke, dass sich alle Beschuldigungen, die man irgend gegen den religiösen und moralischen Charakter des Alten Testaments erhebt, in diesen Rahmen einfassen lassen:

1. Der Gottesbegriff im Alten Testament.
2. Der Charakter der israelitischen Gesetzgebung.
3. Die Geschichte des israelitischen Volkes im Allgemeinen und in seinen hervorragendsten Persönlichkeiten.

Mit andern Worten: Gott an sich, Gott in seinem Gesetz, Gott in der Geschichte seines Volkes. Das ist es, wovon ich zu reden habe; es kommt mir vor, ich sei in der Lage eines Kindes, das für die Ehre seiner Mutter einsteht.

Unter Heiligkeit verstehe ich einfach den Abscheu vor dem Bösen, die unveränderliche Liebe zum Guten; einen Abscheu, der nicht müßig ist, sondern an der Zerstörung des Bösen arbeitet; eine Liebe, die nicht schläft, sondern unaufhörlich nach der Verwirklichung des vollkommen Guten strebt.

I.

Ich frage also zuerst, ob an diesem Maße gemessen der Gott, den uns das Alte Testament vor die Augen malt, nicht ein heiliges Wesen ist.

Der Leser suche einmal, sich dieser lebendigen Gestalt Gottes im Alten Testament nach ihren Hauptzügen bewusst zu werden:

Er ist Jehovah, d. h. der Seiende. Alle andern Wesen sind Nichtigkeit. Er ist, nicht weil ein anderes Wesen ihm das Wesen gibt; er ist, weil er ist. Das ist der erhabene Gottesbegriff, den Gott selbst in seiner Offenbarung an Moses in die Worte zusammenfasst: Ich bin, der ich bin. Elf Jahrhunderte später beginnt Griechenland durch das Auge zweier oder dreier seiner auserwähltesten Weisen, Anaxagoras, Sokrates, in unbestimmter Ferne diesen Begriff zu schauen, ohne ihn jemals ganz zu erreichen. Dagegen findet er sich von Moses Zeit an fünfzehn Jahrhunderte vor Christo nicht nur als Gedanke eines israelitischen Weisen, sondern als Grundlage der Gesetzgebung und des Lebens eines ganzen Volkes.

Dieser Jehovah, der seinem innersten Wesen nach über der Welt erhaben ist, waltet durch seine Allmacht und Allwissenheit in der Welt. „Wer darf denn sagen, dass Solches geschehe ohne des Herrn Befehl?“ (Klagl. 3, 37.) „Wo soll ich hingehen vor deinem Geist? Wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, stehe, so bist du auch da. Spräche ich: Finsternis möge mich decken, so muss die Nacht auch Licht um mich sein.“ (Psalm 139, 7. 8. 11).

Unter seinen sittlichen Eigenschaften sind es hauptsächlich zwei, die ihn charakterisieren. Die erste ist die Heiligkeit, der Abscheu vor dem Bösen, der ihn auf das Schärfste von allen Geschöpfen trennt, bei denen das Böse wirklich oder wenigstens möglich ist. „Des Jahres, da der König Usia starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Stuhl und sein Saum füllte den Tempel. Seraphim standen über ihm; ein jeglicher hatte sechs Flügel; mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und Einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth; alle Lande sind seiner Ehre voll! dass die Überschwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus ward voll Rauch. Da sprach ich: Wehe mir, ich vergehe; denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, mit meinen Augen gesehen. Da flog der Seraphim einer zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm; und rührte meinen Mund und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen gerührt, dass deine Missetat von dir genommen werde und deine Sünde versöhnet sei.“ (Jes. 6, 1-7.)

Diese Heiligkeit Gottes, in deren Gegenwart die reinsten Geschöpfe ihr Antlitz verhüllen, würde eine unübersteigliche Kluft zwischen ihm und dem Weltall befestigen, wenn Gott nicht eine andere Eigenschaft besäße, die gewissermaßen das Bindeglied zwischen ihm und den geschaffenen Wesen bildet: die Liebe, die erbarmende, die bekümmerte, die zärtliche Liebe sogar. „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselbigen vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“ (Jes. 49, 15.) „Wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten.“ (Ps. 103, 13.) „Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf.“ (Ps. 27, 10.) Und nicht an Israel allein wendet sich diese erbarmende Liebe Jehovahs. Sie erstreckt sich über Alles, was Mensch heißt. Ja, ihr Menschen sollt die Herde meiner Weide sein, und ich will euer Gott sein, spricht der Herr Herr. (Hesek. 34, 31.) Diese Liebe richtet sich speziell auf die Heiden, auf ihre kleinen Kinder, sie steigt sogar zu den Tieren herab. „Und mich sollte nicht jammern Ninives, solcher großen Stadt, in welcher sind mehr denn hundert und zwanzig tausend Menschen, die nicht wissen einen Unterschied, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?“ (Jona 4, 11.) Selbst der Sünder kann jeden Augenblick in den Genuss dieser väterlichen Liebe treten. So wahr als ich lebe, spricht der Herr, ich habe keinen Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass er sich bekehre und lebe. (Hesek. 33, 11.) Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter seine Gedanken und bekehre sich zum Herrn, so wird er sich seiner erbarmen und zu unsrem Gott; denn bei ihm ist viel Vergebung.“ (Jes. 55, 7.) Das sind Charakterzüge Gottes, wie ihn das Alte Testament beschreibt: ein unvergleichliches einzigartiges, erhabenes Wesen, eine Heiligkeit, die der Sünde nie das geringste Zugeständnis macht, aber nicht minder ein herzliches Erbarmen mit Allem, was lebt, mit dem Sünder sogar, und ein brennendes Verlangen, ihn zu retten: man vereinige diese Züge zu einem lebendigen Bilde, und lasse dann vor dieser majestätischen Gestalt die Götter der heidnischen Nationen vorbeiziehen, die Götter der Nation sogar, die, was Intelligenz und sittliches Gefühl betrifft, an der Spitze aller andern stand, die Götter Griechenlands, den unreinen Jupiter, die feindselige Juno, den diebischen Merkur, die unkeusche Venus, und man sage dann, ob nicht ein Abgrund ist zwischen dem vollkommenen Gottesbegriff, der seit den Anfängen des israelitischen Bewusstseins wie eine strahlende Sonne in dasselbe hineinleuchtet, und diesen hässlichen Gestalten der heidnischen Gottheiten, die gleich Gespenstern, Kindern der Nacht, das Bewusstsein der andern Völker umschwärmen und verunreinigen!

Aber daneben, sagt man, hat der Gott des Alten Testaments doch auch seine Schwachheiten und sogar seine Flecken. Er ruht nach dem Werke der Schöpfung aus, wie wenn er müde wäre. Es reut ihn, die Menschen geschaffen zu haben, und er vernichtet sie in der Sündflut, er gerät in Zorn, er ist eifersüchtig, er ist bis zu einem solchen Grade des Hasses fähig, dass er den Sünder verstockt, um das Recht zu haben, ihn desto strenger zu strafen. Ist nicht dieser Gott in den Augen des aufgeklärten Bewusstseins unserer Tage eine lächerliche oder grässliche Gestalt?

Die Religion des Alten Testaments, antworten wir, ist die einzige von allen alten Religionen, die jede bildliche Darstellung Gottes durchaus verbietet, sei es in der Form von Statuen oder von Gemälden oder irgendeines andern Gegenstandes der Natur. Das ist doch, mein' ich, ein ausgezeichneter Dienst, den sie der Reinheit des Gottesbegriffes geleistet hat. Aber wenn diese Religion zu ihren Bekennern von Gott sprechen soll, so muss sie es wohl in einer ihnen verständlichen Form tun und sich also der Gleichnissprache bedienen, doch so, dass sie zugleich den Schlüssel dazu gibt. Wäre sie, besonders damals, eine volkstümliche Religion, ein Gemeingut Aller geworden, wenn sie sich der abstrakten und philosophischen Sprache bedient hätte? Und wäre es ihr je gelungen, durch das Herz und die Einbildungskraft bis zu den tiefsten Gründen des menschlichen Seelenlebens, bis zum Gewissen und Willen hindurch zu bringen? Um den lebendigen Gott dem Gewissen fühlbar zu machen, genügt es nicht, ihn zu beschreiben, man muss ihn malen, und um ihn zu malen, bedarf es der Farbe und Gestalt. Wenn die Bibel von den Himmeln als dem Thron Gottes und von der Erde als von seinem Fußschemel spricht, wird es wohl einen einzigen Israeliten geben, der nicht verstehe, dass das Gleichnisse sind, und welches ihr Sinn sei? Sagt ihm nicht die gleiche Bibel im folgenden Verse, dass seine Hand Alles gemacht habe (Jes. 66, 1. 2.) und dass Gott ein Gott ist, den alle Himmel und aller Himmel Himmel nicht fassen können? (1. Kön. 8, 27.) Ebenso, wenn ihm die Bibel einen Arm gibt, Sinnbild seiner Allmacht; Augen, ein Bild für seine Allwissenheit: leuchtet nicht ein, dass sie von den uns bekannten lebenden Wesen die Werkzeuge ihrer Tätigkeit borgt, um uns in dieser mannigfaltigen Form die eine und zugleich vielfache Tätigkeit dieses geheimnisvollen Wesens, das wir nicht kennen, vorstellbar zu machen? Warum würde sie sonst sprechen: Wem wollt ihr Gott nachbilden und was für ein Gleichnis wollt ihr ihm zurichten? (Jes. 40, 18.)

Die Bibel bedient sich desselben Verfahrens, um den sittlichen Charakter Gottes zu beschreiben. Sie entlehnt den sittlichen Wesen, die wir kennen, diejenigen Charakterzüge, welche die meiste Ähnlichkeit mit der unendlichen Vollkommenheit Gottes darbieten, bringt also einen lebendigen Eindruck von denselben in uns hervor und setzt unser Herz in Verkehr mit ihnen.

Gott ruht. (1. Mos. 2, 2.) Das Alte Testament spricht genug von seiner Allmacht, um dem Gedanken keinen Raum zu geben, dass bei Gott Müdigkeit sei. Hat er nicht durch sein bloßes Wort die Welt geschaffen? Was bedeutet also diese Ruhe Gottes? Zweierlei. Zuerst dass er nach Erschaffung des Menschen an das Ziel seines Schöpfungswerkes gekommen sei und aufgehört habe, neue Wesensgattungen zu schaffen. Und hat die neuere Wissenschaft diese Tatsache nicht vollkommen bestätigt? Zum andern bedeutet diese Ruhe Gottes, dass er mit segnender Freude sein gutes Werk betrachtet, gerade wie ein Künstler sein Meisterwerk, die Frucht seiner Arbeit beschaut: Hast du dieses Lächeln Gottes des Schöpfers, diesen Ausdruck seines Wohlgefallens noch nie durch dein Auge hindurch bis in dein Herz hinein empfunden? Hat dir ein schöner Frühlingstag, ein strahlender Sonntag, da der Mensch selbst ruhend den Glanz und die Ruhe der Natur genießen kann, noch nie etwas davon erzählt? Die Ruhe Gottes ist also ein Gleichnis, aber ein Gleichnis worunter sich eine Wirklichkeit verbirgt.

Gott empfindet Reue. (1. Mos. 6, 6.) Aber steht nicht in dem gleichen Kapitel, wo dieser Ausdruck wieder gebraucht wird: Gott ist nicht ein Mensch, dass er lüge, noch ein Menschenkind, dass ihn etwas gereue? (1. Sam. 15, 11. 29.) Man muss also nach dem Alten Testament selbst von dem Begriff der Reue, wenn von Gott die Rede ist, alle Willkür, alle Laune, kurz Alles, was zur menschlichen Unvollkommenheit gehört, entfernen. Gott empfindet anders und handelt anders, wenn die sittlichen Wesen, mit denen er in Verkehr steht, ihre Gesinnung und Handlungsweise gegen ihn ändern. Und gerade darin behauptet er seine Unveränderlichkeit. Ein Kind kann sich zum Guten oder zum Bösen ändern; wenn nun sein Vater nicht entsprechend seine Handlungsweise ihm gegenüber änderte, so würde er eben dadurch seinem eigenen Charakter untreu und man müsste dann in Wahrheit sagen, er habe sich geändert. Also wenn der ursprünglich gut geschaffene Mensch sich verderbt und es reut Gott, oder wenn der von Gott zum König eingesetzte Saul hochmütig wird und sich empört und es reut Gott wieder, so bedeutet in diesen beiden Fällen die Reue Gottes, dass er aufhebt, was er gemacht hatte: durch die Sündflut vernichtet er die Menschen, die er geschaffen hatte, und eben den Saul, den er auf den Thron erhoben, stürzt er wieder von demselben. Diese Reue ist Treue. Gott bleibt sich selbst und seinem Plane treu. So kann es ihn auch des den Niniviten angedrohten Übels gereuen (Jona 3, 10); nämlich die Reue der Niniviten kommt der Ausführung einer Drohung, die sich sonst verwirklicht hätte, zuvor. Gott würde gerade dann sich ändern, wenn er, wo der Mensch sich ändert, sich nicht änderte. So ist die Reue Gottes nicht nur nicht im Widerspruch mit seiner Unwandelbarkeit, sondern sie gehört notwendig zu derselben.

