Gess, Wolfgang Friedrich - Bibelstunden über den Brief des Apostels Paulus an die Römer - Dritter Abschnitt. Das Thema, worüber Paulus an die Römer schreiben will 1, 16. 17.

Gess, Wolfgang Friedrich - Bibelstunden über den Brief des Apostels Paulus an die Römer - Dritter Abschnitt. Das Thema, worüber Paulus an die Römer schreiben will 1, 16. 17.

16. Denn ich schäme mich des Evangelii von Christo nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, welche selig macht Jeden, der daran glaubt, Juden zuerst und Griechen. 17. Sintemal Gerechtigkeit aus Gott darin offenbart wird aus Glauben zu Glauben, wie denn geschrieben steht: der Gerechte wird seines Glaubens leben.

1.

Nachdem der Apostel durch seinen Gruß und die Bezeugung seines Herzensinteresses für die römische Gemeinde das Seinige für freundliche Aufnahme des Briefes durch die römischen Christen getan hat, stellt er in 1, 16. 17 den Hauptpunkt hin, über welchen er zu ihnen reden will, also lautend: das Evangelium ist eine Kraft Gottes, welche selig macht Jeden, der daran glaubt … sintemal Gerechtigkeit aus Gott in ihm geoffenbart wird… Die Anfangsworte des Verses 16 „denn ich schäme mich des Evangeliums nicht“, bilden hierzu den Übergang. Sie enthalten zunächst eine weitere Begründung der in Vers 15 bezeugten Bereitwilligkeit, auch in Rom zu predigen. Die Leser konnten bei Vers. 15 denken, der Apostel stelle sich das Unternehmen, in der Welthauptstadt Christum zu verkündigen, vielleicht leichter vor, als er es hernach finden werde. Die Gottentfremdung, der Hochmut, die Spottlust seien in der Hauptstadt gar groß, man könne sich diese Schwierigkeiten in der Provinz gar nicht so vorstellen. Solchen Gedanken gegenüber deutet Paulus an, die Schwierigkeiten seien ihm wohl bekannt, auf hochmütige Geringschätzung seiner Predigt sei er gefasst, sie werde ihn aber nicht entmutigen, er wisse aus Erfahrung, was es um das Evangelium sei, dass es sei eine Kraft Gottes zur Seligkeit für Jeglichen, der daran glaubt. Und das eben ist es, was er den römischen Christen in diesem Briefe auslegen und an das Herz legen will. Nicht als dächte er, sie wissen das noch nicht; wir werden in 6, 17 hören, dass man damals in der römischen Gemeinde die richtige Lehre führte. Aber jeder erfahrene Seelsorger weiß, dass diese Wahrheit, das Evangelium sei eine Kraft zum Heil, weil Gerechtigkeit aus Gott darin geoffenbart werde für Jeden der glaubt, gar nicht deutlich genug gemacht werden kann, weil sie den Vorstellungen des natürlichen Menschen stracks zuwiderläuft. Ist man doch gerade in Rom, trotz diesem Briefe des Paulus an die Römer, in den späteren Geschlechtern von dieser Grundwahrheit so völlig abgekommen, dass die römischen Bischöfe über die Reformatoren, als diese sie wieder auf den Leuchter stellten, einen Fluch um den andern ausgerufen haben. Und es liegt eine besondere Vorsehung Gottes darin, dass Paulus gerade nach Rom diese Darlegung des Weges zur Gerechtigkeit hat senden müssen, durch welche die dort eingetretene Verfälschung der Wahrheit für alle Zeiten als Verfälschung kenntlich gemacht ist.

2.

