Murray, Andrew - Nach Jesu Bild - XVII. In seinem Gebetsleben.

Murray, Andrew - Nach Jesu Bild - XVII. In seinem Gebetsleben.

„Des Morgens vor Tage stand Jesus auf und ging hinaus in eine wüste Stätte, und betete daselbst“ (Mark. 1,35).

„Und Er sprach zu ihnen: „Lasst uns besonders in eine Wüste gehen und ruht ein wenig“ (Mark. 6,31).

Auch in seinem verborgenen Gebetsleben ist mein Heiland mein Vorbild. Er konnte das himmlische Leben in seiner Seele nicht bewahren, ohne sich beständig von den Menschen abzusondern, um mit seinem Vater zu verkehren. Mit dem himmlischen Leben in mir ist es nicht anders; da ist dasselbe Bedürfnis nach Absonderung von den Menschen, das Bedürfnis nach Umgang mit der Quelle des Lebens, mit dem Vater im Himmel, und zwar nicht nur während einzelner Augenblicke.

Es war im Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu, dass das Ereignis stattfand, welches die Aufmerksamkeit seiner Jünger so sehr beschäftigte, dass sie es niederschrieben. Nach einem arbeitsvollen Lage zu Kapernaum (V. 21-32) wird am Abend das Gedränge um Jesum her noch viel größer. Die ganze Stadt versammelt sich vor dem Tor; Kranke werden geheilt und Teufel ausgetrieben. Es wird spät, ehe sie zur Ruhe kommen, und bei der Menge kann nicht wohl Zeit zum stillen Gebet gefunden werden. Siehe da, wie die Jünger des andern Morgens frühe aufstehen, finden sie Jesum nicht; in der Stille der Nacht ist Er hinausgegangen, um in der Wüste eine einsame Stätte zu finden; und Er betet noch, wie sie zu Ihm kommen.

Weshalb bedurfte mein Heiland solcher Stunden des Gebets? Kannte Er nicht die Seligkeit jenes Aufblicks der Seele zu Gott, inmitten der dringendsten Arbeit? Wohnte der Vater nicht in Ihm? und war seine Gemeinschaft mit Ihm nicht eine ununterbrochene? Jawohl, dies verborgene Leben war ja sein Erbteil; aber so lange Er den Gesetzen unserer Menschheit unterworfen war, bedurfte dieses Leben beständig der Erfrischung und der Erneuerung an der Lebensquelle. Es war ein Leben der Abhängigkeit; gerade weil es gesund und kräftig war, konnte es den beständigen, direkten Umgang. mit dem Vater, mit welchem und in welchem es sein Wesen und seine Seligkeit fand, nicht entbehren.

Welch eine Lehre für jeden Christen! Zu viel Umgang mit Menschen wirkt zerstreuend, und ist für unser geistliches Leben sehr gefährlich; wir kommen dadurch unter den Einfluss des Sichtbaren und Zeitlichen. Nichts kann uns den verborgenen und direkten Umgang mit Gott ersetzen. Sogar die Arbeit im Dienst des HErrn und seiner Liebe ist ermüdend: wir können andern nicht ein Segen sein, ohne dass eine Kraft von uns geht, die von oben her erneuert werden muss. Bei der Gabe des Manna sehen wir, dass das, was vom Himmel kommt, auf Erden nicht lange gut bleibt, sondern Tag für Tag erneuert werden muss, und dies gilt heute noch. Jesus Christus selbst lehrt es uns: „Ich brauche jeden Tag Zeit, um mit meinem Vater im Verborgenen Gemeinschaft zu pflegen.“ Mein Leben ist dem seinigen ähnlich, ein Leben verborgen mit Ihm in Gott; auch es bedarf Zeit, um Tag für Tag vom Himmel her genährt zu werden. Nur vom Himmel kann Die Kraft herkommen, ein himmlisches Leben auf Erden zu führen.

Welcher Art mögen wohl die Gebete unseres HErrn in diesen einsamen Stunden gewesen sein? Könnte ich Ihn doch beten hören, damit ich lernte zu beten! Gott sei Dank, mehr denn eines seiner Gebete ist uns aufbewahrt worden, damit wir auch hierin lernen möchten, seinem heiligen Vorbild nachzufolgen. In dem hohenpriesterlichen Gebet (Joh. 17) hören wir Ihn mit dem Vater reden, als aus der tiefen Stille des Himmels; in dem Gebet von Gethsemane, nur einige Stunden später, hören wir Ihn aus der Tiefe der Not und der Finsternis zu Gott rufen. In diesen beiden Gebeten tritt uns sowohl die Höhe als die Tiefe der Gebetsgemeinschaft zwischen dem Vater und dem Sohne vor die Seele.

