Brenz, Johannes - Evangelienpredigten - 11. Sonntag nach Trinitatis.
1537.
Luk. 18,9-14.
Er sagte aber zu Etlichen, die sich selbst vermaßen dass sie fromm wären, und verachteten die Andern, ein solches Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten; einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand, und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie andere Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner; ich faste zwei Mal in der Woche, und gebe den Zehnten von Allem, das ich habe. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel; sondern schlug an seine Brust, und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor Jenem. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.
Obschon das Evangelium vom Pharisäer und Zöllner, das wir verlesen haben, auf den ersten Anblick zu einem großen Anstoß auf dem Wege der Gerechtigkeit zu gereichen scheint, so enthält es dennoch, wenn man es recht auslegt, den größten Nutzen zur Erlangung der wahren Gerechtigkeit. Es werden uns nämlich zwei Menschen vorgestellt, von welchen derjenige, der der angesehenste ist, für ungerecht erklärt und verdammt wird; der aber unangesehen und mit allerlei Verbrechen befleckt ist, wird für gerecht und selig erklärt. Wenn das einfältige und am Geiste schwache Leute hören, pflegen sie zu denken: was frommt es also, ein ehrbares Leben zu führen? Wohlan! lasst auch uns Arges tun, auf dass wir für gerecht gelten. Dieses Evangelium lehrt aber nicht sündigen, sondern es lehrt die wahre Art, wie man sowohl bei äußerlicher Ehrbarkeit des Lebens, als auch nach Sünden himmlische Gerechtigkeit erlangen kann; es gibt nämlich zwei Arten von Menschen, die eine ehrbar, die andere unehrbar. Das heutige Evangelium lehrt also, wie beiderlei Art wahre Gerechtigkeit und Heil erlangen kann. Denn es genügt nicht, mit äußerlicher Ehrbarkeit begabt zu sein: es hat immer viel ehrbare Leute gegeben unter den Heiden sowohl als unter den Juden; es gibt noch viele unter den Türken und unter anderen Völkern, und sie werden dennoch verdammt. Unehrbar sein und unehrbar leben bringt die ewige Verdammnis mit sich. Deshalb ist's notwendig, dass jeder von beiden, der ehrbare wie der unehrbare, die Lehre dieses Evangeliums beachte, um dadurch zur wahren Sorge für sein Heil zu gelangen.
Zuvörderst lasst uns nun den Pharisäer vornehmen und die Ehrbarkeit seines Lebens auseinandersetzen. Fürs Erste nämlich geht der Pharisäer hinauf in den Tempel, um zu beten. Das ist eine große Ehrbarkeit des Lebens, häufig den Tempel zu besuchen und zu beten und Predigten zu hören. Unehrbarkeit ist es, die öffentlichen Gebete und Predigten gering zu schätzen und indessen entweder auf dem Markte spazieren zu gehen, oder zu Hause Narrenteidinge1) zu treiben. Denn obwohl man auch zu Hause beten soll, und für einen Jeden menschliches Gesetz gegeben ist: so lernt man doch die rechte Art zu beten in der Kirche, und das menschliche Gesetz weiß nichts von dem, was zu unserem Heile gehört, sondern das muss man aus der heiligen Schrift lernen und aus dem Evangelio, das in der Kirche ausgelegt wird. Der Pharisäer ist zweitens nicht wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher. Groß ist die Unehrbarkeit des gemeinen Volkes. Rauben sie doch zuweilen fremdes Gut mit Gewalt, zuweilen mit Betrug; jene nennt man öffentliche Räuber, diese häusliche. Sie sind ungerecht, d. h. beim Kaufe und Verkaufe von Waren, denn sie lügen, treiben Narrenteidinge und schwören falsch. Daher ist das menschliche Leben voller Lügen, Betrügereien und Meineide. Sieh nur einmal die sogenannten Wochenmärkte an; wie viele Lügen, Narrenteidinge und Meineide, meinst du wohl geschehen an Einem Tage, ja nur an einem halben Tage? Gewiss unzählige. Es gibt ferner Ehebrecher, es gibt Hurer; die Jugend treibt ungestraft Hurerei. Das ist große Unehrbarkeit des Lebens, aber gemeiniglich lebt man also. Darum ist dieser Pharisäer ein ehrbarer Mann, weil er der Unehrbarkeit des großen Haufens nicht nachgeht.