Eine Kraft ist das Evangelium, also nicht ein bloßes Lehrsystem. Lehrsysteme hat es auch bei den Heiden gegeben. Und darunter solche, für die sich ernstere Menschen höchlich interessieren mussten. In den letzten drei Jahrhunderten vor und den zwei ersten nach Christi Geburt zog besonders die Sittenlehre der stoischen Philosophen viele Wahrheitsuchende an. Diese Philosophen bezeichneten die Tugend als das große Gut, wonach die Menschen streben sollen. Die Tugend bestehe darin, dass wir das Leben nach den Geboten der Vernunft, statt nach den Antrieben der Leidenschaften, einrichten. Die Tugend gebe denen, welche sich zu ihr erhoben haben, eine solche Würde und innere Zufriedenheit, dass, was die Menge als Übel bezeichne und ängstlich fürchte, für sie wie nicht mehr vorhanden. sei. Sie fühlen zwar den Schmerz, seien aber innerlich so erhaben über ihn, dass sie ihm nicht die Ehre antun, ihn ein Übel zu nennen. Diese Lehre lautet ja sehr schön. Aber gibt sie Kraft? Wenn die großen Schmerzen kommen, die Schmerzen unheilbarer Krankheit, die Seelenschmerzen über den Ruin der Familie oder des Vaterlandes u. drgl., hat man dann einen inneren Halt durch die Rede, dass der Schmerz kein Übel sei? So wenig, dass diese Philosophen selbst gesagt haben, wenn der Schmerz gar zu groß werde, so möge man ihm durch Selbstmord ein Ende machen. Und konnte diese Lobpreisung der Tugend die Menschen mit der Kraft ausrüsten, nicht mehr den Leidenschaften, sondern der Vernunft zu folgen? So wenig als eine beredte Darlegung, wie schön die Ersteigung der Alpen sei, einem Lahmen zum wirklichen Ersteigen hilft.

Eine Kraft Gottes ist das Evangelium. Auch von Menschen kann eine Kraft ausgehen. In dem würdigen Wandel eines Vaters, in den Bitten einer treuen Mutter, liegt für die Söhne und Töchter eine Kraft, sie zu bewegen zur Nacheiferung. Aber eine auf den Grund gehende Besserung hervorzubringen, dazu reicht sie nicht. Gegenüber von den schweren Schäden stehen die Eltern bald ratlos da.

Eine Kraft Gottes zum Seligmachen, also zum ewigen Leben, ist das Evangelium. Viele hoch zu bewundernde Kräfte Gottes walten in der Natur. Welche Riesenkraft, die den Sternen Jahrtausend um Jahrtausend ihre Bahnen weist, welch zarte Kraft, die in den Kinderseelen waltet, dass ihr Liebesblick aufleuchtet zu dem Liebesblick der Elternaugen! Aber was in der Natur und im natürlichen Seelenleben gewirkt .wird, ist doch Alles nur für eine Zeit, nicht für die Ewigkeit.

3.

Das Evangelium ist aber (nach V. 17) um deswillen eine Kraft, eine Kraft Gottes, eine Kraft zum Seligmachen, „weil darin geoffenbart wird Gottes Gerechtigkeit“. Denn so lautet, wörtlich übersetzt, der Ausdruck des Apostels. Was ist unter dieser zu verstehen? Luther erzählt von sich, ehe ihm das Licht aufgegangen, habe er darunter die Eigenschaft Gottes verstanden, dass Gott das Rechte tue und alle Ungerechtigkeit strafe. Da sei er denn dem Worte „Gottes