Murray, Andrew - Nach Jesu Bild - XVIII. In seiner Anwendung der heiligen Schrift.
Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben ist im Gesetz Mosis, in den Propheten und in den Psalmen“ (Luk. 24,44).
Was as der HErr Jesus als Mensch auf Erden vollbracht hat, war zum großen Teil die Frucht seines Gebrauchs der heiligen Schrift. In ihr fand Er den Ihm gewiesenen Weg, worauf Er gehen sollte, die Nahrung und die Kraft, die Er bedurfte, die Waffe, womit Er jeden Feind besiegen konnte. Die heilige Schrift war Ihm wahrlich unentbehrlich in seinem ganzen Leben und Leiden hienieden: von Anfang bis zum Ende war sein Leben die Erfüllung dessen, was im Buch von Ihm geschrieben stand.
Es wird kaum nötig sein, hierfür Beweise aufzuführen. Bei der Versuchung in der Wüste war es sein: „Es steht geschrieben“, womit Er den Satan überwand. In seinen Kämpfen mit den Pharisäern verwies Er dieselben beständig auf das Wort: „Was sagt die Schrift?“ „Habt ihr nicht gelesen?“ „Steht es nicht geschrieben?“ Auch im Umgang mit seinen Jüngern bewies Er ihnen stets aus der Schrift die Notwendigkeit seines Leidens und seiner Auferstehung: „Wie würde sonst die Schrift erfüllt werden?“ Und wenn Er in den letzten Stunden mit seinem Vater sprach, so war es in den Worten der Schrift, dass Er seine Klagen ausschüttete über seine Verlassenheit, und dann seinen Geist in die Hände des Vaters befahl. Alles dies hat eine tiefe Bedeutung. Er selbst war das Lebendige Wort; auf Ihm ruhte der Geist ohne Maß; wenn je Einer, so hätte Er des geschriebenen Wortes entbehren können. Aber wir sehen, dass es sein alles war, und dadurch wird es uns unwidersprechlich klar, dass das Leben Gottes in menschlicher Gestalt und das Wort Gottes in menschlicher Sprache unzertrennlich mit einander verbunden sind. Jesus hätte nicht sein und nicht tun können, was Er war und tat, hätte Er sich nicht Schritt für Schritt Leiten und stärken lassen durch das Wort Gottes.
Wir wollen zu verstehen suchen, was hier für eine Lehre zu ziehen ist. Mehr als einmal wird das Wort Gottes mit einem Samenkorn verglichen; es ist in der Tat der Samen des göttlichen Lebens. Wir wissen alle, was Same ist: es ist jene wunderbare Einrichtung, worin das Leben, das unsichtbare Wesen einer Pflanze, eines Baumes zusammengefasst und verkörpert wird, so dass es möglich wird, das Leben des Baumes anderswohin zu versetzen. Der Gebrauch des Samens ist ein zweifacher; als Frucht, z. B. als Weizenkorn, das uns das Brot gibt, essen wir ihn, und somit wird das Leben der Pflanze unsere Nahrung und unser Leben. Oder wir säen ihn aus, und dann wird das Leben der Pflanze durch das Wiederaufleben der Saat vervielfältigt. Von diesen beiden Gesichtspunkten aus betrachtet ist auch das Wort Gottes Same.
Wahres Leben ist nur in Gott zu finden; aber dies Leben kann uns nicht mitgeteilt werden, es sei denn, dass es unter einer uns bekannten, greifbaren Gestalt an uns herantrete. In dem Worte Gottes hat das unsichtbare, göttliche Leben Gestalt gewonnen, ist für uns erreichbar geworden und kann uns dadurch mitgeteilt werden. Das Leben, die Gedanken, die Empfindungen, die Kraft Gottes sind in seinem Wort verkörpert worden, daher kann nur durch dasselbe das Leben Gottes Eingang in uns finden. Sein Wort ist der Same des himmlischen Lebens.
Als Brot des Lebens essen wir es, nähren wir uns davon. Durch unser tägliches Brot erhält unser Leib die Nahrung, welche die sichtbare Natur, die Sonne und die Erde, uns im Samenkorn zubereitet haben. Durch den Genuss desselben wird es uns dermaßen einverleibt, dass es ein Teil unser selbst, ja unser Leben wird. Wenn wir uns vom Worte Gottes nähren, so gehen die Kräfte des himmlischen Lebens auf uns über und werden unser Eigentum; wir verarbeiten sie, und so werden sie ein Teil unseres Wesens, das Leben unseres Lebens.