Gott gerät in Zorn. (2. Kön. 17, 18; Ps. 7, 12; 4. Mos. 11, 33.) Aber wer weiß nicht, dass es einen heiligen und einen fleischlichen Zorn gibt, einen Zorn des gerechten Unwillens und einen ungestümen Jähzorn. Der heilige Zorn ist die Gegenwirkung des Guten gegen das Böse, eine Gegenwirkung, die umso mächtiger ist, je stärker die Triebfeder dazu ist, die Liebe zum Guten. Der fleischliche Zorn hingegen stammt aus der selbstsüchtigen Regung des gekränkten Ich. Welcher Vater hat nicht die Erfahrung dieser zwei Arten von Zorn gemacht? Gott den heiligen Zorn absprechen hieße ihm zugleich die Liebe zum Guten absprechen. Man hasst das Böse genau in dem Maß, als man das Gute liebt; und der das Böse tut, fällt unter das Gewicht des Zornes genau in dem Maß, in welchem er wissentlich und freiwillig mit der Sünde eins wird. In dem Maße, in welchem er sich von der Sünde scheidet, sie erkennt und gegen sie kämpft, ist er noch Gegenstand des Erbarmens und der Hilfe Gottes. So wahr ich lebe, ich will nicht den Tod des Sünders.

Was ist gegen diesen Begriff des göttlichen Zornes einzuwenden? Das Neue Testament lehrt über diesen Punkt genau wie das Alte. Paulus ist es, der sagt: dass Gottes Zorn vom Himmel geoffenbart sei über alle Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit aufhalten (Röm. 1, 18.), und im Hebräerbrief findet sich das Wort: Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer. (Hebr. 12, 29.) Christus selbst, und das zu drei Malen in derselben Rede, spricht von dem Wurm, der nicht stirbt, und von dem Feuer, das nicht verlischt. (Mark. 9, 44. 46. 48.) Und von ihm, diesem erbarmungsreichen Jesus, den die Oberflächlichkeit unserer Tage so oft dem zürnenden Gott des Alten Testaments entgegenstellt, gilt der ergreifende Ausdruck im Neuen Testament vom „Zorn des Lammes.“ (Offenb. 6, 16.) Wer Gott die Fähigkeit zu zürnen abspricht, spricht ihm auch die Fähigkeit ab, zu lieben, im Ernst zu lieben, und setzt an die Stelle des lebendigen Gottes einen toten Begriff, ein stummes Götzenbild des Verstandes.

Gott liebt Jakob und hasst Esau. (Mal. 1, 2. 3.) Er verhärtet Pharao. (2. Mos. 10, 27.) Das erste dieser Worte ist von Maleachi, dem letzten Propheten, zu einer Zeit ausgesprochen worden, da Gott durch die Rückführung aus der babylonischen Gefangenschaft soeben das hervorragendste Zeichen seiner Barmherzigkeit an Israel getan hatte. Der Prophet sah mit Augen das gegen alles menschliche Erwarten wieder hergestellte Israel und zu gleicher Zeit das gänzlich verwüstete Land der Edomiter, der Nachkommen Esaus. (Mal. 1, 3. Ich hasse Esau und habe sein Gebirge öde gemacht und sein Erbe den Drachen zur Wüste.) Bei diesem Anblick und bei der Vergleichung der so ganz entgegengesetzten Zustände dieser beiden Nachbar- und Brudervölker legt er Gott dieses Wort in den Mund, den Inbegriff der Geschichte beider Völker: Jakob habe ich geliebt und Esau habe ich gehasst. Hegt nun Gott diesen Sinn aus Willkür und Laune? Das Alte Testament sagt uns das gerade Gegenteil. Es stellt uns Esau als einen fleischlichen und unheiligen Menschen dar, der den Absichten Gottes zur Errichtung des Glaubensreiches in keinerlei Weise dienen konnte, und so war auch das von ihm abstammende Volk in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Waren es nicht die Edomiter, die am Tage des Falles Jerusalems sich freuten, mit teuflischem Hasse die Sieger ermunterten die Stadt bis zu ihrem Fundamente zu zerstören, und sich auf die Lauer stellten, um die unglücklichen Flüchtlinge auszuplündern und zu erwürgen? (Obadja 10-15.) Das ist der Grund, weshalb Esau und sein Geschlecht, der ältere Zweig der Familie Isaaks, zwar mit zeitlichen Gütern gesegnet, (1. Mos. 27, 39. 40.) in geistlicher Beziehung aber verworfen wurden, während Jakob und seine Nachkommen zur Ausrichtung des höheren Werkes, das Gott im Auge hatte, an ihre Stelle traten. Da ist kein willkürlicher Hass, da ist keine launenhafte Bevorzugung; da ist freie, von der menschlichen Regel, von der Regel der Erstgeburt unabhängige Wahl, aber weise Wahl, wie ein Arbeiter sie trifft, der zur Arbeit, die er vorhat, das passende Werkzeug haben muss. (Da es sich hier nur um das Alten Testament handelt, so treten wir in keine Erörterung über Röm. 9, 11-13. ein).

Die Verstockung Pharaos ist eben so sehr der Gerechtigkeit, wie der Weisheit Gottes würdig. Es tritt im Leben des Gottlosen ein Augenblick ein, wo er wegen seines beharrlichen Widerstandes gegen Gottes Ruf nicht mehr gerettet werden kann.

Glaubt man, dass ihn dann Gott als ein unnützes Wesen fortexistieren lässt? Aber nichts von dem, was Gott geschaffen hat, kann unnütz sein. Der Gottlose hat die Freiheit, das Heil zurückzustoßen. Aber auch in diesem Fall hat er nicht die Freiheit zu hindern, dass ihn Gott durch eine augenfällige Strafe Andern zum Heil dienen lässt. Also nachdem sich einmal Pharao selbst verhärtet hat (denn er ist es wirklich, der diesen ersten schlimmen Akt begeht, wie die Erzählung ausdrücklich sagt, 2. Mose 9, 7.), muss er zu Gottes Verherrlichung beitragen, indem dieser ihn so verblendet, dass er durch seinen unsinnigen Widerstand gegen den göttlichen Befehl das Werk des Herrn, die Erlösung seines Volks nur desto glorreicher macht für alle Zeiten. Und Gott ist hierbei so wenig parteiisch, dass der Tag kam wo er auf gleiche Weise an seinem eigenen Volke handelte. Als sich Israel gegen die christliche Kirche verhielt, wie der König von Ägypten gegen Israel, da verblendete Gott auch Israel, so dass sein Fall und seine Zerstreuung, der neuen Welt zur Lehre dienen, wie der Untergang Pharaos der alten Welt. Es wird also in allem Ernst jeder Menschenseele die Wahl gelassen, entweder ihre eigene Bestimmung zu erfüllen, indem sie sich am Werk und damit an der Verherrlichung ihres Schöpfers beteiligt, oder zum bloßen zweckdienlichen Mittel für die Rettung Anderer herabgewürdigt zu werden. Ist das nicht groß, frage ich? Ist das nicht heilig und würdig des weisen Gottes und zugleich des sittlich zurechnungsfähigen Menschen? Wenn die Freiheit etwas Großes ist, ja das Größte, was unter seinen großen Gaben der Mensch besitzt, muss ihr Gebrauch nicht auch eine große Wirkung haben, sei's zum Guten, sei's zum Bösen?

Ich weiß, dass es leicht ist, diese ernste Wahrheit zu entstellen. Denn wie vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt, so ist auch das Heiligste vom Gehässigsten nur ein Haar breit entfernt. Man kann die Sache so darstellen, als fange der Gott der Bibel damit an, den Menschen böse zu machen, um dann durch eine großartige Bestrafung seine Gerechtigkeit desto glänzender zu erweisen. Ist das Zerrbild fertig, so spottet die Leichtfertigkeit und die Unwissenheit klatscht Beifall. Aber nach diesem wohlfeilen Triumph wird bald durch alle Nebel hindurch die Wahrheit umso klarer hervorleuchten, je mehr sie durch Widerspruch hat gehen müssen.

Soll ich dem gesunden Sinn meiner Leser die Kränkung antun, auch noch vom eifersüchtigen Gotte zu sprechen? (2. Mose 20, 5; 34, 14.) Wie wenn das Wesen, welches das Alte Testament uns als vollkommen unabhängig von seiner Schöpfung und in sich vollkommen selig darstellt, seinetwegen um unsere Liebe eiferte und nicht einzig unsertwegen! Er weiß, dass in ihm die Quelle lebendigen Wassers für unser Herz sprudelt, und dass wir außer ihm nur löchrige Brunnen finden. Darum macht er auf uns Anspruch mit einer Eifersucht, die, wohlverstanden, nur ein anderer Name für seine brennende Liebe ist.

Dieser erhabene Gedanke des einen, von allen Geschöpfen unabhängigen, vollkommenen Gottes, wovon die Blätter des Alten Testaments vom ersten Satz des ersten Buches Mose bis zum letzten des Propheten Maleachi voll sind, dieser Gedanke, den das Gesetz gebieterisch ausspricht, der als ein heiliger Hauch die Propheten begeistert, dem die Psalmdichter huldigen und die Weisen Israels nachsinnen; dieser Gedanke, den der Sohn Gottes aufgenommen, begrüßt, bestätigt und seiner Kirche überliefert hat, indem er aus dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs unsern Gott und unsern Vater machte; dieser Gedanke, der das Todesurteil wird für die Völker, die ihn zurückstoßen, aber ein mächtiger Halt für Alle, die ihn annehmen und festhalten, woher ist er dem Volk Israel gekommen? Er ist sein einziger geistiger Schatz, denn dieses Volk hatte keine andere Größe und keine andere Bestimmung in der Geschichte, als die, der Träger desselben zu sein, und diesen Schatz besitzt es allein, kein anderes Volk hat ihn mit ihm geteilt.

Man hat gesagt, dieser Gottesbegriff sei beim Volk Israel die Frucht einer natürlichen Anlage gewesen, die es mit den andern semitischen Völkern gemeinsam gehabt habe. Der mit dem Namen semitisch bezeichnete Zweig der Menschheit umfasst drei Völker: die Syrer im Norden, die Juden in der Mitte, die Araber im Süden. Nun teilten die Syrer mit den Phöniziern die Verehrung der Sonne und des Mondes und hatten außerdem noch andere Gottheiten. Aus der Mitte dieses Volkes hatte Gott den Abraham herausgezogen, um ihn vor dem Verderben zu bewahren. Die Araber waren der Verehrung der Gestirne und der Anbetung der Naturkräfte ergeben, und die wenigen Strahlen der Gotteserkenntnis, welche man bei ihnen gefunden hat, kamen von ihrer Berührung mit dem Judentum und mit dem Christentum. Gegen diesen Nationalgötzendienst richtete ja Muhamed seine Reform, angefeuert durch das Beispiel Moses und Christi und gestützt auf sie. Von diesen drei Völkern semitischen Stammes sehen wir also zwei in Götzendienst versunken, eines im Norden, das andere im Süden. Und Angesichts dieser offenen geschichtlichen Tatsache will man uns glauben machen, dass der Glaube an die Einheit und Heiligkeit Gottes eine natürliche dem semitischen Geist anhaftende Anlage sei!

Oder haftete vielleicht diese Anlage speziell dem israelitischen Geiste an? Wenn wir die Geschichte der andern semitischen Völker nicht kennten, diejenige der Juden wenigstens kennen wir. Kann man nun vernünftiger Weise annehmen, dass der Glaube an Einen Gott von einer natürlichen Anlage dieses Volkes herrühre, wenn man es im ganzen ersten Teil seiner Geschichte beständig in den Götzendienst zurückfallen sieht? Warum dieser lange und mühselige Kampf der Propheten gegen die heidnischen Triebe des Volks, warum dieser Kampf, der erst bei der Rückkehr aus dem Exil endete, wenn der Glaube an Einen Gott ihm angeboren war? Warum dieses reinigende Zuchtmittel, die babylonische Gefangenschaft, wodurch allein Gott endlich dazu gelangt das Übel mit der Wurzel auszureißen? Die Erklärung des hebräischen Monotheismus aus der natürlichen Anlage des Volks ist ein Verstoß gegen die Geschichte und zugleich gegen allen gesunden Sinn.