Gerechtigkeit“ über die Maßen feind gewesen, habe oftmals in seinem Herzen mit Gott gezürnt, dass er durch das Evangelium des Jammers über uns arme Menschen noch mehr mache. Denn freilich, wenn Gottes Strafgerechtigkeit durch das Evangelium geoffenbart würde, dann wäre die Sache so: durch Moses scharfe Drohung, durch Christus noch schärfere Drohung. Da gäbe es für die Sünder keinen Trost. Es könnte auch von Evangelium, das ist von froher Botschaft, gar nicht mehr die Rede sein; eine Schreckensbotschaft wäre es, die uns verkündet würde. Hernach aber, so erzählt Luther weiter, habe er erkannt, dass Paulus unter der Gerechtigkeit Gottes hier meine die vor Gott giltige Gerechtigkeit, da Gott aus Gnade und eitel Barmherzigkeit den Menschen rechtfertige. Und nun habe er alsbald gefühlt, dass er ganz neu geboren sei und eine weite, aufgesperrte Tür in das Paradies gefunden habe, und habe von nun an angefangen, das Wort „Gottes Gerechtigkeit“ als das allerliebste und tröstlichste Wort teuer und hoch zu achten. Es war der in Vers 17 von Paulus angeführte Spruch des Propheten. Habakuk „der Gerechte wird seines Glaubens leben“, woran Luther merkte, dass nicht eine Eigenschaft Gottes, sondern der Gerechtigkeitsstand des Menschen unter „Gerechtigkeit“ hier zu verstehen sei. Daraus hat er dann geschlossen, „Gottes“ sei zu Gerechtigkeit“ hinzugefügt, die Gerechtigkeit als vor Gott giltig zu bezeichnen. Dem entsprechend hat er in seiner Übersetzung des neuen Testaments in 1, 17 und sonst gesetzt sintemal darin offenbart wird die Gerechtigkeit die vor Gott gilt“. Nun lautet der Spruch nicht mehr schrecklich, sondern tröstlich. Und doch noch nicht so tröstlich, als der Apostel selbst ihn gemeint hat. Denn Paulus hat unter „Gerechtigkeit Gottes“ gemeint eine Gerechtigkeit, die aus Gott uns zukommt, von Gott uns geschenkt wird. Das ist deutlich zu sehen in 10, 3, wo er einander entgegensetzt die Gerechtigkeit Gottes“ und der Menschen eigene Gerechtigkeit“. Ist nun die eigene Gerechtigkeit die, welche wir aus unsern Lappen zusammenflicken, so ist die Gerechtigkeit Gottes die, welche Gott uns schenkt als ein neues, schönes Kleid. Dass dies der Sinn. des Paulus ist, erhellt vollends deutlich aus Phil. 3, 9, wo er statt „Gerechtigkeit Gottes“ mit ausdrücklichem Worte sagt „Gerechtigkeit aus Gott“. Also „Gerechtigkeit aus Gott“ wird nach 1, 17 im Evangelium geoffenbart, darum ist das Evangelium eine Kraft Gottes zum Seligmachen. Natürlich: wenn von Gott selbst ein Mensch gesetzt wird in den Stand der Gerechtigkeit, von Gott selbst angetan wird mit dem Gerechtigkeitskleid, wie könnte dieser seinen Platz behalten unter den Missetätern und im Tode? Vergleiche, was Jesus sagt im Gleichnis vom verlorenen Sohn: „bringt das beste Kleid hervor und tut ihn an, und gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße… lasst uns fröhlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden.“