In beiden Gebeten sehen wir, wie Er Gott anredet. Jedesmal sagt Er: Vater! O mein Vater! In diesem einen Wort liegt das Geheimnis alles wahren Gebetes. Der HErr wusste, dass Er der Sohn sei, und dass der Vater Ihn liebe; indem Er dieses Wort sprach, versetzte Er sich in das Licht des Gnadenangesichts seines Vaters. Bei seinem Gebet war es Ihm das größte Bedürfnis, sowie der größte Segen, die volle Liebe des Vaters zu genießen. Dies sei auch bei unserem Gebet also. Es soll hauptsächlich darin bestehen, dass wir in heiliger Stille und glaubensvoller Anbetung vor Gott warten, bis Er sich uns offenbart, und uns durch seinen Geist die Gewissheit gibt, dass Er als ein liebevoller Vater auf uns blickt, und dass wir wohlgefällig sind vor Ihm. Wer sich beim Gebet nicht die Zeit nimmt, bis er mit stiller Seele und mit dem vollen Bewusstsein dessen, was in dem Worte liegt, „Abba Vater“ sagen kann, der verliert den Hauptsegen des Gebets. Im Gebete wird das Zeugnis des Geistes, dass wir Gottes Kinder sind, dass der Vater uns nahe ist und Wohlgefallen an uns hat, befestigt und gestärkt. „So uns unser Herz nicht verdammt, so haben wir eine Freudigkeit zu Gott, und was wir bitten, werden wir von Ihm nehmen, denn wir halten seine Gebote und tun, was vor Ihm gefällig ist.“

Aus beiden Gebeten geht auch hervor, was das Verlangen Jesu war: dass der Vater verklärt werde. Er spricht: „Ich habe dich verklärt; verkläre deinen Sohn, auf dass dich dein Sohn auch verkläre!“ Dies war ohne Zweifel der Geist aller seiner Gebete, die völlige Hingabe seiner selbst, um nur dem Willen und der Verherrlichung des Vaters zu leben. Was Er erbat, hatte nur das eine Ziel, „dass Gott verherrlicht werde.“ Auch hierin ist Er mein Vorbild. Es muss mir ein Anliegen sein, dass jedes meiner Gebete von dem Sinne getragen werde: Vater, segne dein Kind, verherrliche deine Gnade an mir, damit dein Kind dich wiederum verherrliche. Im ganzen Weltall muss alles Gottes Herrlichkeit verkündigen. Ein von diesem Gedanken beseelter Geist, der denselben auch im Gebete zum Ausdruck bringt, bis dass er völlig davon durchdrungen ist, wird eine wahre Gebetsmacht empfangen. Unser HErr sagt ferner: Was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, auf dass der Vater geehrt werde in dem Sohne“, und deutet damit an, dass auch jetzt, da Er erhöht ist zur Rechten Gottes, die Verherrlichung des Vaters sein Ziel ist. O meine Seele, lerne von deinem Heiland, ehe du deine Wünsche im Gebet vor Gott ausschüttest, dich selbst als ein ganzes Brandopfer auf den Altar zu legen, mit der einen Bitte, dass der Vater durch dich verherrlicht werde.

Dann wirst du festen Grund finden, auf welchem dein Gebet fußen kann. Du wirst sowohl das starke Verlangen, als auch die volle Freiheit haben, den Vater zu bitten, dich in allen Stücken dem Bilde Jesu, jedem Zug seines Wesens ähnlich zu machen, damit Er verherrlicht werde. Du wirst es verstehen, wie sich die Seele nur in beständig erneutem Gebete ihrem Gott hingeben kann, auf dass Er in ihr alles wirke, was zu seiner Verherrlichung dient. Weil Jesus sich so völlig für die Verherrlichung seines Vaters hingab, deshalb war Er würdig, unser Mittler zu sein, und konnte in seinen Hohenpriesterlichen Gebeten seinem Volke so große Segnungen erflehen. Verne, wie Jesus, in deinem Gebet nur Gottes Ehre suchen, dann wirst du auch Fürbitte tun können, du wirst nicht nur deine eigene Not vor den Gnadenthron bringen, sondern auch mit dem ernstlichen Gebet des Gerechten, das da viel vermag, für andere einstehen können. Die Bitte, welche der Heiland im Vaterunser uns in den Mund gelegt hat: „Dein Wille geschehe!“ hat Er, der in allen Dingen seinen Brüdern gleich gemacht worden ist, wieder von unseren Lippen genommen und in Gethsemane zu der seinigen gemacht, damit wir sie kraft seiner Versöhnung und Fürbitte wieder aufnehmen und sie nun, gleichwie Er, vor den Vater bringen möchten. Auch du wirst in deiner priesterlichen Fürbitte, von welcher die Einigkeit und das Wohl der Kirche, sowie die Errettung der Sünder in so hohem Maße abhängt, Jesu ähnlich gemacht werden.