Außerdem ist er nicht wie der Zöllner. Obgleich das Amt eines Zöllners an sich nicht gottlos ist, so pflegten doch die Zöllner in der Regel grausame und ungerechte Einforderer zu sein. Und gewöhnlich missbrauchen die Amtleute, obwohl ihre Ämter an sich ehrbar sind, dieselben doch häufig. Daher ist auch das Sprichwort entstanden: „Kein Amt ist so gemein, dass es nicht des Hängens wert sein sollte.“ Du hast ein Beispiel an den Amtleuten des Pharao; wo der König befohlen hatte, die Israeliten einmal zu schlagen, da taten sie es zweimal. Siehe auch den ungerechten Haushalter im Evangelio an, desgleichen den Judas Ischarioth. Das ist große Unehrbarkeit und Ungerechtigkeit. Darum ist der Pharisäer ein ehrbarer Mann, weil er nicht ist wie ein Zöllner, oder irgend ein anderer betrügerischer Amtmann. Übrigens ist es zu einem ehrbaren Leben nicht genug, nicht ungerecht und unehrbar zu sein, sondern es ist auch erforderlich, dass man das Rechte tut; man muss nicht nur nicht schlecht handeln, sondern auch gut handeln. Daher hat der Pharisäer auch dieses Stück der Ehrbarkeit vollendet. Zuerst nämlich fastet er zweimal in der Woche, beobachtet die öffentlichen und häuslichen Gewohnheiten des Fastens, wie sie im mosaischen Staate eingesetzt waren. Das ist große Ehrbarkeit, was pflegt aber jetzt zu geschehen? Für Ehrbarkeit wird es schier erklärt, an jedem Wochentage berauscht und niemals nüchtern zu sein. Was ist aber schimpflicher? Ist's nicht das Schimpflichste, dass eine Kuh mit mehr Vernunft begabt ist, als ein Mensch? Eine Kuh nämlich trinkt so, dass sie nicht nötig hat, sich zum Stalle führen zu lassen; ein Mensch aber trinkt, dass ihm weder Fuß noch Hand ihren Dienst tun, sondern dass er von zwei kräftigen Männern nach Hause geführt werden muss. Die Sache ist unerträglich und wert, mit dem Untergange des Volkes bestraft zu werden. Ehrbar ist also der Pharisäer, weil er sich der Nüchternheit befleißigt. Zur Ehrbarkeit gehört auch das, dass er den Zehnten gibt von Allem, was er besitzt, d. h. er gibt einem Jeglichen, was er dem Gesetze nach schuldig ist.
Was wollen wir also sagen? Wir sehen an dem Pharisäer alles Ehrbare, und dennoch wird er nachher durch göttliches Urteil für einen Ungerechten, Gottlosen und Verdammten erklärt. Um welche Verschuldung seinerseits? Was ich bitte dich fehlt ihm? Denn das göttliche Urteil muss ganz recht sein, welches erklärt, dass er ungerecht aus dem Tempel hinabgehe. Das eben fehlt ihm, dass er noch pharisäisch oder (wie wir sagen) papistisch ist; denn die Religion der Pharisäer und der Papisten ist eine und dieselbe. Zuerst nämlich glaubt er nicht, dass ihm seine Sünden umsonst, wegen des Samens Abrahams, aus Barmherzigkeit erlassen werden, sondern meint seine Sünden durch die Verdienste seiner Gerechtigkeit zu sühnen. Das ist große, der Verdammniswerte Gottlosigkeit; denn es ist eine Verleugnung Christi. Zweitens vermeint er das ganze Gesetz zu erfüllen durch seine ehrbaren Werke, ja sogar nicht bloß zu erfüllen, sondern auch etwas zu überbieten. Das ist gleichfalls Gottlosigkeit, die zum ewigen Verderben führt; denn das heißt aus sich selber Christum und Gott selbst machen, und was kann größer sein als diese Lästerung? Und es ist auch nichts Anderes, als die äußerste Verachtung Gottes. Überdies verachtet er nicht allein Gott, sondern auch seinen Nächsten, erkennt nicht an, dass er von Adam her von demselben Fleisch und Blut abstamme, wie andere Menschen, sondern verachtet Andere und blickt von Oben auf sie herab, hat also weder Liebe zu Gott, noch zum Nächsten, d. h. er erfüllt kein Gebot Gottes recht. Darum ist er bei der größten Ehrbarkeit der größte Taugenichts, und das geschieht wegen seiner pharisäischen Religion, die wir papistisch nennen. So weit von dem Pharisäer.