4.

Wie wollen wir nun diese von Gott dem Menschen geschenkte Gerechtigkeit näher beschreiben und wie geht es bei deren Offenbarung im Evangelium eigentlich zu? Auf diese Frage will uns der Apostel selbst reichliche Antwort geben durch Alles, was er sagen wird von 3, 21 bis 8, 30. Vorläufig lässt sich nur Folgendes sagen, mit Benutzung der Worte vom Glauben, die Paulus in die Verse 16 und 17 einflicht, indem er in Vers 16 spricht: das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die da selig macht „Jeden, der daran glaubt“, und in 17: sintemal darin offenbart wird Gerechtigkeit aus Gott „aus Glauben zu Glauben“. Jeden Sonntag wird in tausend Kirchen das Evangelium gepredigt: erweist es sich nun an den Hörern als eine Kraft? bewirkt es in ihnen eine Veränderung? eine Veränderung zum Seligwerden? erfolgt eine Offenbarung von Gerechtigkeit? Muss man nicht in den meisten Fällen darüber klagen, dass die Leute aus der Predigt kommen, wie sie in dieselbe gegangen sind? Nun müssen wir merken auf die eben angeführten Worte vom Glauben. Aus Glauben, sagt der Apostel, werde die Gottesgerechtigkeit geoffenbart. Aus dem Glauben springe diese Gottesgabe hervor. Fährt die Predigt des Evangeliums über die Köpfe hin, oder dringt sie zwar an die Herzen heran, findet aber dieselben umschlossen mit dem Panzer der Selbstgerechtigkeit, oder mit dem Fette der Fleischlichkeit, so kommt es nicht zu einer Offenbarung von Gerechtigkeit aus Gott, so wenig als es zur Offenbarung eines Feuerfunkens kommt, wenn der Stahl mit dem Holze, statt mit dem Feuerstein zusammentrifft. Trifft aber die Predigt: „das ist das Lamm Gottes welches der Welt Sünde trägt; sein Blut ist das Blut des Bundes, für Viele vergossen zur Vergebung der Sünden; das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, machet rein von aller Sünde“ trifft diese frohe Botschaft auf ein Herz, in welchem geistliche Armut, Leidtragen über die Sünde, Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit ist, und greift dieses Herz nach dem seligen Wort und spricht: das ist's, was ich nötig habe, Gott sei gepriesen für dieses gute Wort, ach dass er es in Gnaden gelten lasse auch für mich dann, ja dann ist es, als würde das für alles Volk gepredigte Wort zu einer Stimme speziell an jenes Herz: du bist der, auf welchen Gottes Erbarmen zielt, für dich ist das selige Gut bestimmt. Und nun leuchtet ein Licht in dem Herzen auf und das Herz kann die Zuversicht fassen: meine Schuld ist vergeben, Christus ist mein, Gott nimmt mich um seinetwillen an als Kind, von nun an darf ich, will ich, muss ich ihn lieben, wie ein Kind den Vater liebt. Und zugleich spürt die Seele einen Atem des Lebens durch sich wehen, den sie zuvor nicht gekannt, ähnlich wie der Mensch, der aus dumpfer Luft in Bergluft kommt, sich neu belebt fühlt: einen heiligen Atem, vor dem die bösen Begierden fliehen. Das ist die Offenbarung der Gottesgerechtigkeit durch das Evangelium. Vielleicht hatte sich dieser Mensch schon seit Jahren angestrengt, aus seiner Ungerechtigkeit emporzudringen in die Gerechtigkeit, aus seiner Eigenliebe und Weltliebe in die Liebe zu Gott, und dadurch sein Gewissen zu stillen vor Gott, denn Gott sei doch sein Schöpfer und Richter, und Gott von ganzem Herzen zu lieben sei die Summe des Gesetzes, aber es gelang ihm immer und immer nicht, die Eigensucht war zu stark. Nun aber ist's auf einmal gekommen, wonach er sich gesehnt, nur in der umgekehrten Ordnung: zuerst die Gewissheit, Gott habe ihn, den Sünder, lieb, und dadurch die Kindeszuversicht zu Gott, dann erst, aber dann ganz kräftig, seine Liebe zu Gott. Denn es ist eben die Gerechtigkeit aus Gott, die ihm zu Teil geworden, nicht eigene Gerechtigkeit. Es war auch mit seinem Hören des Evangeliums jetzt ganz anders, als es früher war: früher hörte er und hörte doch nicht, die Worte waren nur Worte für ihn; dies Mal musste er mit tiefster Seele hören und durch die Worte hauchte der Geist von oben ihn an.

5.

Aber Paulus fügt den Worten in Vers 17 „denn Gerechtigkeit aus Gott wird im Evangelium geoffenbart aus Glauben“ noch bei „zu Glauben“. Die Meinung ist, Gott ziele bei seiner Offenbarung von Gerechtigkeit im Evangelium darauf hin, dass dem anfänglichen Glauben, da das Herz Gottes Wort erstmals und wie mit zitternder Hand ergreift, folge ein ganzes Leben im Glauben, eine stetige und stets fröhliche Zuversicht des kindlichen Ausblickens zu Gott, da man aller Vatertreue sich zu ihm versieht, auch in den schweren Tagen ihm einen Vatersinn zutraut, und Herz und Leben Gott übergibt. Man kann hier also sehen, wie hochgeachtet das Glaubensleben vor Gottes Augen ist, wenn er doch gerade darauf bei der Offenbarung der Gerechtigkeit aus ihm durch das Evangelium zielt. Dieses Glaubensleben ist, so lange wir auf Erden sind, das gottgefällige Leben, dass wir hinaufschauen zu Ihm, der herniederschaut, und uns als Kinder beweisen, wie Er sich als Vater beweist.

6.