Nehmen wir das Bild des ausgestreuten Samens, so lässt es sich ebenso gut auf das Wort Gottes anwenden. Dieselben werden in unser Herz gesät und haben eine göttliche Kraft des Wiederauflebens und der Vervielfältigung. Das darin enthaltene Leben, der göttliche Gedanke, oder die Kräfte, die einem jeglichen derselben inne wohnen, fassen Wurzel in dem gläubigen Herzen und keimen empor, so dass gerade dasjenige in uns verwirklicht wird, was im Wort ausgedrückt wurde. Die Worte Gottes sind die Samenkörner der Fülle göttlichen Lebens.
Als Mensch war der HErr Jesus gänzlich abhängig von dem Worte Gottes, Er unterwarf sich demselben vollständig. Seine Mutter machte Ihn damit vertraut und die Lehrer von Nazareth unterrichteten Ihn darin. Während der stillen Vorbereitungsjahre wurde Er durch Betrachtung und Gebet, durch Übungen des Gehorsams und des Glaubens dazu geleitet, die Schrift zu verstehen und sie sich anzueignen. Das Wort des Vaters war für den Sohn das Leben seiner Seele. Was Er in der Wüste sprach, war seine innigste, persönliche Erfahrung: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.“ Er fühlte es, dass Er nur dann leben könne, wenn das Wort Ihm das Leben des Vaters mitteilte. Sein ganzes Leben war ein Glaubensleben in der Abhängigkeit von dem Wort des Vaters. Das Wort trat für Ihn nicht an die Stelle des Vaters, sondern es war das Mittel der Lebensgemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Sein Herz und Gemüt war so sehr erfüllt mit dem Wort Gottes, dass der Heilige Geist in Ihm zu jeder Zeit das richtige Wort fand, an das Er je nach Bedürfnis anknüpfen konnte.
O Kind Gottes, möchtest du ein Mann Gottes werden, stark im Glauben, reich an Früchten zur Ehre Gottes, so werde erfüllt mit dem Worte Gottes. Wie Jesus es zu seinem Brote machte, so tue du desgleichen. Lass es reichlich in dir wohnen; dein Herz sei erfüllt damit, nähre dich davon, glaube es, gehorche ihm. Nur durch Glauben und Gehorsam kann das Wort bis in das Innerste deines Wesens dringen. Nimm es Tag für Tag an als das Wort, das aus dem Munde Gottes geht, nicht ging, sondern beständig geht als das Wort des lebendigen Gottes, der dadurch in lebendige Gemeinschaft mit seinen Kindern tritt und mit lebendiger Kraft zu ihnen spricht. Bilde du deine Gedanken über Gottes Willen, über sein Werk, über seine Absichten mit dir und der ganzen Welt, nicht nach dem, was die Kirche oder andere Christen um dich her lehren, sondern nach dem Wort des Vaters, dann wirst du, wie Jesus, alles das erfüllen können, was in der Schrift von dir geschrieben ist.
Was uns bei dem Gebrauch, den Jesus von der Schrift macht, am meisten in die Augen tritt, ist dies: Er fand sich selbst darin; Er sah darin sein eigenes Bild, und Er gab sich ganz dazu hin, das, was Er darinnen geschrieben fand, zu erfüllen. Dies gab Ihm Mut, auch unter den bittersten Leiden, dies stärkte Ihn bei der schwersten Arbeit. Überall sah Er, von Gottes eigener Hand gesetzt, den göttlichen Wegweiser: durch Leiden zur Herrlichkeit. Nur ein Gedanke beseelte Ihn: Er wollte das sein, was der Vater von Ihm voraus gesagt hatte, sein Leben sollte in allen Teilen dem Bild entsprechen, welches Er im Worte, als auf Ihn hinweisend, entworfen fand.
Auch dein Bild, o Jünger Jesu, ist in der Schrift zu finden, ein Bild davon, was der Vater aus dir machen will. Siehe einen tiefen und klaren Eindruck davon zu gewinnen, was du nach des Vaters, in seinem Worte ausgesprochenen Willen sein sollst. Hast du dies erst völlig verstanden, so ist es ganz unaussprechlich, wie dein Mut zur Überwindung jeglicher Schwierigkeit dadurch gestählt wird. Zu wissen: Es ist von Gott bestimmt; ich habe gesehen, was über mich in Gottes Wort geschrieben steht; ich habe das Bild gesehen, in welches ich nach Gottes Rat umgestaltet werden soll: dieser Gedanke erfüllt die Seele mit einem Glauben, welcher die Welt überwindet.
Der Herr Jesus fand sein eigenes Bild nicht nur in den Anordnungen, sondern hauptsächlich in den Gläubigen des alten Bundes. Moses und Aaron, Josua, David und die Propheten waren Vorbilder von Ihm. Und nun ist Er selbst das Vorbild der Gläubigen im neuen Bunde. In Ihm und in seinem Beispiel müssen wir hauptsächlich unser Bild finden.
