Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Die Chronik, Esra und Nehemia.

Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Die Chronik, Esra und Nehemia.

Diese Bücher wurden vom selben Verfasser als ein zusammenhängendes Geschichtswerk entworfen, das zunächst die alte Geschichte des Volks von David bis zur Zerstörung der Stadt, sodann den Wiederaufbau Jerusalems und des Tempels und die neue Einrichtung der Gemeinde darstellte. Der letztere Abschnitt wurde bei der Anordnung der biblischen Bücher vom vorangehenden abgetrennt, weil er als der wichtigere erschien. Er ist der einzige biblische Bericht über die Wiederherstellung der Stadt, während die frühern Teile den Büchern Samuel und Könige nur ergänzend zur Seite stehen. Zugleich wurde hiedurch die Chronik in ihrem Umfang den Königsbüchern ähnlich. Beide endigten nun mit der Zerstörung Jerusalems und dem Exil. Aber der letzte Satz der Chronik ist unvollendet und seine Fortsetzung steht im Anfang Esra's. Dazu stimmt die ganze Art und Sprache des Mannes, der die verschiedenen Stoffe der Bücher Esra und Nehemia ordnete, mit derjenigen des Chronisten genau überein.

Warum bearbeitete er auch die alte Geschichte noch einmal? In der neuen Gemeinde des wiederaufgebauten Jerusalem war vieles anders geworden als vorher. Der König, die alten Stammesverbände, die Abgeschlossenheit gegen die andern Völker, mit einem Wort: die natürliche volkstümliche Seite am alten Israel war nicht mehr herstellbar. Nur das inwendige Eigentum Israels war unverlierbar: Gottes Wahrheit und Gesetz, Gottes Dienst und Anbetung. Diese innerlichen, geistigen Kräfte brachten das neue Israel hervor. Um Gottes willen zog man nach Jerusalem zurück, und um ihm zu dienen, hielt man als ein verbundenes Gemeinwesen zusammen. Dasselbe glich schon mehr einer „Kirche“ als einem „Staat“. Damit wurde auch der Blick auf die alte Geschichte neu. Sie bekam für die späteren eine andere Gestalt. Der Chronist hebt aus derselben das hervor, was ihm für das spätere Jerusalem besonders wichtig und bedeutsam war.

Vom alten Volk Israel war nur Jerusalem übrig geblieben. An die Stelle des heiligen Landes war die heilige Stadt getreten. Darum beschränkt der Chronist seine Erzählung auf Jerusalem, und beginnt sie erst damit, wie David nach Sauls Tod zum Könige gesalbt wurde. Denn Jerusalem ist Davids Stadt. Er hat sie erobert und zum Sitz seines Königtums gemacht. Dann begleitet die Erzählung die Reihe der Könige Jerusalems bis zum Exil, während sie die Könige Israels beiseite läßt. Diese sind das wilde, nebenausgewachsene Schoß, das ohne Frucht geblieben ist. Aber auch die Propheten Israels werden nicht in die Erzählung hineingenommen. Elia wird in der Chronik nur da erwähnt, wo er sein Wort an einen König Jerusalems richtete.

Jerusalem war die heilige Stadt des Tempels wegen. Der Tempel war das Herz der Gemeinde in ihrer neuen Gestalt. Gott mit Gebet und Sabbat ehren und in Gerechtigkeit und Güte sein Gebot an den Menschen ausrichten, das konnte man auch unter den Heiden. Aber zum Tempel, Opfer und Priestertum bedurfte man die heilige Stadt. Des Tempels wegen zog man nach Jerusalem zurück und das ganze Leben daselbst erhielt priesterliche Art. Das prägt sich auch in der Geschichtserzählung der Chronik aus. Sie gibt vorwiegend Tempel- und Priestergeschichten. Keine Stiftung Davids ist ihr so wichtig als seine Ordnung der levitischen Geschlechter und ihre Heranziehung zum Gesang und zur Musik beim Opferdienst.

Warum sind aber Tempel, Opfer und Priesterdienst so wichtig und unentbehrlich? Des Gesetzes wegen. Das Gesetz fordert sie und das Gesetz muß erfüllt werden. Das war die Hauptwirkung, die das Untergehen und Wiederaufstehen des Volks hervorgebracht hat: nun entstand ein starker Eifer für das Gesetz. An seinen Verschuldungen war Israel gefallen; deshalb ergreift es nun das göttliche Gesetz als die alleinige Wurzel seines Glückes und Bestands. Das ist auch beim Chronisten überall sichtbar. Er schaut bei allem, was er erzählt, auf das Gesetz, und hebt überall hervor, daß das große Ziel, zu dem Israel geschaffen und berufen ist, darin besteht, daß es das Gesetz erfülle.

Der gesetzliche Eifer des Chronisten zeigt sich auch in der Weise, wie er alle Erlebnisse des Volks und der Könige mit dem Maße der richterlichen Gerechtigkeit Gottes mißt und erklärt. Zu jedem Unglück, das über die Stadt und den König kommt, sucht er die Schuld, für die jenes die Strafe ist. Die Lehre, die für ihn in der Vergangenheit des Volks enthalten ist und die er möglichst sichtbar machen will, besteht darin, daß jede Abweichung vom Gesetz unfehlbar ins Unglück führt.