Siehst du dieses Schiff stromaufwärts fahren, während alle andern Kähne abwärts getrieben werden? Was würde man von dem Menschen sagen, der behauptete, es folge dem Lauf seiner Natur? Nein, würdest du antworten, es muss da irgendwo eine verborgene, treibende Kraft sein. Dass Israel allein wider den Strom des Götzendienstes schwimmt, der alle andern Völker des Altertums fortreißt, und das im Gegensatz zu seiner eigenen Neigung, die dem Strome folgen möchte, das ist in den Augen des prüfenden Geschichtsschreibers, der den Wert eines Volkes nicht nach dem äußerlichen Gesichtspunkt seiner Größe, sondern nach dem innerlichen seiner sittlichen Beschaffenheit zu schätzen weiß, eine Kapitaltatsache in der Geschichte der Menschheit und eine Tatsache, die nur durch die Wirkung einer mächtig treibenden Kraft erklärt werden kann, die diesem Volk eine seiner natürlichen Neigung zuwiderlaufende Richtung gab. Man muss das Wort gelten lassen, das die Tatsachen fordern: es hat eine Offenbarung stattgefunden.

II.

Der Gott des Alten Testaments hat sein Wesen auf die unmittelbarste Weise in den Gesetzen geoffenbart, die er seinem Volke gab. Wenn wir die ganze Reihe von Befehlen, die aus unserm Munde ergangen sind, zusammenstellten, wären sie zusammen nicht das treueste Bild unseres Charakters? Nur dürfen wir nicht vergessen, dass die Befehle, die wir erteilen, von zwei Faktoren und nicht von einem allein abhängen. Der erste Faktor sind wir selbst, der zweite die Person, der wir befehlen. Wir werden unserm sechsjährigen Kinde nicht zumuten, eine Last aufzuheben, die für die Schultern eines Jünglings passt. Der Lehrer einer Unterklasse wird seinen Zöglingen keine Aufgabe vorlegen, welche die oberen Klassen allein zu lösen im Stande sind. Unsere Befehle richten sich also einerseits nach dem letzten vollkommenen Ziel, das wir im Auge haben, anderseits nach der jeweiligen Kraft unsers Untergebenen. Es ist billig, nach dieser Regel die israelitische Gesetzgebung zu beurteilen. Man darf nicht fragen: Ist dieses Gesetz der Ausdruck für das höchste schlechthin Gute? Ist ein weiterer Fortschritt unmöglich? sondern man muss fragen: War dieses Gesetz ein wirklicher Fortschritt über den damaligen Zustand des Volks hinaus? War es der größtmögliche Fortschritt, der sich mit seinem damaligen Zustande vertrug? Ein Gesetzgeber, der diese Grenzlinie nicht beachtete, würde Gefahr laufen, statt des Fortschritts den Rückschritt zu befördern.

Unter dieser Voraussetzung wollen wir nun den Charakter des durch Mose verkündigten Gesetzes näher betrachten. Zwei Zwecke waren, scheint mir, bei einem Volke zu verfolgen, das aus der härtesten Sklaverei hervorging. Die Sklaverei übt die doppelte Wirkung aus, den Charakter zu fälschen und ihn zu verbittern. Also werden, das sagt uns der gesunde Verstand, Geradheit und Menschlichkeit die zwei im israelitischen Gesetze hervorragenden Züge sein, besonders wenn man sich von dem Zeitpunkt, worin das Gesetz gegeben ward, genaue Rechenschaft gibt. Übrigens entsprechen diese zwei Züge auch ganz dem Charakter des Gesetzgebers, des heiligen und gütigen Gottes. Also in erster Linie: Gerechtigkeit, Geradheit, Rechtschaffenheit, Wahrhaftigkeit. Diese Eigenschaft ist beim Menschen das Abbild der göttlichen Heiligkeit; sie ist der Grundzug des jüdischen Gesetzes. Ich berufe mich auf die zehn Gebote, die wir Alle kennen. Und hier, wie wir wissen, begnügt sich Gott nicht mit einer rein äußerlichen Erfüllung; sondern da die Quelle des Bösen, das wahre Böse im Herzen ist, so schließt er die zehn Gebote mit den Worten: Lass dich nicht gelüsten. Tötet die böse Lust; dadurch zerstört ihr Mord, Ehebruch, Diebstahl, Verleumdung schon im Keime.

Aber besonders in den einzelnen Vorschriften über das Leben, die persönliche Freiheit, das Eigentum ist zu erkennen, wie alles in diesem Gesetz darauf berechnet ist, den Sinn für Gerechtigkeit zu entwickeln. Aug um Auge, Zahn um Zahn, das ist der allgemeine Grundsatz, den der Richter, nicht wie man oft glaubt, der Beleidigte, in allen Rechtsfällen anzuwenden hat. Die Todesstrafe wird ausgesprochen bei vorsätzlichem Totschlag oder wenn derselbe durch wiederholte Fahrlässigkeit verschuldet ist. Diese Strafe ist das Siegel der Achtung, die Gott selbst vor dem Menschenleben hat. Die Sittengesetze sind auch sehr streng. Der Ehebrecher wird mit dem Tode bestraft. (3. Mose 20, 10.) Der Dieb muss den vierfachen oder gar fünffachen Wert des gestohlenen Gegenstandes erstatten. (2. Mos. 22, 1.) Die Sklaverei im eigentlichen Sinn ist unter den Israeliten verboten, und wird nur ausnahmsweise und unter sehr ausdrücklichen Bedingungen gestattet. (3. Mose 25, 39.) Der Sklave, der durch die Misshandlung seines Herrn den Gebrauch eines Gliedes verloren hat, wird eben dadurch frei. (2. Mose 21, 26.) Wie beim Richter zu Gunsten des Reichen kein Ansehen der Person stattfinden soll, so wird ihm auch, um ihn vor einer andern Art von Parteilichkeit zu warnen, gesagt: Du sollst den Geringen nicht schmücken in seiner Sache. (2. Mose 23, 3.) Das Gesetz geht so weit, Alles zu untersagen, was, ohne an sich schlecht zu sein, auf die Dauer den zarten Sinn für Rechtlichkeit und Reinheit schwächen könnte. So verbietet das Gesetz ein Feld mit verschiedenen Fruchtarten zu besäen, in einem Weinberge Verschiedenartiges zu pflanzen, das Tuch aus Wolle und Leinen zugleich zu weben; (5. Mose 22, 5. 9. 11.) das Weib soll nicht Männerkleider tragen, noch der Mann Weiberkleider. Es läge darin eine Verkehrung der Naturordnung; diese Ordnung aber, da sie göttlich ist, soll auf alle Weise geachtet werden.

Neben dieser Sorgfalt für die Erhaltung eines geraden und lauteren Sinnes springt uns aus dem mosaischen Gesetz eine nicht minder große Sorgfalt entgegen für alles, was menschlich, billig, barmherzig und gütig ist. Der göttliche Gesetzgeber nimmt den Taglöhner, den Armen, den Gedrückten unter seinen besonderen Schutz: Ihr sollt keine Witwen und Waisen beleidigen; wirst du sie beleidigen, so werden sie zu mir schreien und ich werde ihr Schreien erhören. Wenn du dem Armen, der bei dir ist, Geld leihest, so sollst du keinen Zins von ihm nehmen. Wenn du von deinem Nächsten ein Kleid zum Pfande nimmst, so sollst du es ihm wieder geben, ehe die Sonne untergeht, denn es ist seine einzige Decke. Wird er aber zu mir schreien, so werde ich ihn erhören; denn ich bin gnädig. (2. Mose 22, 22-27.) Wenn du dein Land einerntest, sollst du es nicht an den Enden umher abschneiden, auch nicht Alles genau aufsammeln. Also auch sollst du deinen Weinberg nicht genau lesen, noch die abgefallenen Beeren auflesen, sondern dem Armen und Fremdling sollst du es lassen. (3 Mose 19, 9. 10.) Die Sorge Gottes wendet sich besonders den Fremden zu, die in Israel wohnen: Die Fremdlinge sollst du nicht schinden und unterdrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen. (2. Mose 22, 21.) Die Rabbinen zählen einundzwanzig Stellen im Gesetz, worin dem Israeliten der Fremdling empfohlen wird: Der Fremdling soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer, und sollst ihn lieben, wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr euer Gott. (3. Mose 19, 33.) Der Fremdling soll am Sabbat so gut ausruhen können, wie der Israelite. Der fremde Sklave, der in Israel eine Zufluchtsstätte gefunden hat, soll seinen heidnischen Herren nicht zurückgegeben werden. (5. Mose 23, 15.) (Man vergleiche diese gesetzlichen Bestimmungen mit der Art, wie die Fremdlinge, die Barbaren, bei den fortgeschrittensten alten Völkern angesehen wurden).

Es ist nichts bis zu den Tieren herab, wofür das Gesetz nicht Rücksicht verlangt. Es ist nicht recht, dem Ochsen, der die harte Landarbeit verrichtet, das Maul zu verbinden, wenn er am Erntetag das Getreide drischt; er soll seinen Anteil nehmen an der Frucht der Arbeit, die er mit dem Menschen geteilt hat. (5. Mose 25, 4.) Man soll an den Pflug nicht zwei Tiere von so ungleicher Kraft anspannen wie Ochs und Esel sind. (5. Mose 22, 10.) Man soll das Böcklein nicht kochen, dieweil es an seiner Mutter Milch ist. (2. Mose 23, 19.) Und wenn man Eier aus einem Nest nimmt, soll man die Mutter fliegen lassen (ohne Zweifel, damit die Gattung erhalten werde, 5. Mose 22, 6).

Selbst unser Feind ist mit in den Kreis eingeschlossen, den unsere Liebe umfassen soll: Wenn du deines Feindes Ochsen oder Esel begegnest, dass er irrt, so sollst du ihm denselben wieder zuführen. Wenn du des, der dich hasset, Esel siehst unter seiner Last liegen, hüte dich, lass ihn nicht, sondern versäume gern das Deine um seinetwillen. (2. Mose 23, 5. 6.) Und Alles das gegründet auf das erhabene Wort, welches Alles erklärt und mehr sagt als alles: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. (3. Mose 19, 18.)

Wie viel ähnliche Gesetze könnte ich nicht noch anführen? Man nehme noch hinzu die drei wunderbaren Einrichtungen: des wöchentlichen Sabbats, des Sabbatjahres, des Jubeljahres. Im Sabbatjahr, das alle sieben Jahre wiederkehrte, wurde das Land brach gelassen, und der Ertrag, den es etwa von selbst brachte, gehörte dem ganzen Volke, besonders den Witwen, Armen und Fremdlingen. Das Jubeljahr sollte alle fünfzig Jahre gefeiert werden; es war der Termin, über den hinaus der Verkauf der Grundgüter nicht gelten sollte, so dass der Käufer eines Ackers eigentlich nur die Zahl der Ernten bis zum nächsten Jubelfahr kaufte und dann das Gut wieder an die Familie zurückfiel, die durch augenblickliche Not gezwungen worden war, es zu veräußern; was die Möglichkeit eines permanenten Pauperismus, dieser Plage aller alten und neuen Gesellschaften, kurz abschnitt.

Wenn man sagt, dass das mosaische Gesetz durchweg mit allen modernen Grundsätzen der Freiheit im Widerspruch stehe, so erkennen wir an, dass allerdings ein wesentlicher Unterschied ist zwischen dem Standpunkt des A. Testaments und dem, den unsere heutige Gesellschaft dem Evangelium verdankt. Während Jesus sprach: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist, und so mit fester Hand die Grenzlinie zwischen dem bürgerlichen und dem religiösen Gebiete zog, sind im A. Testament diese zwei Kreise des menschlichen Lebens nur einer. Gott ist der König, das göttliche Gesetz ist das Zivilgesetzbuch, das Kind tritt durch die Beschneidung ebenso notwendig in die religiöse Gemeinschaft, als durch die Geburt in die bürgerliche. Dieser Stand der Dinge eignete nicht nur dem Erziehungssystem, dessen sich Gott auf jener Stufe der Vorbereitung. bediente, sondern der Gestaltung der Gesellschaft in der alten Welt überhaupt. Es gab damals gar kein Volk, das nicht seinen Nationalgott gehabt und seine religiöse Verfassung nicht mit der bürgerlichen verschmolzen hätte. Und Israel konnte als Volk inmitten der andern so organisierten Völker kein Jahr bestehen, ohne diesen Zustand mit ihnen zu teilen. Nun aber sollte es als Volk, und zwar als Volk, das nur den einen Gott verehrte, allen andern götzendienerischen Völkern gegenüber bestehen. Und diese bürgerliche und religiöse Verfassung, der jeder Einzelne sich zu unterziehen hatte, war das einzige Mittel, ein solches Volk zu schaffen und dem Werke Gottes auf Erden eine feste Grundlage zu geben. Alles, was Gott damals tun konnte, war, die spätere Umbildung dadurch vorzubereiten, dass er daran erinnert, er, der Gott Israels, sei zugleich Gott überhaupt, der Gott der Heiden, Aller Gott.

Auch die Rachepsalmen erklären sich nur durch diese Einheit des Nationalen und Religiösen, die der alttestamentlichen Vorstufe eignete. Sie wären ja unvereinbar mit der Liebe, wie auch das A. Testament sie lehrte, wenn nicht die Feinde Israels die in diesen Psalmen verflucht werden, zugleich als Feinde Gottes selbst angesehen würden. Wo es sich nur um Persönliches handelte, wie hat doch David wiederholt seinen Verfolger Saul verschont, und welche Langmut übte er gegen den frechen Simei.