Um in dasselbige Bild, von einer Klarheit zu der andern, durch den Geist des HErrn verklärt zu werden, müssen wir durch den Spiegel des göttlichen Wortes auf jenes Bild als auf unser eigenes schauen. Damit der Heilige Geist sein Werk in uns vollenden könne, lehrt Er uns Jesum in der Tat zu unserem Vorbild zu nehmen, und jeden Zug seines Wesens als eine Verheißung dessen, was auch wir werden können, anzublicken.
Selig ist der Christ, der dies in Wahrheit tut, der nicht allein in der Schrift Jesum, sondern in seinem heiligen Bild auch das Angeld gefunden hat, dass Er Ihm werde ähnlich gemacht werden. Selig ist der Christ, der sich vom Heiligen Geist unterweisen lässt, nicht menschlichen Gedanken über die Schrift, und was sie von den Gläubigen lehrt, Rechnung zu tragen, sondern in Einfalt das anzunehmen, was sie ihm über Gottes Gedanken in Bezug auf seine Kinder offenbart.
Kind Gottes, Jesus lebte und starb „nach der Schrift“; „nach der Schrift“ ward Er wieder auferweckt; alles, was die Schrift über sein Tun und Leiden sagte, konnte Er erfüllen, weil Er sie kannte und ihr gehorchte. Was der Vater in der Schrift verheißen hatte, Ihm sein zu wollen, das hat Er auch gehalten. O gib dich mit ungeteiltem Herzen daran, aus der Schrift das zu lernen, was Gott von dir sagt und erwartet. Lass die Schrift, worin Jesus alle Tage die Nahrung seiner Seele fand, auch deine tägliche Speise sein. Gehe jeden Tag an Gottes Wort mit der freudigen, zuversichtlichen Erwartung heran, dass das Wort durch den in dir wohnenden Heiligen Geist seine göttliche Absicht erreichen wird. Jedes Wort Gottes ist voll himmlischen Lebens und Kraft. Wenn du die Schrift so zu gebrauchen suchst, wie Jesus sie gebrauchte, so darfst du sicher sein, dass sie dir auch sein wird, was sie Ihm war. Gott hat den Plan deines Lebens in seinem Worte aufgezeichnet, und du wirst jeden Tag einen Teil desselben darin finden. Nichts kann ein Menschenkind so sehr mit Mut und Kraft erfüllen, als die Gewissheit, dass der Wille Gottes in seinem täglichen Leben zur Ausführung kommt. Gott selbst, der in der Schrift dein Bild niedergelegt hat, wird es auf sich nehmen, die Schrift an dir zu erfüllen, wenn du dich nur, gleich seinem Sohne, diesem als dem höchsten Zweck deines Lebens hingibst.
HErr, mein Gott, ich danke dir für dein köstliches Wort, jenen köstlichen Spiegel aller unsichtbaren und ewigen Wahrheiten. Ich danke dir, dass ich darin das Bild deines Sohnes habe, der da ist dein Ebenbild, und, o wunderbare Gnade, auch mein Vorbild. Ich danke dir, dass ich, indem ich auf Ihn schaue, sehen darf, was aus mir werden kann.
O mein Vater, lehre mich verstehen, welchen Segen dein Wort mir geben kann. Als dein Sohn auf Erden war, sah Er darin die Offenbarung deines Willens, und fand die Mitteilung deines Lebens und deiner Kraft, die Gemeinschaft mit dir selbst. Indem Er dein Wort annahm und sich demselben hingab, war Er imstande, deinen ganzen Ratschluss zu erfüllen. O lass dein Wort auch in mir dies alles wirken! Mache es mir jeden Tag aufs neue durch die Salbung des Heiligen Geistes zum Wort, das aus dem Munde Gottes geht, zur lebendigen Gegenwart, die mit mir redet. Lass es mich erfahren, dass du durch ein jedes deiner Worte mir etwas von deinem eigenen Leben mitteilen willst. Lehre mich, es als ein göttliches Samenkorn in meinem Herzen zu bewahren, bis es zur rechten Zeit aufkeime, und in mir das darin verborgen gewesene Leben, das ich zuerst nur als ein Gedanke erblickt, in göttlicher Kraft zur Gestaltung bringe. Lehre mich vor allem, mein Gott, in der Schrift Ihn zu finden, der da ihr Mittelpunkt und ihres Wesens Kern ist, Ihn selbst, das ewige Wort. Finde ich Ihn und mich in Ihm, als mein Wort und Vorbild, so werde ich, gleich Ihm, lernen dein Wort für meine Nahrung und mein Leben zu halten.
Ich bitte dich, o mein Gott, um diesen Segen, im Namen meines hochgelobten Herrn Jesu. Amen!