Man hat die Art des Chronisten neben den ältern Büchern arm und äußerlich genannt, und sicherlich ist der Dienst unter dem Gesetz, dem er mit dem ganzen Israel seiner Zeit untergeben ist, der Kraft, Fülle und Freiheit des prophetischen Verkehrs mit Gott nicht gleich zu stellen. Es kommt ein ängstlicher, peinlicher Zug in die Frömmigkeit hinein. Es hat seine innern Gründe, wenn der Chronist stillschweigend an Davids und Salomos Fall vorübergeht und nicht gern von den Sünden der heiligen Männer spricht. Vom Gesetz aus teilen sich die Menschen in zwei Klassen: dort stehen die Sünder, hier die Gerechten, und wenn auch diese fallen und zu Sündern werden, so stellt sich das als eine bedrückende, verwirrende Erscheinung dar; und sie ist dies allerdings, bis über dem Gesetz die freie Macht der göttlichen Gnade ergriffen ist. Auch die Unbefangenheit, mit der die Alten den natürlichen Trieben und Empfindungen der Seele Raum und Ausdruck gaben, ist dieser späteren Zeit verschlossen. Der Chronist freut sich dann an den Siegen Israels, wenn sie ihm ohne Kampf bloß als Erhörung seines Gebetes zufallen. Ein Sieg durch mutigen Kampf mit starken Schlägen hat für ihn keine Bedeutung mehr. Nur dürfen wir hiebei nicht übersehen: der Weg unter dem Gesetz hindurch war der von Gott geordnete Gang Israels. Es wurde damit freilich sein natürliches Leben zunächst beschnitten und verengt, dies aber dazu, damit ein höheres und besseres komme. Denn man kommt nicht über das Gesetz empor, man trete denn zuerst mit ganzem Willen in dasselbe ein. Darum sind diese nachexilischen Bücher mit ihrer gesetzlichen Haltung der Bibel nicht widerwärtig, sondern gehören auch in ihrem Teil zur Grundlegung des Evangeliums und zu den Vorbedingungen des neuen Testaments.

Diejenigen Geschichten der Bücher Samuel und Könige, welche der Chronist wiedererzählt, pflegt er wörtlich aufzunehmen. Die Abweichungen rühren teils von Störungen und Fehlern in den Abschriften her; teils entstehen sie daraus, daß der Chronist die ältern Angaben zu erläutern und zu verdeutlichen sucht, wobei er öfter übersieht, daß das Gesetz im alten Jerusalem noch nicht in derselben Weise regiert hat wie im neuen. So erzählt z. B. das Königsbuch 1 K. 9,11, daß Salomo an Hiram für seine Unterstützung bei seinen Bauten ein Stück Galiläas abgetreten habe. Dem Chronisten ist es unglaublich, daß Salomo Israeliten der Herrschaft des heidnischen Königs unterworfen haben sollte. Er sieht in der Nachricht das Umgekehrte, daß Hiram an Salomo ein Stück Land abgetreten und dieser es mit Israeliten bevölkert habe, 2 Chr. 8,2. Das Königsbuch berichtete, daß Salomo seine ägyptische Gemahlin aus der Stadt Davids in den neu erbauten Palast hinaufgebracht habe, 1 K. 9,24. Der Chronist erläutert dies so: „Denn er sprach: kein Weib soll mir im Hause Davids wohnen, da dasselbe heilig ist, da die Lade des Herrn in dasselbe kam“, 2 Chr. 8,11. Zunächst wird Salomo die Königin deshalb in den neuen Palast gebracht haben, weil dieser prächtiger war als der alte. Von Jojada erzählt das Königsbuch, daß er die königliche Leibwache gewann und mit ihr den jungen Joas schützte, 2 K. 11,4 ff. Der Chronist denkt, daß der Priester sich nicht nur an die Soldtruppen gewandt haben werde, da ihm die Leviten zu Gebote stunden. Er erzählt, daß die Männer, die mit ihren Waffen im Tempel den jungen König deckten, Leviten waren, 2 Chr. 23,2 ff. Solche Beispiele zeigen, wie es dem späteren Israel, das im Gesetz lebte, nach und nach schwer geworden ist, die alte Geschichte des Volkes unbefangen aufzufassen und zu verstehen.

Neben den Geschichtsbüchern, die auch wir noch haben, hat der Chronist noch andere Berichte vor sich gehabt, aus denen er jene ergänzen kann. Er hat sie wahrscheinlich aus einer Bearbeitung jener Chronik der Könige Israels und Judas genommen, auf die in den Königsbüchern regelmäßig hingewiesen wird.1)

1)
Neben einer Chronik der Könige Judas und Israels und einer Auslegung derselben 2 Chr. 24, 27 werden in der Chronik erwähnt: Worte Samuels des Sehers, Nathans des Propheten und Gad des Schauers, für David 1 Chr. 29, 29; Worte Nathans des Propheten, Weissagung Ahia's von Silo, Gesichte Iddo's des Sehers über Jerobeam, für Salomo 2 Chr. 9, 29; Worte Semaja's des Propheten und Iddo des Sehers für Rehabeam 2 Chr. 12, 15; Auslegung des Propheten Iddo für Abia 2 Chr. 13, 22; Worte Jehu's, des Sohnes Hanani's, die eingetragen sind ins Buch der Könige Israels, für Josaphat, 2 Chr. 20, 34; eine Schrift Jesaja's über die Geschichten Usija's, 2 Chr. 26, 22. Schwerlich sind alle diese alten Prophetenbücher noch in der persischen Zeit in Jerusalem vorhanden gewesen. Es werden das die Schriften sein, auf die das ältere Geschichtsbuch als auf seine Quellen hingewiesen hat.
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