Das ist das Gesetz Mosis. Ist es nicht ebenso menschlich als gerecht? Vielleicht ist das nicht die Vorstellung, die sich der Leser davon machte. Aber kann man leugnen, dass in demselben der größtmögliche Fortschritt für Israel schon fünfzehn Jahrhunderte vor Christo gegeben war? Und wenn dieses Gesetz sich über alle Völker hätte ausbreiten können, welch ein Fortschritt für die ganze Welt wäre das gewesen!

Man wendet dagegen gewisse gesetzliche Vorschriften ein, deren Lesen ein wahres Ärgernis gäbe; außerdem die Menge der vorgeschriebenen blutigen Opfer, und die im Gesetz erlaubte Vielweiberei und Ehescheidung.

Nun bedenke man aber, dass sich die Juden in einem Lande niederließen, dessen ursprüngliche Einwohner allen Ruchlosigkeiten ergeben waren und dessen Nachbarn kaum besser waren. Es hätte nichts genützt, es wäre vielleicht gefährlich gewesen, wenn man nicht offen von vielen Dingen gesprochen hätte. Das Zivil- und besonders das Kriminalgesetzbuch müssen auch von den Dingen sprechen, die für das sittliche Gefühl anstößig sind. Sind diese Stücke des Gesetzbuchs deshalb unsittlich? Nein, denn die erwähnten anstößigen Dinge werden nur aufgezählt, um als Freveltaten bezeichnet zu werden. wenn ein Gesetzesbuch diesen Zweck mit beharrlicher Treue verfolgt, so das mosaische, dessen Schlusssatz immer wieder ist: Ich bin der Herr; seid heilig, denn ich bin heilig.

Was die blutigen Opfer betrifft, so beachte man vorerst, dass es nur Tieropfer waren; bei den Nachbarvölkern waren Menschenopfer gebräuchlich; man denke an den Molochsdienst bei den Ammonitern; und auch bei den gebildetsten Völkern des Altertums, selbst bei den Griechen kamen solche vor. In Israel dagegen waren sie als eine der abscheulichsten Freveltaten untersagt. Man bemerke ferner wohl, dass die Tieropfer jedes Mal auf eine das Gewissen ergreifende Weise vollzogen wurden. Der schuldige Israelit musste dem Schlachtopfer, das er herzuführte, die Hand auflegen, indem er über ihm seine Sünde bekannte; und nachdem er es so als seinen Stellvertreter geweiht hatte, musste seine eigene Hand es mit dem tödlichen Streiche treffen. Was musste er bei der Vollziehung dieses Aktes empfinden? Musste nicht ein solcher Bußakt in jeder Seele, die des Abscheus vor dem Bösen irgend noch fähig war, eine unauslöschliche Furche zurücklassen?

Die Ehescheidung ist freilich im Gesetz nicht untersagt, aber sie ist durch den Scheidebrief, den der Ehemann der Frau bei ihrer Entlassung zu geben verpflichtet war, beschränkt. Das war schon viel für die damaligen Sitten, und wie Christus ausdrücklich erklärt, es war Alles, was Moses tun konnte. Moses, sagte er den Pharisäern, hat euch erlaubt von euern Weibern zu scheiden um eures Herzens Härtigkeit willen; von Anbeginn aber ist es nicht also gewesen. (Matth. 19, 8.)

Dieses Wort Christi findet auch seine Anwendung auf die Fälle von Vielweiberei, die wir bei den Juden finden. Dieser Gebrauch ist durch das Gesetz weder gebilligt noch positiv verboten. Nur mit Beziehung auf den König ist gesagt, dass er nicht viele Weiber haben soll. (5. Mos. 17, 17.) Schon dieses Wort war eine Rückkehr zur ursprünglichen Ordnung, wie sie in der Tatsache gegeben ist, dass Gott im Anfang einen Mann und ein Weib schuf. Ein Teil des häuslichen Unglücks, wovon Jakob und David betroffen wurden, sowie der tiefe Fall Salomons entsprangen dieser Sünde der Vielweiberei; und die Geschichte dieser Männer ist uns im A. Testament auf eine Weise erzählt, dass kein Zweifel über die Absicht des Schriftstellers obwalten. kann: er beabsichtigt nämlich offenbar die schrecklichen Folgen dieses für den Augenblick geduldeten Missbrauchs hervorzuheben. Es ist so wahr, dass dieser Gebrauch dem Geiste der mosaischen Gesetzgebung zuwider war, dass er auch endlich ganz aufhörte, und seit der babylonischen Gefangenschaft finden wir ebenso wenig ein Beispiel von Vielweiberei, als eines von Götzendienst.

War also Gott nicht für sein Volk zugleich ein fester und ein liebevoller Erzieher? Unbestechliche Gerechtigkeit, mitleidige Liebe: diese zwei Züge suchte er in allen, auch den geringfügigsten gesellschaftlichen Verhältnissen zu Grundzügen des nationalen Charakters zu machen. Wo er auf dem Wege des Befehls etwas nicht erreichen konnte, da übte er Geduld, doch so, dass er das Ziel eines naturgemäßen Fortschrittes stets im Auge behielt. Er lehrte sie, wie ein Prophet sagt, Zeile um Zeile, Gebot um Gebot, wie es ein Vater mit seinem Kinde macht.

Dies ist das kurz zusammengefasste, aber getreue Bild der göttlichen Gesetzgebung in Israel. Findet sich nun etwas darin, das unwürdig wäre des Gottes, den wir verehren, oder unwürdig des Volkes, das er sich erwählt hatte, damit das für Alle bestimmte Heil bei ihm seinen Anfang nähme? Ich wüsste nicht wo. Und so können wir zum dritten Punkt übergehen und Gott in der Geschichte seines Volkes betrachten.

III.

Die biblische Geschichte ist das Gemälde des Verkehrs zwischen Gott und der Menschheit. Sie geht aus dem Zusammentreten von zwei wirkenden Kräften hervor: die eine, heilige ist das Verhalten Gottes gegen den Menschen, die andere, unheilige ist das Verhalten des Menschen gegen Gott. Heilig verdient die biblische Geschichte zu heißen, wenn die Heiligkeit der ersten Kraft über die Unheiligkeit der andern den Sieg davon trägt; befleckt ist sie, wenn die Unheiligkeit der zweiten Kraft über die Heiligkeit der ersten den Sieg gewinnt, oder besonders wenn wie die Gegner entschlossen behaupten die erste Kraft, Gott, in dieser Geschichte sich so weit erniedrigt, dass er an den Flecken des andern Teils mitschuldig wird.

Spielt Gott nicht vom Anfang der jüdischen Geschichte an eine seiner selbst unwürdige Rolle? Ist er nicht parteiisch, da er sich auf Kosten aller andern Völker ein Volk erwählt, das er begünstigt? Wird er dann nicht im Verlauf dieser Geschichte der Sachwalter für die Sünden seiner Auserwählten? für die Lüge bei Abraham und Jakob, für die Unreinigkeit bei Juda, Rahab, David, Salomo und so vielen anderen, für die Grausamkeit bei der Ausrottung der Kanaaniter, bei der Ermordung Sisseras, bei der Bestrafung der Kinder von Bethel? Nicht nur duldet er diese Verbrechen; zuweilen befiehlt er sie, und immer segnet er die, welche sie begehen.

Also nicht aus Gottlosigkeit behauptet man gegen den Gott des Alten Testaments zu protestieren, sondern vielmehr aus Frömmigkeit. Man will die missgestaltete Maske zerreißen, mit der das wahre Angesicht Gottes in diesem Buche bedeckt ist, um unsern Kindern den heiligen und guten Gott zu geben, den das Gewissen, die Vernunft, und - fasst man vielleicht hinzu - das Evangelium verkündigen.

Da der Gott, den wir wollen, auch der des Gewissens und der Vernunft ist und zugleich der Gott des Evangeliums, so ist unsre Aufgabe die Prüfung der Tatsachen. Es fragt sich: Ist wirklich das Verhalten Gottes, wie es uns im A. Testament geschildert wird, im Widerspruch gegen das Gewissen, gegen die gesunde Vernunft und gegen das Evangelium?

Gott erscheint dem Abraham leiblich. Ist das der gesunden Vernunft zuwider? Alles hängt von dem Ziele ab, das er erreichen will. Ist dieses Ziel das, dass die Welt gehe, wie sie eben geht, und der Mensch sich selbst nach bestem Dafürhalten regiere, dann haben diese den Patriarchen widerfahrenen Erscheinungen keinen Sinn. Ist aber das Ziel dieser göttlichen Wege die Verwirklichung der vollkommenen Einigung zwischen dem Gott der Liebe und seiner vielgeliebten Kreatur, dem Menschen, zu einer Person, dem Gottmenschen, so muss man anerkennen, dass es zur Erreichung dieses Zwecks keinen Anfang gibt, der natürlicher und vernunftgemäßer wäre als diese vorübergehenden Besuche oder Erscheinungen Gottes an die Patriarchen. Sie verwandeln sich später in jene glorreichen Gesichte, die den Propheten zu Teil wurden, und laufen endlich in die Menschwerdung des Sohnes Gottes aus, die uns das Neue Testament erzählt. Um über die Angemessenheit des ersten Schritte auf einer Reise zu urteilen, muss man den letzten kennen. Und was ich hier von den Erscheinungen Gottes im Leben der Patriarchen sage, gilt im Grunde von allen Wundern der heiligen Geschichte. Sie sind lauter Schritte auf dem Wege, der von der Berufung Abrahams zur Menschwerdung Gottes in Jesu Christo führt. Sie sind Glieder einer Kette, deren erster Ring Abraham, der letzte Christus ist. Man zerbreche diese zwei Ringe und die ganze Kette fällt auseinander, und man kann sich die Mühe ersparen, alle ihre Gelenke eins nach dem andern zu zerbrechen. Alles Wunderbare im A. Testament ist in der Menschwerdung und in der Auferstehung unsers Herrn Jesu zusammengefasst. Darum muss die Frage wegen der Wunder des A. Testaments auf diesem Boden des N. Testaments entschieden werden. Vor dem offenen Grabe Jesu Christi muss man sich vor die Wunder in Abrahams, Jakobs, Moses, Elias Leben erklären. Der Leser sieht also, dass die Frage der Wunder im Alten Testament eine viel größere Tragweite für unsern Glauben hat, als es auf den ersten Blick scheint. In der Frucht des Baumes ist der ganze Baum enthalten.

Die Frage wegen des Übernatürlichen im Alten Testament knüpft sich an eine tiefere Frage. Fährt Gott, nachdem er geschaffen hat, fort, als Erzieher und Erlöser der gefallenen Menschheit zu wirken? Ist die Geschichte des jüdischen Volks das Ergebnis seiner fortdauernden Tätigkeit, die Erscheinung Christi das von Anfang an gesetzte Ziel und seine Auferstehung der Schlussakt dieses Erlösungswerkes? In diesem Fall ist die Kette wunderbarer Wirkungen, die durch das Alte Testament hindurchgeht, vernunftgemäß. Das Warum? aller dieser Wunder ergibt sich aus ihrem Endzweck, und ihr Wie? liegt, wie das der Auferstehung, in der unbeschränkten Wirksamkeit des göttlichen Willens. Geht man aber von der Meinung aus, dass Gott, nachdem er die Welt erschaffen hat, jeder Tätigkeit in Raum und Zeit entsagt, und nur zuschaut, ohne je einzugreifen, so werden damit selbstverständlich alle Wunder geleugnet. Nur können wir diese Betrachtungsweise nicht für vernunftgemäßer als die andere halten. Im Gegenteil: der einmalige Schöpferakt bleibt dann eine vereinzelte Tatsache, eine ganz unerklärbare Ausnahme. Es besteht kein Einklang zwischen dieser schöpferischen Urwirkung und dem darauffolgenden Nichtstun. Diese einzige Ausnahme, der Schöpferakt, muss dann bei folgerichtigem Denken auch beseitigt werden und es bleibt nichts übrig, als vom Deismus zum Pantheismus herabzusteigen, der aus Gott und der Welt Eins macht und nur ein verkleideter Atheismus ist. In unsern Augen ist darum der lebendige und allmächtige Gott des Alten Testaments der einzige, der für das vernünftige Denken und für das Gewissen sich mit der Tatsache der Schöpfung vereinbaren lässt, und das Christentum mit allem Übernatürlichen, das es enthält, ist der einzige wahre Theismus.

