Gess, Wolfgang Friedrich - Bibelstunden über den Brief des Apostels Paulus an die Römer - Vorwort.
Durch körperliche Leiden zu meinem großen Schmerze genötigt, auf mein, mit vielen Strapazen verbundenes, Kirchenamt zu verzichten, habe ich meine Muße zunächst dazu verwendet, der Gemeinde Bibelstunden über die erste Hälfte des Römerbriefs darzubieten, in der Weise derer, welche ich über die Reden des Herrn im Johannesevangelium, Kap. 13-17 herausgegeben habe.
Der Römerbrief stellt freilich einer solchen Bearbeitung größere Schwierigkeiten in den Weg als die Reden des Herrn. Zumal seine Abschiedsreden, welche nicht zu disputierenden Juden, sondern zu den Jüngern geredet sind. Und zu diesen, nachdem sie innerlich so weit gekommen waren, als sie vor Anschauung von Jesu Sterben und Auferstandensein zu kommen vermochten. Jesus hat auch früher nur selten Beweise geführt oder in Schlussfolgerungen geredet, sondern als der Sohn Zeugnis gegeben von seinem Vater, seines Vaters Haus, von sich als dem Weg zu seinem Vater und dessen Haus. Die. Abschiedsreden tragen dieses Gepräge naturgemäß in besonderer Vollendung an sich. Da ist denn Alles aus der Ewigkeit, und doch, weil von dem Menschensohne täglich durchlebt und in hoher Einfalt ausgesprochen, für kein nach der Ewigkeit gerichtetes Auge dunkel. Man braucht nicht viel zu erklären, mehr nur darauf zu weisen, wie unergründlich tief die Wasser dieses kristallhellen Stromes dennoch sind. Auch die Anwendung auf das Leben ist nicht schwer, wenn anders der Ausleger den Durst seines eigenen Herzens und des Herzens seiner Mitmenschen nach lebendigem Wasser kennt. Im höchsten Maße gilt das Alles von Jesu priesterlichem Gebet. Welcher Jünger, ob er dem Süden oder Norden, ob er einem frühen oder späten Jahrhundert angehöre, muss nicht, wenn er liest, was Jesus für die Jünger erbittet, sofort bekennen, das sei es, was er selbst bedürfe?
Dagegen sind die Briefe des Paulus, zumal die an die Galater, Korinther, Römer der Beweise und Schlussfolgerungen voll. Ihnen zu folgen ist oft nicht leicht. Der Ausleger muss viele Erklärungen geben, ehe er zur Anwendung schreiten kann. Darlegungen des Apostels, wie die in Römer 5, 12-21; 6, 1-6; 7, 1-6; 7, 25-8, 4 kann Niemand ohne ernstes Nachdenken verstehen. Aber in der harten Schale ist ein nicht bloß süßer, sondern für die Ewigkeit nahrhafter Kern. Viele Christen haben sich daran gewöhnt, unter Erbauung Anregung des Gefühls zu verstehen. Wenn sie gerührt sind, meinen sie erbaut zu sein. Die Apostel haben einen andern Begriff von Erbauung gehabt. „Erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist,“ heißt es in Epheser 2, 20. Und Judas ermahnt in Vers 20: „erbauet euch auf euren allerheiligsten Glauben.“ Das stimmt mit Jesu Gebet „das ist das ewige Leben, dass sie dich, den Einen wahrhaftigen Gott, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen.“ Joh. 17, 3. Und mit seinem Ausspruch in 8, 32: „die Wahrheit wird euch frei machen.“
Des Paulus Wort reicht freilich nicht hinan an des Sohnes Wort. Der Sohn hat aus seinem Sohnesumgang mit dem Vater, Paulus hat aus der Versenkung seines Herzens und Geistes in das Zeugnis und die Geschichte des Sohnes geschöpft. Eben deshalb ist aber auch des Paulus Wort des Geistes voll. Dazu sind ihm noch besondere Offenbarungen gegeben worden. Nach 1 Korinth. 1, 26-28 müssen die Gemeinden, an welche Paulus seine Briefe geschrieben hat, meist aus einfachen Leuten bestanden haben; aber er vertraute beim Schreiben seiner Briefe, dass die Herzenserleuchtung denen, welche das Nachdenken nicht scheuen, das Verständnis wesentlich erleichtern werde. Das ist erfahrungsmäßig noch heute der Fall.
An mehreren Stellen des Römerbriefs wird das Verständnis leichter, sobald man von Luthers Übersetzung auf den Grundtext zurückgeht. Vor allem gilt dies von 8, 3. „Die Worte durch Sünde“, mit welchen dieser Vers in den meisten Ausgaben der Luther’schen Übersetzung schließt, haben schon manchen Bibelleser befremdet. Im Grundtexte stehen sie nicht. Sehr wichtig ist das Zurückgehen auf den Grundtext bei dem Ausspruch in 3, 24-26, welcher für die Lehre von der Versöhnung grundlegend ist. Auch 7, 25 wird erst dann recht verstanden, wenn man sich genauer an die griechischen Worte hält, diesen entsprechend statt des zweiten „ich“ setzt „ich für mich“, denn erst dann springt der Gegensatz gegen „die in Christo Jesu sind“ (8, 1) ins Auge, welcher für den Sinn wesentlich ist. Ich habe mir deshalb erlaubt, in der beigegebenen Übersetzung an einer Reihe von Stellen von Luthers Übersetzung abzuweichen. Unser großer Reformator, durch welchen wir die urkräftige Verdeutschung der Bibel empfangen haben, würde keiner Änderung zürnen, welche dem Grundtexte entspricht.
Ich hoffe, dass mein Verteilen der Auslegung in kleine Abteilungen, wodurch jeder Gedanke in seiner Besonderheit ins Licht tritt, das Verständnis zu erleichtern geeignet ist.
Was ich meinerseits von den Lesern erbitte, ist, dass sie erst des Apostels Worte drei Male, dann erst die meinigen lesen.
Wernigerode, im Oktober 1885.
W. Fr. Gess.