Im Vers 16 lesen wir, was den Glauben betrifft, das Evangelium „sei eine Kraft zum Seligwerden für Jeden, der daran glaubt“. Darin liegt eine große Freundlichkeit und ein großer Ernst. Die Freundlichkeit liegt in zweierlei. Erstlich darin: glaube nur, so ist's geschehen; tue nur deine Hand auf, hier ist mein Gold, ich gebe dir's umsonst. Zum zweiten darin: du, du sollst glauben, um dich ist's Gott zu tun. Wie ein rechter Vater auf Erden für jedes seiner Kinder sein Herz voll Liebe hat, so ist es in Wahrheit bei dem, der der rechte Vater ist über Alles, was Kinder heißt, es ist ihm um jeden einzelnen Menschen zu tun. Eben darin liegt nun aber der große Ernst. Ein Ehemann, der rechte Liebe hat, kann für seine Ehefrau Vieles tun, desgleichen ein Vater für sein Kind. Welcher Sohn kann, wenn er einen reichen Geistesschatz hat, genau unterscheiden, was er von Vater und Mutter und was er selbst erworben hat? Aber zwei Gänge sind, die kann kein Gatte für den Gatten und kein Vater für sein Kind tun, das ist der Gang durch die Einsamkeit der Todesnacht vor den Richterthron Gottes und der Gang durch die enge Pforte der Wiedergeburt. Du selbst musst die Hand Gottes fassen; du musst allein sein mit dem heiligen Gott, wenn die Reihe an dich kommt. Und sie wird an Jeden kommen, die Berufung zur Wiedergeburt, wie der Ruf in die jenseitige Welt.

7.

Etwas aus der Reihenfolge, die von Gott für die Berufung zum Heil getroffen worden ist, lässt der Apostel sofort an das Licht treten, indem er den Worten „für Jeden, der da glaubt“ hinzufügt „Juden zuerst und Griechen“. Den Juden sollte das Evangelium zuerst sich erweisen als Kraft Gottes zum Seligmachen. An diesem Volke hatte Gott seit anderthalb Jahrtausenden gearbeitet, es für den Glauben an das Evangelium vorzubereiten. Ein volles Jahrtausend, ehe in dem geistig hervorragendsten Volke des Altertums, dem griechischen, vereinzelten Philosophen die Erkenntnis aufging, dass die Gottheit nur Eine sein könne, ward dem Moses, und durch ihn dem Volke, nicht bloß die Einheit Gottes kundgetan, sondern dass dieser Eine Gott Jehovah sei, das heißt die ewige, wandellose Persönlichkeit, und dass Jehovah sei „ein barmherziger, gnädiger und geduldiger Gott voll Gnade und Wahrheit“. Eine lange Reihe von Propheten hat viele Menschenalter hindurch alle wichtigen Ereignisse des Volkslebens, zumal die Unglückstage, benutzt, um die Könige und das Volk auf diesen Gott voll Gnade und Wahrheit hinzuweisen. Der erschienene Heiland hat sich, obwohl seine Selbstbenennung der Sohn des Menschen“ auf seine Bestimmung für die gesamte Menschheit hinwies, gleichwohl während seiner Fleischestage auf das Volk Israel beschränkt, auch noch seinen Aposteln den Befehl gegeben, bei Israel mit der Predigt zu beginnen (Apg. 1, 8). Denn Israel sollte der Missionar für die Heiden werden. Auch Paulus wandte sich, wohin er kam, zuerst den Synagogen zu. Dennoch hat dieses Volk nur den Beweis geliefert, dass der Mensch den Rat Gottes durchkreuzen kann. Paulus kündigt schon im Römerbriefe an, durch Israels Widerstreben sei die Änderung eingetreten, dass es als Volk, erst wenn die Fülle der Heiden in das Reich Gottes eingegangen sei, den Eingang finden werde (11, 25). Dass der Apostel gleichwohl nicht unterlässt, die Worte Juden zuerst“ in 1, 16 (auch in 2, 9 ff) beizufügen, geschieht, die Heidenchristen zur wehmutsvollen Achtung der gefallenen Größe zu mahnen, etwaige jüdische Leser seines Briefes aber in Eifer zu bringen um Bewahrung ihres Erstgeburtsrechts, wenigstens für sich selbst und ihre Familien. Übrigens wiederholt sich in unserer, der Heidenchristen, Mitte das Werden der Ersten zu den Letzten nur allzu oft. Wäre es nicht das Naturgemäße, dass die erstgeborenen Brüder für ihre Geschwister, vor Allem die Eltern für die Kinder, die Führer wären zum Heil? Aber oft muss man froh sein, wenn die Zuerst berufenen den Andern nach langer Zeit folgen, vielleicht eben noch wie ein Brand aus dem Feuer gerettet werden.

8.