Aber kann Gott parteiisch sein? Haben nicht alle Völker das gleiche Recht auf seine Liebe? Gewiss. Und das Alte Testament weiß es so sehr, dass es zweiunddreißig Jahrhunderte, bevor wir es ihm sagten, zu vier wiederholten Malen das Wort ausspricht: Bei Gott ist kein Ansehen der Person. (5. Mose 10, 17. 1. Sam. 16, 7. 2. Chron. 19, 7. Hiob 34, 19.) Noch mehr: Gerade weil Gott alle Völker liebt, hat er eines erwählt, um durch dasselbe seine Liebesabsichten für alle andern zu erreichen. Da ist ein Lehrer, er hat eine zahlreiche Klasse, und sucht sich aus einem seiner Schüler durch besonders auf ihn verwendete Sorgfalt einen Gehilfen heranzubilden, um mit ihm am Wohl der Andern zu arbeiten. Ist in dieser Erwählung etwas der Liebe zur ganzen Klasse Zuwiderlaufendes? Nein: denn diese Erwählung ist nur eine zeitweilige; und noch einmal nein: denn dieser erwählte Schüler ist nur ein Mittel für den Lehrer, und die ganze Klasse bleibt der Zweck. Ähnlich verhält es sich mit der Erwählung Israels. Dieses Volk ist das Werkzeug, das Gott sich bildet, um dadurch auf alle andern zu wirken. Darum lautet das erste Wort, das Gott an Abraham bei seiner Berufung richtet: In dir werden alle Geschlechter der Erde gesegnet werden. (1. Mose 12, 3.) Das Volk Israel an seine in diesem Worte so schön ausgedrückte Aufgabe für die ganze Welt zu erinnern, darin besteht hauptsächlich die Bestimmung der Propheten; und sie haben sie erfüllt bis zur babylonischen Gefangenschaft, also zu dem Zeitpunkt, wo das ganze Volk Israel unter den heidnischen Nationen zerstreut, wirklich anfing diese seine Aufgabe zu übernehmen und allen Geschlechtern der Erde zum Segen zu werden.

Wenn Gottes Unparteilichkeit aus dem zeitlichen Charakter dieses Mittels und der Allgemeinheit des Zwecks, den er immer im Auge hatte, klar wird, so leuchtet sie nicht weniger hell aus der Erziehungsmethode, die er an seinem Volk anwandte, hervor. Welche Gnadenerweisungen! aber auch in gleichem Verhältnis welche Strenge! Welch ein Joch, dieses Gesetz mit seinen zahllosen Vorschriften! Möchten wir es uns wohl gerne auflegen lassen? Welche Strafen im Fall der Untreue! Ich erinnere hier nur an die wiederholte Knechtung Israels zur Zeit der Richter, an die zwei vollständigen Niederlagen unter den Schlägen Salmanassars und Nebukadnezars, und endlich an die gegenwärtige Zerstreuung Israels, die durch Daniel und Sacharia vorausgesagt ist, sowie durch Maleachi in seinem letzten Wort, ja dem letzten des Alten Testaments überhaupt: dass ich nicht komme und das Land mit dem Banne schlage. (Dan. 9, 26. 27. Sach. 11, 1-14. Maleachi 4, 6.) Wenn das Parteilichkeit ist, so ist sie es im Sinne des Wortes: Welchen ich lieb habe, den züchtige ich.

Was endlich die Heiden betrifft, die Gott eine Zeitlang zu verlassen schien, weißt du, warum er sie ihre eigenen Wege gehen ließ? Damit sie die Erfahrung davon machten, was der Mensch sich selbst überlassen ist und also desto bereitwilliger das Heil annähmen, das ihnen zur bestimmten Zeit von Israel her dargeboten ward. Und wahrlich der Erfolg hat gezeigt, dass diese rein negative Zubereitung der Heiden für die Gründung der Kirche und die Aufrichtung des Reiches Gottes nicht weniger nützlich war als die positive Vorbereitung Israels. O welch eine Tiefe! ruft deshalb Paulus aus bei der Betrachtung dieser großen Wege Gottes in der Weltregierung. In Wahrheit, welch eine Tiefe der Liebe und Weisheit Gottes denen gegenüber, die er in der Irre lässt, um sie an dem von ihm festgesetzten Lage wieder zu finden, und dem Volk gegenüber das er unter seine Vormundschaft nimmt, um sich später seiner als des unentbehrlichen menschlichen Mittels zur Gewinnung der Andern zu bedienen.

Darauf läuft also die an dem Gotte des Alten Testaments getadelte Parteilichkeit hinaus. Aber es bleiben nun noch die besonderen Züge der biblischen Geschichte übrig, in denen, wie man vorgibt, Gott sich zum Sachwalter des Verbrechens, des Betrugs, der Blutschande, der Rachgier, des Blutvergießens macht. Wir wollen hier ruhig prüfen wie es Menschen geziemt, die wissen, dass ihre höchsten Interessen auf dem Spiele stehen. Ich denke aber, es genüge, einige der hervorragendsten Tatsachen zu beleuchten.

Zuvörderst etwas über Abraham, den Vater der Gläubigen. Als er nach dem Ausdruck der Schrift (5. Mose 26, 5. richtig übersetzt) noch ein irrender Syrer war und inmitten eines götzendienerischen Volks lebte, Sohn eines götzendienerischen Vaters, (Josua 24, 2.) ja vielleicht selbst ein Götzendiener; zu der Zeit, also lange vor seiner Berufung, hatte er Sarah, seine Stiefschwester, die Tochter seines Vaters, aber einer andern Mutter, geheiratet. Man findet bei den Persern Spuren eines derartigen Gebrauchs und man könnte versucht sein ihn durch die Heiraten, die in der ersten Menschenfamilie vorkommen mussten, zu rechtfertigen. Dem sei übrigens, wie ihm wolle, ist seine Ehe mit Sarah ein Grund, den Gott, der ihn erwählt, zum Begünstiger der Blutschande zu machen? Ich denke es nicht. Solche Verbindungen sind ja im sinaitischen Gesetz durchaus verboten. Dadurch aber, dass Gott mit einem Menschen einen Bund schließt, übernimmt er doch gewiss nicht die Verantwortlichkeit für alle Sünden, die dieser Mensch je begangen hat.

Später lässt sich Abraham zweimal zu einer Handlung der Feigheit und Lüge hinreißen, indem er in Ägypten und bei den Philistern Sarah für seine Schwester ausgibt, was sie allerdings war; es war aber nur die halbe Wahrheit, und dieselbe wurde zur Lüge, weil sie dazu dienen sollte, die andere Hälfte zu verdecken, dass sie nämlich auch seine Frau war. Nun sagt man uns, der Gott des Alten Testaments nehme diese Lüge Abrahams unter seinen Schutz, indem Abraham beide Male glücklich, ja mit Ehre und Reichtum beschenkt, aus seiner gefährlichen Lage herauskommt. (1. Mose 12, 10 usw.; 20, 1 usw.) Aber, antworten wir: In beiden Fällen nimmt offenbar der heilige Geschichtsschreiber für die zwei heidnischen Könige gegen Abraham Partei. Denn er überliefert uns die energischen Vorwürfe, welche der eine und der andere Abraham richtet, sehr ausführlich. Warum hast du mir das getan? fragt Pharao den Abraham. Warum sagtest du mir's nicht, dass sie dein Weib wäre? Abraham aber antwortet kein Wort, was doch, denk' ich, sagen will, dass er sich als schuldig bekennt. Und ebenso sagt ihm der Philisterkönig: Warum hast du uns das getan? Du hast nicht mit uns gehandelt, wie man handeln soll. Und Abraham sucht sich nicht zu rechtfertigen; nur entschuldigt er sich halb, indem er Abimelech erklärt, dass sein Vorgeben keine so vollständige Lüge war, als es auf den ersten Blick scheinen konnte. Der Held der Bibel, der Vater Israels wird also bei diesen zwei Gelegenheiten durch die zwei heidnischen Könige getadelt, und zwar werden uns durch den heiligen Schriftsteller beide Rügen recht ausführlich, man könnte fast sagen, con amore, überliefert. Man sieht nun wohl ein, wie viel oder wie wenig Abraham aus dieser Erzählung gerechtfertigt hervorgeht! Was die dem Abraham dargebotenen Geschenke betrifft, so hatten billiger Weise die zwei Könige ihre Sünden in diesem Handel auch zu büßen. So wenig es erlaubt ist Jemanden seine Frau zu nehmen, so wenig darf man ihm seine Schwester entreißen. Wenn sie sich also wegen dieser Gewalttätigkeit Abraham gegenüber eine Entschädigung auflegen, so tun sie nur was recht ist. Der Einzige, der aus dieser Geschichte rein und herrlich hervorgeht, ist Gott, der ins Mittel tritt, um seinen Erwählten aus der falschen Lage, in die er sich durch eigene Schuld begeben, zu erretten, und die zwei heidnischen und beziehungsweise unschuldigen Könige vor einem Verbrechen bewahrt.

Wenn das Verhalten Abrahams gegen Hagar hart ist, so rechtfertigt jedenfalls Gott diese Härte nicht; denn er im Gegenteil schickt seinen Engel zur Hilfe für die unglückliche Magd und ihr Kind und eröffnet diesem eine ruhmreiche Laufbahn. „Ich will deinen Samen also mehren, dass er vor großer Menge nicht soll gezählt werden.“ (1. Mose 16, 10.)

Übrigens wollte Gott allerdings die Ausschließung Hagars und Ismaels vom Hause Abrahams, weil er überhaupt eine vollständige Sonderung derjenigen Nachkommenschaft Abrahams wollte, in der alle Geschlechter der Erde sollten gesegnet werden (also Isaaks und seine Familie) von seiner übrigen Nachkommenschaft. Darum befiehlt Gott dem Abraham in Betreff Hagars der Sarah zu gehorchen. Aber er behält sich vor die Folgen dieses harten Verfahrens zu mildern und die unglückliche Magd und ihr Kind zu retten.

Es ist so verkehrt, Alles, was der Erwählte Gottes tut, auf Gottes Rechnung zu setzen, dass vielmehr der heilige Schriftsteller auf dem Höhepunkte des Lebens Abrahams das große Wort ausspricht, das zum Text der evangelischen Verkündigung geworden ist: Und Abraham glaubte, und es ward ihm gerechnet zur Gerechtigkeit. (1. Mose 15, 6.) Wenn Abraham in den Augen des Gottes des Alten Testaments gerecht gewesen wäre, so hätte es dessen nicht bedurft, dass ihm sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet würde. Wer es verstehen will, dem genügt dieses einzige Wort. Nicht als Gerechter, sondern als Gläubiger ist Abraham der Erwählte Gottes geworden. Greift man aber diese große Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben an, so werden wir auch darauf zu antworten wissen. Aber man vergesse nicht, dass diese Lehre nicht nur dem Alten, sondern ganz besonders dem Neuen Testament eigentümlich ist.

Gehen wir zu einer andern Geschichte, der der Töchter Lots über. Wird die durch dieselben begangene Blutschande wirklich irgendwie unter göttlichen Schutz genommen? Man verzeihe diese Frage; so wird eben die Sache von den Gegnern dargestellt. Aber Gott, den man bei dieser Gelegenheit zum Begünstiger der Blutschande machen will, hat ja, wie ein wenig weiter oben zu lesen ist, Sodom und Gomorrha und die andern Städte zerstört. Und warum? wegen ihres unzüchtigen Wesens; und die Erzählung der Freveltat der beiden Töchter hat keinen andern Zweck als zu zeigen, bis zu welchem Grad das Gift der Unreinigkeit selbst diese Zweiglinie der patriarchalischen Familie angesteckt hatte, weil sie die Unbesonnenheit begangen hatte, sich in solchen Städten niederzulassen. Ich sage, diese Erzählung habe keinen andern Zweck, doch ich irre mich: Die Moabiter und Ammoniter, Sprösslinge dieser gräuelhaften Verbindung, waren zugleich die nächsten Nachbarn und nach den Edomitern die nächsten Verwandten der Israeliten. Sie waren aber auch zugleich in den blutigsten Götzendienst und in Gräuel ähnlich denen von Sodom und Gomorrha versunken. Welch wirksameres Mittel konnte es geben, den Israeliten Abscheu vor jeder Vermischung mit solchen. Nachbarn einzuflößen, als ihnen die abscheuliche Tat zu erzählen, der diese Völker ihren Ursprung verdankten, und die dem ganzen folgenden Geschlecht: ein schimpfliches Brandmal aufdrückte. Die Erzählung schließt auch mit den Worten: Und die älteste gebar einen Sohn, den hieß sie Moab. Von dem kommen her die Moabiter bis auf den heutigen Tag. Und die jüngste gebar auch einen Sohn, den hieß sie das Kind Ammi. Von dem kommen die Kinder Ammons bis auf den heutigen Tag. (1. Mose 19, 37. 38.) Weht nun, frage ich, durch diese Erzählung irgendetwas von Wohlgefallen an der Blutschande oder Begünstigung derselben?

Wir kommen zu Jakob. Was ist dieser Gott Jakobs für ein Gott! Jakob betrügt auf unwürdige Weise seinen alten blinden Vater und wird gesegnet; Gott erscheint ihm im Traum auf der Himmelsleiter. Jakob betrügt seinen Schwiegervater Laban und wird reich; er kehrt mit Gütern beladen, zurück. Rahel, seine Frau, bestiehlt ihren Vater und betrügt ihn durch eine schändliche List. Darum aber ergeht es ihr nur umso besser, glorreich zieht sie in Kanaan ein.

