MacDuff, John R. - Bethanien - V. Die Botschaft.
Wie er geliebt hatte die Seinen, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende.
(Joh. 13,1.)
Der Bote ist am Ziel. Wie lautet seine Botschaft? „Herr, siehe, den Du lieb hast, der liegt krank.“ Keine lange Vorrede, keine weiteren Erläuterungen könnten den Charakter des sterbenden Freundes in Bethanien besser beschreiben, als die vier Worte: „den Du lieb hast.“ Mit einem Federstrich zeichnet Johannes den Herzenszustand mit solch heiliger Einfalt, dass jeder Zusatz überflüssig ist. Wir könnten auf den ersten Blick wohl an ein Missverständnis denken. Lag es nicht den Schwestern näher, dem Herrn sagen zu lassen: „Herr, den wir lieben,“ oder „der Dich liebt, ist krank.“ „Herr, den Du lieb hast“ durch diese Bezeichnung wollten sie ihn an die unendliche Tiefe der göttlichen Liebesquelle erinnern. Sie kannten und hatten erfahren die Liebe, welche den Herrn mit ihrem Bruder verband, und sie waren überzeugt, dass, wie er ihn geliebt von Anfang, so würde er ihn lieben bis zum Ende.
Ihre eigene Liebe zu Lazarus, so groß und innig sie auch war, war doch nur eine irdische, unvollkommene, vergängliche Liebe, aber seine Liebe, auf die sie sich nun beriefen, stand über allem Wechsel der Zeit, sie war ewige Liebe. Lernen wir hieraus, im Gebet nicht mit unserem eigenen Verdienst vor Gott zu kommen. Was können wir ihm anders bringen, als Schuld, die uns verdammt, aber seine Verheißungen sind alle „Ja und Amen.“ „Der Name des Herrn ist ein festes Schloss, der Gerechte läuft dahin und wird beschirmt.“ Sein Erbarmen ist der feste Grund, der unsern Anker ewig hält. Des Menschen Liebe zu Gott ist veränderlich, seine Liebe bleibt unwandelbar, sie ist wie ein Fixstern, hell klar, im Glanze sich immer gleich bleibend, ewig dauernd.
Verstehen wir die Worte der Botschaft? Kann sie auch auf uns bezogen werden? Und wenn wir sterben, kann sie als Inschrift auf unsern Grabstein gesetzt werden „Hier ruht einer, den Jesus liebte“? Glücklich die Seele, welcher die Versicherung seiner Liebe gilt. „Gott ist die Liebe“, die Engel im Himmel beugen sich vor seinem Thron und verkündigen den Ruhm seiner Liebe. Aber diese Liebe beschränkt sich nicht auf den Himmel; wir können hier auf Erden schon einen Vorschmack davon gewinnen.
Lazarus war über die Abwesenheit des Herrn betrübt, doch freute er sich in dem Bewusstsein dieser Liebe mit unaussprechlicher Freude. Die Schwestern, welche an seinem Sterbelager trauernd standen und sahen, wie sich das geheiligte Geschwisterband löste, konnten immer wieder Trost finden in dem Gedanken, dass eine noch viel heiligere Liebe ihn und sie mit dem Bruder der Brüder verband, und dies Band blieb ewig ungelöst. Und was sie in Bethanien erfahren haben, können auch unsere Erfahrungen werden. Diese sich oft so wunderbar bezeugende Liebe kennt keine Grenzen sie ist eine allmächtige, und für alle ist sie da.
Dort liegt ein armer Lazarus. Er ist seit lange ans Bett gefesselt. Er seufzt am Morgen: „Wollte Gott, es wäre Abend!“ und des Abends: „wollte Gott, es wäre Morgen.“ Doch wenn diese Liebe in seinem Herzen wohnt, so hat er ein Besitztum, welches die Reichtümer der Welt reichlich aufwiegt. Welch eine Botschaft des Trostes ist dies für die Kranken!
Wie häufig gibt es Leidende, welche jahrelang krank, von Schmerzen gepeinigt, abgemattet, müde, niedergedrückt sind, wie oft kommt der Gedanke: „Gott hat mich verlassen.“ Nein, gerade an dich denkt er, sein mitleidiges Auge ruht auf dir.
„Herr, den Du lieb hast, der liegt krank“ der Herr liebt die Kranken, und oft schlägt er sie mit Krankheit, gerade weil er sie lieb hat. Womit willst du dich trösten in den Tagen der Krankheit, wenn du nicht mehr schaffen und arbeiten kannst, ja vielleicht die heiligen Gottesdienste entbehren musst? Hoffe auf den Herrn! Denke an seine Liebe, die dich in die Krankheit hinein geliebt und durch dieselbe hindurchliebt, bis du dahin kommst, wo kein Leid und keine Krankheit mehr ist. Glaube es nur: Gerade das Anhalten dieser Prüfung ist ein Pfand seiner anhaltenden Liebe.