Nachdem wir nun einigen Einblick gewonnen haben in das, was der Apostel meint mit der Gotteskraft des Evangeliums zum Seligmachen, mit der Offenbarung von Gerechtigkeit Gottes im Evangelium, vermögen wir auch in etwas ihm nachzufühlen das ich schäme mich des Evangeliums nicht“. Und wer die reiche Ausführung, welche Paulus in 3, 21 bis 8, 30 von dem Geoffenbart sein der Gottesgerechtigkeit geben wird, recht durchdenkt, der wird ihm, warum er so getrosten Mutes war, immer noch besser nachfühlen können. Paulus hatte an sich selbst die Gotteskraft, die Offenbarung der aus Gott kommenden Gerechtigkeit erlebt. Und wie an sich selbst, so an einer Menge von Menschen, die durch seine Verkündigung zum Leben in Gott gekommen waren. Und sein Geist war zu tiefer Einsicht in die Geheimnisse Gottes gelangt. Übrigens ging dem Apostel ja noch aus einer andern Quelle ein unüberwindlicher Mut hervor: aus dem Anblick des verherrlichten Jesus, der ihm bei Damaskus zu Teil geworden. Man kann fragen, aus welchem Grunde er dieses großen Erlebnisses hier keine Erwähnung tue, da er doch daran sei, zu sagen, warum er sich des Evangeliums nicht schäme. In dem ersten Briefe an die Korinther komme er sogar zwei Male darauf zu reden (9, 1 und 15, 8), einmal auch in dem kurzen Galaterbrief (1, 15 f.). Aber die galatischen Gemeinden und die Gemeinde in Korinth waren von ihm selbst gestiftet und kannten ihn durch längeren persönlichen Umgang, die Mehrzahl der römischen Christen kannte ihn nicht. Und jenes ganz persönliche und so wunderbare Ereignis konnte nur bei Solchen mit ganzem Erfolge erwähnt werden, welche den Paulus schon kannten als einen nüchternen, durchaus glaubwürdigen Mann. Bei Solchen, die ihn noch nicht kannten, will er sich für seinen tapferen Mut zum Evangelium nur auf eine derartige Erfahrung berufen, wie sie auch den Römern offen steht. Als würde er sagen: meine Brüder in Rom, wer von euch an sich selbst die Gotteskraft des Evangeliums kräftig erlebt hat, wird mir schon zutrauen, dass ich den Mut habe, diese seligmachende Botschaft auch in der Hauptstadt des Kaiserreiches mit lauter Stimme zu verkündigen.

Wie ist es denn heutigen Tags? Sollte man nicht denken, dass jetzt schon der Blick auf die Geschichte alle Neigung, des Evangeliums sich zu schämen, tilgen müsse? Wer wollte sich einer Verkündigung schämen, aus welcher die Kultur so vieler Völker emporgewachsen? Einer Botschaft, welche jetzt in hunderten von Sprachen über die Erde, schreitet? Einer Botschaft, welche so viele Könige ich meine die Könige des Geistes durch ihren herzlichen Gehorsam als die Wahrheit besiegelt haben? Aber nicht Jeder, der sich zur Wahrheit des Evangeliums bekennt, bekennt sich zu dem Heiland, welcher des Evangeliums Mittelpunkt ist. Das Bekenntnis zum Evangelium - ich könnte auch sagen zur Orthodoxie - bedeutet: dies ist die Wahrheit, welche man der Welt verkündigen und bewahren muss. Das Bekenntnis zum Heiland aber bedeutet: dies ist der Mann, ohne welchen ich verloren bin. Dort bleibt deine Person noch aus dem Spiel; hier muss sie daran. Dieses letzteren Bekenntnisses schämen sich nur Diejenigen nicht, welche den von Paulus gewiesenen Weg gegangen sind, erlebt haben des Evangeliums seligmachende Kraft, empfangen haben die Offenbarung der Gerechtigkeit aus Gott durch das Evangelium. Es gibt Leute, welche laut beklagen, dass so vieles Volk an der Erbauung durch die Bibel vorübergeht und denen es doch eine Verlegenheit wäre, beim Lesen der Bibel zu ihrer eigenen Erbauung betroffen zu werden. Die Herzen erobernd, Leben zeugend, ist nach der Erfahrung nur jenes persönliche Bekenntnis zur Wahrheit, jenes Bekenntnis, das aus dem Erleben ihrer Gotteskraft entspringt.1)

1)
Von den Schlussworten des Verses 17, „wie geschrieben steht: der Gerechte wird seines Glaubens leben“, wird geredet werden im achten Abschnitt, Nr. 8.
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