Ja, so ist's; aber diese gleiche Geschichte hat Seiten, die man uns zu zeigen unterlässt. Jakob betrügt seinen Vater im Einverständnis mit seiner Mutter: aber in Folge dieses verbrecherischen Anschlags müssen sie sich trennen, um sich nie wieder zu sehen. Jakob muss das väterliche Haus fliehen. Er kommt zu seinem Oheim; aber das Erste, was ihm hier begegnet, ist dass er seinerseits betrogen wird. Wie? das weiß jeder Bibelleser. Aber hat derselbe auch schon an das Gesetz der Wiedervergeltung gedacht, an das schreckliche „Auge um Auge,“ das sich in dieser Geschichte verwirklicht? Jakob, der jüngere, hat sich durch das Mittel der Verkleidung an die Stelle des älteren gesetzt. Und siehe! am Tage der Hochzeit benützt Laban den großen Schleier, mit dem im Orient die Braut bedeckt ist, dazu, um die ältere, die der Bräutigam nicht mag, an die Stelle der jüngeren zu setzen, die er liebt. Welche Hand hat diesen Pfeil gespitzt? Labans Hand oder Gottes Hand? So behandelt Gott seine Vielgeliebten und so liebäugelt er mit ihren Sünden!

Dieses Mal, denkst du, ist die Schuld genügend bezahlt. Du irrst dich. Jakob, dessen Name bedeutet „Untertreter,“ fällt in seinen Naturfehler, die Hinterlist zurück. Um sich gegen die Betrügereien Labans zu schützen, betrügt er in seinem Teil auch. Aber es kommt der Zeitpunkt, da er in sein Vaterland zurückkehrt. Zwanzig Dienstjahre, zwanzig Jahre der Verbannung drücken schwer auf seinem Herzen. Seine Mutter ist während seiner Abwesenheit gestorben, aber sein alter Vater lebt noch. An den Grenzen Kanaans angelangt, vernimmt er, dass sein Bruder, der ihm den Tod geschworen, mit einer bewaffneten Schar ihm entgegen kommt. Welche Angst! Er ist in seiner Gewalt. Wo soll er Hilfe finden? Bei seinem Gott. Hier wartet Gott auf ihn. Wir kennen alle die Geschichte dieses nächtlichen und geheimnisvollen Kampfes. Ich trete jetzt in keine Erklärung derselben an, ich gebe nur ihren Sinn. Einsam während der Nacht betet und kämpft der Patriarch und fleht um Gnade und Hilfe. Aber er findet Gott unbeugsam. Er erfährt, dass vergessene Sünde nicht vergebene Sünde ist. Erst am Morgen durch einen letzten und höchsten Glaubensakt erlangt er von Gott Vergebung und Versicherung seiner Hilfe. Und wie segnet ihn Gott in diesem feierlichen Augenblick? Du sollst nicht mehr Jakob, d. h. Untertreter heißen, sondern Israel, Kämpfer Gottes; d. h. du sollst deinen alten Ränken absagen und fortan durch den heiligen und offenen Krieg des Gebets und des Vertrauens auf Gott den Sieg erlangen. Und verstehen wir wohl, warum diese Geschichte dem jüdischen Volk bis ins Einzelne erzählt wird? Ist nicht diesem Volk die listige Natur Jakobs angeboren? Und muss es sie nicht auch ablegen, um den Charakter Israels anzuziehen? Also noch einmal: So liebäugelt der Gott des Alten Testaments mit Lug und Trug. (1. Mose 32, 22-28.)

Aber jetzt, meint man, heiße es Ende gut, Alles gut mit Jakob. Hast du Joseph vergessen, und Josephs bunten mit dem Blute des Ziegenböckleins gefärbten Rock? dieses Kleid, mit Hilfe dessen er aufs Neue betrogen wird, und zwar durch seine eigenen Kinder, wie er einst als Sohn seinen Vater durch ein falsches Kleid betrog? Er hat seinem Vater das Herz gebrochen. Die Sühnung ist erst vollständig, wenn auch sein Vaterherz gebrochen wird. Wird man nun nach allem dem nicht versucht sein, den Gott Jakobs eher für zu streng als für zu nachsichtig zu halten?

Auch der Rahel bleibt von ihrem Diebstahl nichts außer dem bösen Gewissen darüber. Sie muss die Götzen ihres Vaters, die sie gestohlen und listig versteckt hatte, kurz darauf unter einer Eiche bei Sichem begraben. (1. Mose 35, 2-4.)

Wahrlich streng und heilig verfährt Gott mit Jakob und den Seinigen; er schützt und behütet sie freilich, doch so, dass er sie zugleich züchtigt und durch Trübsal erzieht.

Es ist daher von vorneherein ein großer Irrtum, wenn man meint, die dem Volke Israel zu Teil gewordene besondere Gnade beruhe laut der Bibel auf nichts als auf dem unwürdigen Spiel, das Rebekka und Jakob mit dem schwachen Greise trieben. Denn schon vor der Geburt der Zwillingsbrüder hatte Gott der Rebekka gesagt: „Der Größere wird dem Kleineren dienen.“ (1. Mose 25, 23.) Und Isaak wusste das gar wohl. Darum erkannte er auch, nachdem er dem Jakob den Segen gegeben, ungeachtet des Betrugs, den man ihm gespielt, die einmal vollendete Tatsache an. Er wagte nicht, sie wieder umzustoßen, weil sie, wie sie vorlag, durchaus das Gepräge einer göttlichen Leitung an sich trug. Es versteht sich von selbst, dass wenn Rebekka und Jakob auf dem Wege der Pflicht geblieben wären, Gott nichtsdestoweniger seinen Ratschluss ausgeführt und nicht zugegeben hätte, dass Isaak in einer für das Reich Gottes so wichtigen Angelegenheit sich durch seine fleischliche Vorliebe für Esau beherrschen ließ.

Überhaupt sei bemerkt, dass Gott in der heiligen Geschichte sein Werk unter der Mitwirkung des Menschen vollbringt, und darum genötigt ist, Geduld mit ihm zu haben und ihn zu nehmen wie er ist, doch so, dass er unaufhörlich an seiner Erziehung arbeitet. Wenn er den Menschen jedes Mal verwerfen wollte, wo derselbe sündigt, so müsste er sich immer wieder ein neues Werkzeug aussuchen, um es bald auch wieder zu verwerfen. Wo liefe am Ende eine solche Geschichte hinaus?

Ein neuerer Schriftsteller, der weder des Pietismus noch der Obskurantismus noch des pfäffischen Wesens verdächtig ist, Goethe, schrieb über die Patriarchen einige bemerkenswerte Seiten, woraus ich Folgendes anführe:

„Zum ersten Mal in einer so edlen Familie erscheint ein Glied, das kein Bedenken trägt, durch Klugheit und List die Vorteile zu erlangen, welche Natur und Zustände ihm versagten. Es ist oft genug bemerkt und ausgesprochen worden, dass die heiligen Schriften uns jene Erzväter und andere von Gott begünstigte Männer keineswegs als Tugendbilder aufstellen wollen. Auch sie sind Menschen von den verschiedensten Charakteren, mit mancherlei Mängeln und Gebrechen; aber eine Haupteigenschaft darf solchen Männern nach dem Herzen Gottes nicht fehlen, es ist der unerschütterliche Glaube, dass Gott sich ihrer und der Ihrigen besonders annehme.“ (Goethe, aus meinem Leben, Wahrheit und Dichtung, I. Teil, viertes Buch.)

Dieser unerschütterliche Glaube an den treuen und barmherzigen Gott, das ist das dem Patriarchen Jakob so gut als dem Abraham aufgedrückte Siegel.

Nun versteht man, warum ihn Gott ungeachtet seiner Fehler erwählt hat. Unter diesen Schlacken fand sich das edle Metall, das Gott braucht, dieser geistliche Sinn, den man Glauben nennt, ein Sinn, der dem profanen Esau fehlte.

Wir fügen hier ein Wort in Betreff Josephs bei. Die Veranstaltung, durch welche er die Ägypter ihrer Acker beraubte, um sie zu Pharaos Eigentum zu machen, sei doch, sagt man, eine harte und verwerfliche Maßregel gewesen. Aber ist ein solches Verdammungsurteil billig? Joseph kauft um das Getreide, das er den Ägyptern liefert, die Gesamtheit ihrer Äcker an. Dann gibt er sie ihnen als Lehen zurück unter der einzigen Bedingung, das sie als Zins den fünften Teil des Ertrags an Pharao abzugeben haben. Die Ägypter selbst, wie außer allem Zweifel ist, betrachteten diese Bedingung nicht als zu hart, denn sie danken ihm ja und sagen: Du erhältst uns beim Leben, lass uns nur Gnade vor dir finden. (1. Mose 47, 25). Dazu kommt aber noch eine andere Erwägung. Wenn der prächtige Kanal, auf dem das ganze Bewässerungssystem Ägyptens und damit seine Fruchtbarkeit beruht, heute noch den Namen Kanal Josephs trägt, enthält diese Tatsache nicht die Rechtfertigung unsres Angeklagten? Was auszuführen unmöglich gewesen war, so lange alle Grundstücke Privateigentum und darum geteilt waren, das war von dem Zeitpunkt an ausführbar, da der König Eigentümer des Bodens geworden war. Dieses unermessliche Nez von Kanälen, das seitdem Ägypten seine Fruchtbarkeit verschafft und dieses Land für immer gegen ähnliche Hungersnot sicher gestellt hat, ist durch diese Maßregel Josephs zu Stande gekommen, eine Maßregel, welche zudem das ägyptische Volk nicht übermäßig drückte, denn es zahlte nur den fünften Teil des Ertrags, was für ein so fruchtbares Land nicht viel ist. Heutzutage pflanzt jedes Dorf zwei Drittel seines Landes für den Pascha an und muss ihm für den Ertrag des dritten Drittels erst noch einen Zins geben. Wenn ferner ein Dorf nicht zahlen kann, so müssen die benachbarten Dörfer für dasselbe eintreten. Das ist Härte zu nennen, nicht aber Josephs Maßregel.

Die oben angeführten Worte Goethes könnten, scheint mir, auch den Anstoß wegräumen, den man an der Geschichte Rahabs nimmt. Diese Kanaaniterin von unlauterem Wandel, die ihr Vaterland verrät, indem sie durch eine Lüge die israelitischen Spione rettet, wird beim Falle Jerichos von Gott verschont. Ja, was noch mehr ist, sie nimmt in der Reihe der Ahnen Christi neben der unreinen Thamar und der strafbaren Bathseba einen Ehrenplatz ein!

Was ist darauf zu sagen? Wir haben am Beispiel Jakobs gesehen, wie Gott an seinen Kindern Vergeltung übt. Aber er übt auch in entgegengesetzter Art Vergeltung. Rahab hat zwei Kindern seines Volkes, die Zuflucht bei ihr suchten, das Leben gerettet. Wird er sie nun bei der drohenden Vernichtung der Kanaaniter umkommen lassen? Nein! Leben um Leben. Ist das nicht Gottes sehr würdig? Wäre es nicht seiner sehr unwürdig, Schuldner einer Rahab zu bleiben? Lehrt uns nicht auch das Neue Testament, dass wer im Namen des Herrn einen Becher kalten Wassers gibt, nicht werde unbelohnt bleiben?

Aber werden durch diese Geschichte Rahabs nicht Unreinigkeit und Verrat beschönigt? Nein, vielmehr ist sie ein Vorbild zu der Geschichte von dem bekehrten Schächer, der nichts zu sagen weiß, als: Gedenke mein, der aber dieses wirklich zu sagen weiß; oder ein Vorbild des bußfertigen Zöllners, der nichts, sagen kann, als: Gott, sei mir Sünder gnädig, der aber dieses wirklich sagte. Rahab erzittert bei der Kunde von den Plagen, die über Ägypten gekommen, und von dem Untergang, den Pharao im roten Meere gefunden, und merkt, dass ihrem Volk die Stunde geschlagen. Sie erkennt, dass wie sie Teil genommen hat an den Sünden ihres Volkes, sie auch verdient in sein Verderben mit hineingezogen zu werden; aber sie appelliert an die Gnade des Gottes Israels. (Josua 2, 9-13.) Und Gott sollte diese Berufung auf seine Barmherzigkeit abweisen? Nein, hier ist der Glaube, von dem Goethe spricht und der aus dem Sünder einen Gegenstand der vergebenden Gnade und des Segens macht. Dieser Glaube genügt, weil eine derartige Erschütterung des Herzens für das ganze Leben entscheidend ist und Quelle und Anfang eines neuen Lebens wird. Was würden die Gegner der Bibel sagen, unsere Schriftsteller zumal, deren Produkte fast nichts sind als eine Variation des Themas: wie eine Prostituierte wieder zu Ehren komme, was würden sie sagen, wenn Gott mit Rahab anders verfahren wäre? Sie würden nicht unterlassen, ihn der Härte anzuklagen, wie sie ihm jetzt seine Barmherzigkeit zum Vorwurf machen.