Vielleicht bist du auch versucht, mit Gideon zu fragen: „Wenn der Herr mit mir ist, warum. ist dies alles über mich gekommen?“ Ja, wenn Gott mich liebte, hätte er mich nicht längst geheilt? Hast du nicht bemerkt, dass es im 6. Verse heißt: „Als er nun hörte, dass er krank war, blieb er zwei Tage an dem Ort, da er war.“ Im vorigen Verse lesen wir: „Jesus hatte Martha lieb und ihre Schwester und Lazarus.“ Trotz dieser Liebe kam der Herr nicht in aller Eile seinem geliebten Freunde auf kürzestem Wege von Bethabara zur Hilfe. Ja, als er gehört, dass Lazarus krank war, zögerte er zu kommen - weil er ihn liebte!
So auch bei dir: er will dich läutern und reinigen, wie Gold in Feuer geläutert wird. Er bestimmt nicht einen Tag, sondern viele Tage, wo weder Sonne noch Sterne scheinen, er lässt Stürme kommen damit der Glaube sich bewähre und Gott verherrlicht werde.
„Er wird zwar eine Weile
Mit seinem Trost verziehn,
Und tun an seinem Teile,
Als hätt' in seinem Sinn
Er deiner sich begeben,
Und sollst du für und für
In Angst und Nöten schweben,
Als frag' er nichts nach dir.“
Wir erwarten die Hilfe auf unsere Weise. Gott hilft auf seine Weise. Lass es nur deine einzige Sorge sein, Jesus zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Was ist alle irdische, vergängliche Liebe gegen seine ewige Liebe! Ohne diese Liebe ist unser Leben ein Wandeln im Dunkeln, ohne diese Gnadensonne, welche alles erleuchtet.
In guten Tagen mögen dir irdische Dinge genügen. Wie aber, wenn's durchs finstere Tal geht, wie, wenn du, ein Lazarus, auf dem Sterbebette liegst? Was hast du dann, wenn du die himmlische Liebe entbehren musst? Wo ist dann dein Stecken und Stab? Wenn du in der Stunde der Angst keinen Heiland hast, wenn du in das Todestal eintreten musst, ohne den Erbarmer, der das Dunkel lichtet, und der deiner wartet, dich aufzunehmen ins ewige Leben. Öffne dein Herz weit deinem Heilande in guten Tagen, dann wirst du ihn auch in der Stunde der Trübsal zu finden wissen. Kommt sie denn auch unerwartet, du weißt, wohin du deine Gebete als deine Boten zu senden hast.
Ja, er wird kommen, er schläft und schlummert nicht und hört die Gebete, welche aus der Tiefe zu ihm aufsteigen. Wenn er auch zögert wie in Bethanien, so ist's nicht ohne Ursache. Die Ewigkeit wird dir's offenbaren. Alle Erinnerung an erfahrene Durchhilfe stärkt unser gläubiges Vertrauen.
„Jesus liebte Lazarus“ dies sei auch dein Trost, wenn es so über dich kommt: „mein Herr hat mich verlassen und mein Gott hat mich vergessen.“ Zögert er, so will er doch nur den Glauben der Seinigen prüfen. Lässt er den Sturm weiter toben, so will er nur, dass wir uns immer fester auf den ewigen Felsen gründen, immer tiefer in ihm wurzeln. Keine Verheißung bleibt unerfüllt. Ob er auch zögert, warte nur auf ihn! Seine gnädige Verheißung wird auch durch deine Erfahrung bestätigt: Du wirst's schon erfahren: „der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt und der Seele, die nach ihm fragt“ (Klagel. 3,25). Die Quelle seiner Liebe wird zu seiner Zeit hervorsprudeln, und das anscheinend unerhörte Gebet wird eine gnädige Antwort erhalten. Zur rechten, von ihm bestimmten Zeit werden himmlische Töne an dein Ohr dringen es ist „die Stimme deines Freundes“ (Hohelied 1,8), der dich tröstet.
Bist du in Wirklichkeit ein Kind Gottes, denke hieran in deiner Todesstunde; ob die Gebete der trauernden Deinigen für deine Genesung erhört werden oder nicht, der Gott der Liebe hat sie gehört - er wird antworten, aber auf seine Weise. Sollte gleich in Bethanien ein Lazarus nicht genesen, wie wunderbar hat doch der Herr hernach die Tränen getrocknet, und seine Herrlichkeit offenbart. Und den trauernden Seelen, welche wie Maria und Martha oft zum Grabe gehen und weinen, wird ihre Trauer in Freude verkehret, weil sie wissen: „Jesus liebte ihn.“