Nun wollen wir uns nach dem Zöllner umsehen; denn der Zöllner war ein großer Sünder, so dass er sich fast in nichts von einem öffentlichen Räuber unterscheidet, und bringt nichts mit sich in den Tempel als Frevel und Härten. Nichtsdestoweniger wird er durch göttliches Urteil dennoch als gerecht erklärt und geht fromm aus dem Tempel hinab. Was hat er nun getan, wodurch er so große Gerechtigkeit bei der höchsten Ungerechtigkeit erlangt hat? Er ist ein Evangelischer geworden, hat an seine Brust geschlagen und gesagt: Gott, sei mir Sünder gnädig! Was? Ist das denn so etwas Großes, dass er darum so schnell als gerecht angesehen wird? Wenn durch einen leichten Schlag des Sünders und drei oder vier Worte Gerechtigkeit erlangt werden. kann bei so großen Ungerechtigkeiten, wohlan! lasst uns fortfahren, ungerecht zu handeln, und, wenn wir es satt sind, dann wollen wir kommen und an unsere Brust schlagen mit den Worten: Gott, sei mir Sünder gnädig! Werden wir etwa alsdann gerecht sein? Gewiss, so es auf rechte Art und ernstlich geschieht, würden wir Gerechtigkeit erlangen.
So wollen wir uns den Zöllner darauf ansehen; denn er hat nicht nur an seine Brust geschlagen, und nur solche Worte geredet; sondern man muss betrachten, was unter diesen Worten verborgen ist und, was er zuvor und nachher getan hat. Zuerst nämlich hat er seine Sünden so erkannt, dass er's empfindet, er sei des ewigen Todes wert und brenne in höllischem Feuer, weshalb er es nicht wagt, seine Augen aufzuheben. Das tun die Verächter nicht, welche sich in ihren Sünden nicht wollen strafen lassen. Zweitens hat er geglaubt, Gott sei ihm wegen des Samens Abrahams gnädig, und in dieser Zuversicht betet er. Das tun die Verächter gleichfalls nicht, weil sie nicht nach Christo fragen. Endlich lässt er, durch den Glauben gerechtfertigt, von seinen alten Sünden ab, und wandelt in Gerechtigkeit; auch das tun die Verächter nicht, sondern fahren in ihren Freveln fort. Deshalb bleiben sie ungerecht, der Zöllner aber wird als gerecht betrachtet.
Da hast du das Beispiel des Pharisäers und des Zöllners, das uns vorgestellt wird, erstens, damit wir lernen, äußere Ehrbarkeit des Lebens sei nicht genug zur wahren Gerechtigkeit, sondern die himmlische sei erforderlich; zweitens, damit wir die rechte Weise lernen, wodurch wir nach unseren Ungerechtigkeiten Gerechtigkeit und Heil erlangen sollen; überdies, damit wir lernen, Niemanden gegen uns zu verachten; denn obschon wir seine Sünden gesehen haben, so haben wir doch seine Buße nicht gesehen. Endlich, damit wir von beiden erwählen, was recht ist, vom Pharisäer die Ehrbarkeit des Lebens, vom Zöllner die wahre und rechte Religion gegen Christum Jesum. Amen.