Aber noch einmal kommen wir darauf: Rahab, Thamar, Bathseba im Geschlechtsregister des Messias! Da es das Neue Testament ist, welches diesen Zug hervorhebt, könnte ich davon schweigen. Aber ich tue es nicht. Als eines Tages die Leute wie von heiligem Ekel erfüllt über unsern Herrn schrien: Er isst mit den Zöllnern und Sündern, wer sprach so? Antwort: die Pharisäer, die das Auswendige rein hielten und darüber das Inwendige vergaßen. Sie konnten ebenso wenig die weitherzige Gnade Gottes als seine strenge Heiligkeit ertragen. Sollten nun wir nicht weiter sein als sie? Sollten wir an der tiefen Erniedrigung der Person des Heilands Anstoß nehmen? Warum hat er von einer Familie geboren wollen, deren Stammbaum nicht zum Prahlen ist, sondern sehr große Sünder aufweist? Darum, weil er gekommen ist, eine Welt von Sündern, nicht von Gerechten zu retten.

Ich sprach eben von der strengen Heiligkeit Gottes; sie und sie allein erklärt die Tatsache, mit der wir uns jetzt beschäftigen wollen: die Vernichtung der Kanaaniter durch die Israeliten, und zwar auf Gottes eigenen Befehl.

Wo ein Aas ist, - Jesus sagt dies - da sammeln sich die Adler. (Luk. 17, 37.) Wenn ein Gemeinwesen bis in seine Wurzeln faul ist, so fällt es dem Gericht anheim. Denn Gott duldet das Böse nur im Blick auf die mögliche Wiederherstellung der Gefallenen. Wenn aber alle Hoffnung verloren ist, so schlägt er zu. Warum sollte dieser Baum unnützer Weise das Land hindern? (Luk. 13, 7.) Das war der damalige Stand der kanaanitischen Völkerschaften. Gott hatte ihnen durch das schreckliche Gericht Sodoms und Gomorrhas eine erste Warnung gegeben. Dann geduldet er sich. er ist gerecht billig selbst gegen die größten Sünder „Das sollst du wissen, sprach er zu Abraham, dass dein Same fremd sein wird in einem Lande, das nicht sein ist; sie sollen aber nach vier Mannesleben wieder hierher kommen; denn die Missetat der Amoriter ist noch nicht alle.“ (1. Mose 15, 13-16.) Gott maß also sozusagen das Steigen des Wassers. Er ist so billig, dass er dieses Land seinem Volk nicht übergeben wollte, bevor seine alten Einwohner sich dessen ganz unwürdig gemacht hätten, es länger zu besitzen. Darum schickt er die Familie Abrahams nach Ägypten, damit sie daselbst warten. Unterdessen aber sinken die Kanaaniter immer tiefer in ihre Laster, statt sich zu bessern. Das Übel wird unheilbar. Da lässt endlich Gott das seit langem über ihrem Haupt schwebende Schwert auf sie fallen. Und dieses Geschlecht, das so verderbt war, dass es nur noch Böses hervorbringen konnte, wird ausgerottet, wie das Geschlecht vor der Sündflut. Aus dem Munde des Richters selbst können wir den Urteilsspruch mit allen seinen Erwägungen vernehmen. Nach einer Aufzählung von verabscheuungswürdigen Verbrechen heißt es 3. Mose 18, 24. 25: In diesem Allem haben sich verunreinigt die Heiden, die ich vor euch her will ausstoßen. Und ich will ihre Missetat an ihnen heimsuchen, dass das Land seine Bewohner ausspeie. Gott leiht hier sogar dem Lande den Ekel, den er für diese unwiederbringlich verderbte Bevölkerung empfindet.

Aber warum den Arm der Israeliten gegen sie brauchen? Hieß das nicht sein Volk in der Grausamkeit üben? Gott hätte, es ist wahr, mit diesen Völkern durch ein anderes Mittel aufräumen können, durch eine Flut, durch einen Feuerregen. Aber man denke an das israelitische Opfer, wie ich es oben beschrieb: dass der Israelit auf das Haupt des Opfers seine Sünde bekannte und es dann mit eigener Hand schlachtete. Gott hätte das Opfertier durch die Hand eines andern, etwa des Priesters erwürgen lassen können. Aber welche viel mächtigere Rückwirkung müsste dieses Blut auf das Gewissen des Schuldigen ausüben, wenn er selbst es vergoss. Das war auch der tiefe Sinn bei der Ausübung des Strafgerichts an den Kanaanitern durch die Hand Israels selbst. Israel musste sich dabei sagen: Was ich ihnen tue, wird uns getan werden, wenn ich in die gleichen Sünden falle: Verunreinigt euch nicht mit den gleichen Gräueln, wie sie hatte ihnen Gott gesagt, damit das Land euch nicht ausspeie, wenn ihr es verunreinigt, wie es die Heiden ausgespien hat, die vor euch waren. Denn ich bin der Herr. (3. Mose 18, 24-30.) Diese Warnung musste durch den Umstand ganz besonders ergreifend für sie werden, dass sie die Werkzeuge eines Gerichts ähnlich dem Ihnen selbst angedrohten gewesen waren. Enthielt nicht jeder Schwertstreich, den sie in diesem Kriege den Kanaanitern versetzten, ihr eigenes Todesurteil, wenn sie je in die Fußstapfen dieser Völker traten? Und wurde hierdurch dieser Krieg für Israel nicht ein im höchsten Grade tragischer Akt, ein heiliger Krieg im wahren Sinn des Wortes?

Man könnte fragen: Warum denn auch die kleinen Kinder mit den Eltern hinschlachten? Dieses Geheimnis ist allerdings groß, aber wir begegnen ihm nicht nur im Alten Testament, sondern überall im menschlichen Leben. Sehen wir nicht alle Tage, wie der Wandel der Eltern auf das Schicksal ihrer Kinder einen guten oder schlimmen Einfluss ausübt? Man betrachte dieses arme mit Krankheit behaftete Kind. Vielleicht hat es die Trunksucht seines Vaters in diesen Zustand versetzt. Man sehe diese in Elend und Lasterhaftigkeit versunkene Familie an. Eine arbeitsscheue oder sittenlose Mutter ist vielleicht die Ursache dieses Jammers. Ja, wenn Alles mit diesem Leben aus wäre, wir wüssten in der Tat keine Lösung für dieses Rätsel. Aber Gottes Pläne gehen noch in die Zukunft.

Wir fügen ein kurzes Wort bei über einige besondere Tatsachen der Geschichte Israels. Was will man anstößiges finden am Gebete Moses auf dem Berge, während Israel in der Ebene gegen die Amalekiter kämpfte? „Dieweil Mose seine Hand emporhielt, siegte Israel; und wenn er seine Hand niederließ, siegte Amalek.“ (2. Mose 17, 11.) Hat es je bis zu der Zeit, da der Sohn Gottes betend seine Hände gen Himmel erhob, ein Schauspiel gegeben, das auf wirksamere Weise die Kraft des Gebetes zeigte, als diese Arme Moses, diese Siegeszeichen, wenn sie sich erheben, diese Zeichen der Niederlage, wenn sie sinken? Begreift nicht Jeder, dass Gott in diesem Augenblick seinem Volk, das noch wie ein Kind war, durch ein recht augenfälliges Sinnbild eine der wichtigsten Wahrheiten unvergesslich zu Gemüte führen wollte? Hier ist ein Muster von Elementarunterricht, das jeder Lehrer brauchen kann.

Dass Simson gesegnet und stark gewesen sei, bevor das Schermesser sein Haupt berührte (Richter 13, 5), aber des Segens und der Kraft verlustig gegangen, als er sein Haar verlor, endlich aufs Neue gesegnet ward, als die Haare ihm wieder gewachsen waren auch das wird als ein schwacher Punkt der alttestamentlichen Geschichte ausgebeutet. Aber man lese die Erzählung recht (Richter 13-16), und man wird sehen, dass es sich um etwas Anderes als um das Haupthaar handelt. Es handelte sich um die treue Erfüllung eines Gelübdes. Simson war durch das Nasiräatsgelübde ein Verlobter Gottes. Dieses Gelübde brechen hieß das Band brechen, wodurch ihm eine übernatürliche Kraft mitgeteilt wurde. In die Bedingungen, die das Gelübde auflegte, wieder eintreten, hieß dieses Band wieder knüpfen. Es ist augenscheinlich, dass diese ganze Geschichte zu der Erziehungsmethode gehörte, deren Gott sich in jenen rohen Zeiten bediente. Wie die Geschichte des betenden Mose die Wahrheit veranschaulichen sollte, dass der Mensch im Kampfe gegen das Böse nur durch das Gebet den Sieg erlangen kann, so ist die Geschichte Simsons ein Seitenstück dazu und soll auf handgreifliche Weise zeigen, dass die Kraft Gottes nur dem Treuen gewährt wird, vom untreuen Herzen aber sich zurückzieht. Das tragische Ende Simsons hat dieser Lehre das Siegel aufgedrückt. Bei einfachen Naturvölkern wie bei Kindern prägt sich die Wahrheit nur durch die Augen ein. So hat Gott sein Volk, da es in seinem Kindheitszustand war, durch deutliche Tatsachen, nicht durch eine abstrakte Belehrung, großgezogen bis zu der Zeit, da die Propheten eine andere Sprache mit ihm führen konnten.

In derselben Periode Israels tötet ein Weib, namens Jael, mit kaltem Blut den flüchtigen Sissera, der Schutz bei ihr sucht; und dieses Weib wird für diese unmenschliche Tat noch belobt. „Gesegnet sei Jael unter den Weibern,“ ruft die siegreiche Deborah aus. Aber man bedenke doch, dass Sissera der Führer der feindlichen Heeresmacht war, und dass er zwanzig Jahre lang Israel mit Feuer und Schwert unterdrückt hatte. Jael, von israelitischer Herkunft, (das Wort scheint im Hebräischen „Gämse“ zu bedeuten) war an einen Nomaden heidnischen Ursprungs verheiratet, und man kann sich nicht wundern, bei einer solchen Frau einen mit fanatischer Grausamkeit befleckten Patriotismus zu finden; besonders wenn man die Rohheit jener Zeit erwägt. Was den Ausspruch Deborahs, dieser Befreierin Israels, dieser alttestamentlichen Jungfrau von Orleans betrifft, so darf man nicht vergessen, dass, wenn sie Jael preist, sie es tut, um die Männer Israels zu demütigen; denn dieselben hatten sich zuerst so feige gezeigt, dass Deborah dem Richter Barak hatten sagen müssen: der Preis wird nicht dein sein, sondern der Herr wird Sissera in eines Weibes Hand geben. (Richter 4, 9.) Eben die Erfüllung dieser Weissagung durch die Hand Jaels feiert sie nun in ihrem Siegesgesang. Und gerade ihr Ausspruch über Jael bietet dem christlichen Lehrer Gelegenheit, schon den Kindern zu erklären, wie sehr die menschliche Vaterlandsliebe, selbst im Dienste des Glaubens, von dem Patriotismus sich unterscheidet, der durch den milden Einfluss des Evangeliums völlig erneuert ist; wie anders die Liebe zu seinem Volk ist, die wir in Christo sehen, da er über das Jerusalem weint, das im Begriff steht ihn zu kreuzigen; oder auch in Paulus, der von Christo verbannt sein möchte, wenn er dadurch seine Volksgenossen, die ihn an allen Orten verfolgen, retten könnte. Gut Dinge will Weile haben. Der köstliche Saft, den wir im Oktober in der Traube genießen, hat im Juli noch seine natürliche Herbheit.

Nun aber David, Salomo! Neue Steine des Anstoßes! Es ist wahr, sie sündigen, der Eine wie der Andere, und sündigen schwer. Aber vergisst man das schreckliche Wort, das der Prophet Nathan dem schuldigen David an Gottes Statt zurief: Du bist der Mann? ein Wort, das in jenem Augenblick nichts weniger bedeutet als: Du bist ein Mann des Todes. (2. Sam. 12, 7 u. 5.) Vergisst man, dass dieser Todesspruch erst zurückgenommen wird, als David aus der Tiefe seiner Seele ausruft: Ich habe gesündigt, und dass er nur zurückgenommen. wird, um in ein Todesurteil über sein Kind, die Frucht seines Ehebruches, abgeändert zu werden? Vergisst man endlich das Wort Nathans: Warum hast du das Wort des Herrn verachtet, dass du solches Übel vor seinen Augen tatest? Uria, den Hethiter hast du erschlagen mit dem Schwert, sein Weib hast du dir zum Weibe genommen, ihn aber hast du erwürgt mit dem Schwert der Kinder Ammons. Nun, so soll von deinem Hause das Schwert nicht Lassen ewiglich, darum, dass du mich verachtet und das Weib Urias, des Hethiters genommen hast, dass sie dein Weib sei. (2. Sam. 12, 9. 10.) Und soll man Davids Sündenfall lesen, ohne auch den 51. Psalm dazu zu lesen, in welchem David feierlich vor seinem ganzen Volk Buße tat und über seinen eigenen Fehltritt einen Schmerzensschrei ausstieß, der durch alle Jahrhunderte hindurch tönt? Wahrlich! die Heiligkeit Gottes tritt in dieser Geschichte so wenig zurück, dass sie vielmehr aus derselben so leuchtend als irgendwo hervorstrahlt und David selbst im Augenblick, da sie ihn aufs schärfste trifft, ihr demütig huldigt und sagt: auf dass du Recht behaltest in deinen Worten, nämlich in den Strafworten, die du über mich gesprochen, und rein bleibst in deinem Gericht. (Psalm 51, 4.)