Ein Kind Gottes, welches bei jedem seiner Gebete die Verherrlichung des Vaters im Auge hat, wird auch, wenn Gott es dazu beruft, Kraft bekommen zu dem Gethsemane-Gebet. Jedes Gebet Jesu war eigentlich Fürbitte, weil Er sich selbst für uns dargegeben hatte; alles, was Er erbat und erhielt, war zu unserem Besten; aus dem Geist der Selbstaufopferung floss eine jegliche Bitte. Wenn wir uns selbst Gott dargeben für unsere Mitmenschen, so werden wir, wie Jesus, es erfahren, dass die völlige Darangabe unser selbst in jeglichem Gebet unseres täglichen Lebens die einzige Vorbereitung ist für jene einsamen Stunden des Seelenkampfes, da wir auf ganz besondere Weise, vielleicht unter bitteren Tränen und Herzweh, unseren Willen in den Tod zu geben berufen werden. Wer jenes gelernt hat, wird sicherlich auch Kraft empfangen für dieses.

O mein Bruder, meine Schwester, wollen wir Jesu ähnlich werden, so müssen wir vor allen Dingen sein Gebet in der Wüste betrachten. Da ist der Schlüssel seines wunderbaren Lebens zu finden. Was Er im Umgang mit Menschen tat und sprach, das hatte Er zuvor mit dem Vater durchgesprochen und durchlebt. In der Gemeinschaft mit Ihm ward die Salbung des Heiligen Geistes täglich erneuert. Wer in seinem Wesen und Wandel Jesu ähnlich werden will, muss ganz einfach damit anfangen, dass er Ihm in die Einsamkeit nachfolgt. Er muss täglich Zeit finden, um mit dem Vater allein zu sein, wäre es auch auf Kosten der Nachtruhe, des Geschäfts, oder des Umgangs mit Freunden. Neben der gewohnten Stunde des Gebets wird sich ein Solcher zu Zeiten unwiderstehlich ins Heiligtum gezogen fühlen, und er wird es nicht wieder verlassen, bis es ihm aufs neue offenbart worden ist, dass der HErr sein Teil ist. Sei es nun im Kämmerlein bei geschlossener Tür, oder in der Einsamkeit der Wüste, so müssen wir jeden Tag unseren Gott finden und unsere Gemeinschaft mit Ihm erneuern. Wenn Jesus dessen bedurfte, wie viel mehr wir! Was es Ihm war, das wird es auch uns sein.

Was es Ihm war, das wird uns klar, wenn wir beachten, was sich bei seiner Taufe zutrug: „Es begab sich, da Jesus getauft war und betete, dass sich der Himmel auftat, und der Heilige Geist fuhr hernieder in leiblicher Gestalt auf Ihn, wie eine Taube, und eine Stimme kam aus dem Himmel, die sprach: „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!“„ Ja, darin wird auch für uns der Segen des Gebetes bestehen; in dem geöffneten Himmel, der Laufe des Geistes, der Stimme des Vaters und der seligen Versicherung seiner Liebe und seines Wohlgefallens. Wie für Jesus, also auch für uns! Von oben, von oben muss uns alles herkommen als Antwort auf unsere Gebete.

Das Jesus-ähnliche Gebet im Verborgenen wird sich in einem Jesus-ähnlichen Wandel öffentlich beweisen. O wir wollen uns aufmachen und unser wunderbares Vorrecht, den freien Zugang zum Vater, die Jesus-ähnliche Kühnheit im Gebete recht benützen.

O mein HErr, du hast mich dazu berufen, dein Bild in allen Stücken an mir zu tragen, und ich will dir nachfolgen. Täglich will ich deine Fußstapfen suchen, damit du mich führest, wo du hingehst. Heute habe ich sie gefunden, triefend von dem Tau der Nacht, auf dem Weg zur Wüste. Dort habe ich dich gesehen stundenlang vor dem Vater knieen; dort habe ich auch dein Gebet gehört. Du gabst dich zur Verherrlichung des Vaters ganz hin, und von dem Vater erbatest, erwartetest und empfingst du alles. Ich bitte dich, zeige mir dies wunderbare Bild tief in meiner Seele: wie du, mein Heiland, lange vor Tag aufstundest, um Gemeinschaft mit deinem Vater zu pflegen, und alles, was du für dein Leben und deine Arbeit bedurftest, von Ihm zu erbitten und zu nehmen.

O mein HErr, was bin ich, dass ich so deiner Stimme Lauschen darf? Ja, wer bin ich, dass du mich dazu berufst, zu beten, gleichwie du es getan hast? Teurer Heiland, aus der Tiefe meines Herzens flehe ich zu dir: erwecke in mir dasselbe starke Verlangen nach dem verborgenen Gebetsumgang mit dem Vater. Wirke in mir die immer tiefere Überzeugung, dass wie bei dir, so auch bei mir das göttliche Leben nicht zur völligen Reife gelangen kann, ohne häufigen, stillen Verkehr mit meinem himmlischen Vater, da meine Seele im Lichte seines Angesichts wohnt. Lass diese Überzeugung in mir ein solch brünstiges Verlangen wecken, dass ich nicht ruhen möge, bis meine Seele jeden Tag aufs neue mit den Strömen göttlicher Liebe getauft worden ist. O du, der du mein Vorbild und mein Fürsprecher bist, lehre mich beten, wie du betetest. Amen!

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