Was die dem David vorgeworfene Grausamkeit betrifft, so könnten wir daran erinnern, dass den Ammonitern Gleiches mit Gleichem vergolten wurde. (Amos 1, 13. u. 3.) Doch bleibt die Kriegführung barbarisch. Wir fragen aber: Wird sie von Gott gebilligt? Hören wir hierüber die Worte Davids an Salomo: Mein Sohn, ich hatte es im Sinn, dem Namen des Herrn meines Gottes ein Haus zu bauen; aber das Wort des Herrn kam zu mir und sprach: Du hast viel Blut vergossen und große Kriege geführt; darum sollst du meinem Namen nicht ein Haus bauen, weil du so viel Blut auf der Erde vergossen hast vor mir. Siehe, der Sohn, der dir geboren soll werden, der wird ein ruhiger Mann sein; denn ich will ihn ruhen lassen von allen seinen Feinden umher; der soll meinem Namen ein Haus bauen. (1. Chron. 23, 7-10.) Gott weist also zum Bau seines Tempels den Dienst des größten Helden seines Volks zurück, weil derselbe zu viel Kriege geführt und zu viel Blut vergossen hat. Und dieser Gott des Alten Testaments soll ein mit Blut befleckter Gott sein, dessen schreckliches Antlitz man vor den Augen der Kinder sorgfältig verbergen soll? Aber mit welchen Augen hat, wer das behauptet, das Alte Testament gelesen? Legt nicht in diesem gleichen Buche der gleiche Gott zweien seiner Propheten, dem Jesaia und dem Micha, die Worte in den Mund: die Schwerter werden in Sicheln und die Spieße in Pflugscharen verwandelt werden. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert aufheben und werden fortan nicht mehr kriegen lernen. (Jes. 2, 4; Micha 4, 3)?

Zur Zeit Davids starb Usa plötzlich, vom Herrn geschlagen, weil er die Bundeslade, die auf einem Wagen im Triumph nach Jerusalem geführt wurde und in Folge des plötzlichen Austretens der Rinder hinunter zu fallen drohte, zurückhielt. (2. Sam. 6.) Was ist das für ein Gott, sagt man, der um solcher Sache willen und in solcher Weise straft! Aber Gott hatte ja bei Todesstrafe verboten, dass irgendeine andere Person als die Priester die Bundeslade, das Sinnbild seines himmlischen Throns, berührten. Denn im alten Bunde, dessen Zweck die Erziehung des Volks war, mussten durchaus die zeremoniellen Vorschriften die gleiche Geltung haben, wie die sittlichen Gebote. Ganz Israel war Zeuge der Tat Usas gewesen; so musste es auch bei diesem feierlichen Anlasse Zeuge seines Todes werden und an einem unvergesslichen Beispiel lernen, dass Gott kein bloßer Gedanke, seine Drohungen keine leeren Worte, seine Bundeslade etwas Anderes als eine gewöhnliche Kiste sei, und dass, wenn sie Jemand selbst in guter Absicht berührt, eine Kraft von ihr ausgeht, die ihn niederschmettert.

Wir schließen hieran ein Wort über einen andern ähnlichen Vorfall. Der Prophet Elisa wird im Zehnstämmereich von einem Haufen Kinder verspottet; er flucht ihnen im Namen des Herrn. Darauf kamen zwei Bären aus dem Walde und zerrissen der Kinder zwei und vierzig. (2. Kön. 2, 23. 24.) Dieses Ereignis trug sich in Bethel, dem Hauptsitz des Götzendienstes im Zehnstämmereich zu.

Der Spott dieser Knaben gegen den Propheten des Herrn war also ein Spott gegen den Herrn selbst. Ja sie trieben ihren Spott bis zur Lästerung. Denn da sie rufen: Kahlkopf, steig auf! Kahlkopf, steig auf! so verspotten sie damit die Himmelfahrt des Elia, welche eben stattgefunden hatte, und fordern den Jünger auf, seinem Meister, wenn er könne, in den Himmel zu folgen. Die sofort sie treffende Strafe diente dazu, dem ganzen Volk Samariens ein Vorgefühl des Untergangs zu geben, dem es seine Gottlosigkeit in kurzer Zeit entgegenführte.

Salomon, noch jung, erhielt von Gott die Gabe der Weisheit, die er sich erbeten hatte, um Israel richten zu können. Ist das ein Grund, um sein ganzes Leben, seine Prachtliebe, seine Ausschweifungen, seinen Götzendienst sogar auf Gottes Rechnung zu setzen? Steht nicht ausdrücklich geschrieben: Der Herr ward zornig über Salomo? (1. Kön. 11, 9.) Und die Tatsachen bestätigen. diese Erklärung. Gott kündigt ihm durch einen. Propheten an, dass weil er so gehandelt hat, sein Königreich unter der Hand seines Sohnes werde zerrissen werden. Die Teilung des Reiches erfüllte diese Drohung und brach für immer die Macht Israels. Der Name Salomos kommt auch den Propheten nie auf die Lippen; er ist wie befleckt, während David oft von ihnen angeführt wird. Das sind doch ziemlich deutliche Zeichen eines göttlichen Verwerfungsurteils über diese innerlich ebenso unheilvolle als äußerlich glanzvolle Regierung.

Doch nun genug der Widerlegung von Anklagen, die zum mindesten aus einer unbegreiflichen Oberflächlichkeit herstammen, welche das Alte Testament in der Absicht zu durchblättern scheint, um aus jedem zufällig herausgegriffenen Satz eine Waffe gegen dasselbe zu machen. Auf den Zusammenhang wird nicht gesehen, umso mehr auf die Unwissenheit derjenigen gerechnet, zu welchen man spricht. Wir schließen mit einigen allgemeinen Bemerkungen. Gewiss, der Gottesbegriff, den uns das Alte Testament gibt, ist rein, edel, erhaben. Diesen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs hat unser Herr Jesus Christus seinen Gott genannt, und er ist es wert, auch unser Gott zu bleiben. Seine Gesetzgebung ist uns als das reine Spiegelbild seiner Heiligkeit sowohl als seiner vollkommenen Güte erschienen. Alles darin ist geeignet, ebenso sehr eine gerade und biedere als eine menschliche Gesinnung zu wecken und zu pflegen. Eben darum, welch ein Unterschied zwischen dem Zustand der heidnischen Völker zurzeit Christi und dem des Volkes Israel! Wir haben uns nicht zu schämen, in den durch dieses heilige und kräftige Walten herangebildeten Männern unsere geistlichen Ahnherren anzuerkennen. Die Geschichte Israels endlich ist darum heilig, weil wenn die Sünde darin mächtig ist, (und wie könnte es bei einem wahren Gemälde menschlicher Geschichte anders sein?) das Gericht des heiligen Gottes noch viel mächtiger ist. Die Sünde des Menschen dient jedes Mal nur dazu, dass die Heiligkeit Gottes desto mehr in die Augen springe. Man erkennt den Baum an seiner Frucht. Und was ist denn die Frucht der Geschichte des jüdischen Volkes? Diese Frucht heißt Jesus Christus. Dieser Name sagt uns, denke ich, genug über die Natur des Baumes.

Christus würde eine Huldigung nicht annehmen, die ihn auf Kosten des Gottes des Alten Bundes erheben, oder sein Wort in einen Widerspruch mit dem Wort Moses und der Propheten setzen, oder das Wunder in die nebelhaften Zeiten des Altertums verweisen wollte, um es aus seinem Leben und seinem Werk auszumerzen. Alle Zeilen des Alten Testaments, sein Gesetz, seine Weissagungen, seine Geschichte sind ebenso viele Strahlen, die sich in Christo vereinigen. Christus ist die allseitige Erfüllung des Alten Testaments. Mit diesem brechen heißt, man wolle oder wolle nicht, mit Jesu brechen. Und wenn man heute das Alten Testament aus den Reihen unserer Bücher und aus den Händen unserer Kinder verbannt, das Neue wird unfehlbar nachfolgen, wie der zweite Teil eines Buches dem ersten folgt.

Um ersetzt zu werden, wodurch? Sind unsere modernen Schriftsteller wohl dazu geeignet, uns fortan als Psalter und Propheten zu dienen? Sie sagen vielleicht die Sache nicht so ungeschminkt, wie die Bibel. Aber dafür tun sie etwas Anderes: sie titeln geschickt die Einbildungskraft durch halbverschleierte Gemälde, welche den Reiz verbrecherischer Lüste erregen. Und wozu helfen sie unser Volk heranbilden? Zu Menschen, die nichts Keusches mehr an sich haben als die Ohren. Die Hand der Bibel, darüber waltet kein Zweifel, ist rau; sie zerreißt die Schleier, sie nennt die Dinge bei ihrem Namen. Das ist ekelerregend, sagt man. Ja, sagen wir, das will die Bibel: Ekel erregen vor der Sünde.

Man vergleiche eine mit der Bibel bewaffnete Bevölkerung mit einer der Bibel beraubten. Man sehe nach England und nach Amerika. Die Heiligkeit Gottes ist dem Gewissen dieser Völker hell aufgegangen. Die Bibel ist dort in Aller Händen, und der reine freie starke Blick selbst einer jungen Tochter daselbst könnte als Zeugnis dafür dienen, dass wenn sie auch aus der Bibel das Böse kennen gelernt hat, sie doch keine Spur von Liebe zum Bösen mit aufgenommen hat. Sie kennt das Böse heiliglich; das hat die Bibel getan.

Es sei mir erlaubt, noch einmal an das Wort eines Mannes zu erinnern, den ich oben angeführt habe. Goethe, der größte moderne Schriftsteller Deutschlands, spricht sich über die Bibel so aus: „Jene große Verehrung, welche der Bibel von vielen Völkern und Geschlechtern der Erde gewidmet worden, verdankt sie ihrem inneren Wert. Sie ist nicht etwa nur ein Volksbuch, sondern das Buch der Völker. Es würde gewiss, je höher die Jahrhunderte an Bildung steigen, immer mehr zum Teil als Fundament, zum Teil als Werkzeug der Erziehung, freilich nicht von naseweisen, sondern von wahrhaft weisen Menschen genutzt werden können.“ (Geschichte der Farbenlehre, zweite Abteilung.)

Und so dürfte Buch für Buch das Buch aller Bücher dartun, dass es uns deshalb gegeben sei, damit wir uns daran, wie an einer zweiten Welt, versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen.“ (Westöstlicher Divan, Noten und Abhandlungen, im Anfang.)

Goethe hätte nicht dafür gestimmt, die Bibel aus dem Unterricht zu entfernen. Seine eigene Erfahrung spricht er mit den Worten aus: „Wenn eine stets geschäftige Einbildungskraft mich bald da bald dorthin führte, wenn das Gemisch von Fabel und Geschichte, Mythologie und Religion mich zu verwirren drohte, so flüchtete ich mich gern nach jenen morgenländischen Gegenden, ich versenkte mich in die ersten Bücher Moses und fand mich dort unter den ausgebreiteten Hirtenstämmen zugleich in der größten Einsamkeit und in der größten Gesellschaft.“ (Aus meinem Leben, Wahrheit und Dichtung, I. Th. 4tes Buch.)

Das ist das Urteil eines der hervorragendsten Männer der Neuzeit, eines Mannes, den keine besondere religiöse Vorliebe zur Bibel führte. Die Hochschätzung, die er der Schrift zollte, war bei ihm die Folge seiner sittlichen Überzeugung, seines literarischen Geschmacks und seines gesunden Menschenverstands.

Voltaire urteilte anders. Er hat gegen das Wort Gottes den ganzen Köcher seiner beißenden Spottreden geleert. Umsonst. Wird man heutiges Tags mehr Glück haben, wenn man seine zur Erde gefallenen Pfeile wieder aufhebt und aufs Neue verschießt?

Ich habe keinen Grund es zu fürchten. Der Leser auch nicht, denke ich. Möge nur die Heiligkeit der Bibel in unser Herz und in unser Leben übergehen! Möge sowohl die Erziehung unserer Jugend als die Arbeit, die wir Männer an uns vollbringen haben, diesem hohen Ziele zustreben. Das wird der sicherste Fortschritt und der Weg zur Wohlfahrt des ganzen Volkes sein.

Das walte Gott!

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