Oehninger, Friedrich - Wahrheiten für unsere Tage - Heiligung.
Die Heiligung ist ein Fortschreiten auf dem schmalen Wege, auf den wir durch die heilige Taufe und die Gemeinschaft mit dem Erlöser zu stehen gekommen sind. und dem falschen Fortschritt der Zeit ist dieser wahre entgegen zu stellen. Die Heiligung ist weiter ein Wachsen in dem neuen Leben, dessen wir eben in jener Taufe auf Christus den Auferstandenen teilhaft geworden sind. So ist die christliche Taufe die Voraussetzung wahrer Heiligung, die nur möglich ist in dem und durch den, der gesagt hat: Ich heilige mich selbst für sie, auf dass auch sie geheiligt seien.
Die Heiligung und das neue Leben des Christen muss wachstümlich sich entwickeln, ohne menschliche Treiberei, Künsterei und äußerliche Nachmachung. Mk. 4,26-29. kann uns zeigen, wie da alles auf den Samen und die Empfänglichkeit des Bodens ankommt. „Von selbst“ bringt die Erde zuerst das Gras, dann die Ähren usw. Bei diesem „von selbst“ dürfen wir aber ja nicht an eine freie Selbstentwicklung unseres Herzens denken; der Same muss aufs Land geworfen werden und wir müssen unter dem Einfluss der Gnade stehen bleiben. Ein Bauer sagte einmal: „Wenn ich meinem Acker Freiheit gebe, wächst lauter Unkraut, und es hat dann seine Schwierigkeit, es wieder weg zu bringen.“ Die Heiligung vollzieht sich nicht in Freiheit von Christus und von seinen Gnadenmitteln, sondern im Gehorsam des Glaubens, - in beständiger Abhängigkeit von der Gnade.
Heiligung ist, als Wachstum in der Gnade, eine stete Erneuerung der Buße und des Glaubens, wobei eignes Leben und Wollen immer aufs neue in den Tod gegeben, im Tod erhalten und Christus immer neu angezogen wird. Es ist daher ein Doppelzustand, bei welchem stets beides gehört wird, jenes: „Ich elender Mensch!“ und jenes: „Ich danke Gott.“ (Röm. 7,24,25).
Die Heiligung besteht nicht in Anlernung von neuen Lebensformen und ist zunächst nicht eine äußere Veränderung der Sitten und der Lebensweise, sondern geht von innen heraus. „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friebe und Freude im heiligen Geist.“ „Das Herz wird fest durch Gnade, nicht durch Speisen, wovon nie Nutzen gehabt, die damit umgingen,“ und nicht was zum Munde eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was zum Munde ausgeht. Röm. 14,17. Hebr. 13,9. Mk. 7,15. Nicht das Natürliche ist Sünde, sondern das Unnatürliche und Widernatürliche, vergl. Koloss. 2,16.22.23. Apost. 27,34. 1. Tim. 5,23. 4,4. - Hiernach muss der Wert der Temperenzbewegung und aller Askese beurteilt werden.
Von der innern und äußern Umwandlung, die der Christ in der Heiligung erfährt, pflegten die Mystiker zu sagen: Er wird entbildet der Welt, gebildet mit Christus, überbildet in Gott. Und ein Weiterer sagt: Auch ein ungestalter Klump, ist er noch so roh und plump, wird sich schon ins Reine spinnen, ist nur Christi Leben drinnen.
Die Grundzüge des Wandels derer, die in der Heiligung stehen, sind Demut und Liebe. Durch die erstere verleugnen wir uns selbst, durch die andere geben wir uns Gott zum Dienste hin und den Seinigen. Da ist eine einzige Tat der Selbstverleugnung und der Liebe besser, als zehn neue Ideen oder geistreiche Aussprüche. Besonders den Theologen gilt: qui proficit in literis, et deficit in moribus, plus deficit quam proficit1).
„Gegen Demut und Liebe gibt es keine Gegenwehr,“ sagte Vincenz von Paula. Es gibt einen Marienstand und Zeiten, wo man dem HErrn zu Füßen sitzen soll und die „viele Sorge und Mühe“ der Martha überlassen darf, die der Maria ihren Stand erleichtern muss. Doch auch all' dies muss in selbstverleugnendem Gehorsam gegen den geschehen, der Jeglichem seine besondere Aufgabe und Gabe gibt. Ein Beispiel der Demut ist es, wenn Woltersdorf es sich immer stillschweigend gefallen ließ, dass eine Frau ihre Beichte bei ihm jedes Mal begann: „Unwürdiger Herr“ - statt: Hochwürdiger Herr!
Im Weiteren ist Heiligung Treue in dem, was uns anvertraut und aufgetragen ist. „Du bist über Wenigem treu gewesen, Ich will dich über viel setzen.“ Aus Treue in kleinen Dingen und konsequentem Fortmachen baut sich das wahrhaft Große auf. (All great works are made up of little works well done). Und zur Treue gehört namentlich auch das, dass wir unsere Werke als dem HErrn und nicht bloß den Menschen getan betrachten. Fort mit der Begier, sich öffentlich zu zeigen! Niemals unternimm ein Werk wegen Lob oder Tadel der Menschen! Diejenigen, welche keine vollkommene Demut, keine Geringschätzung ihrer selbst haben, werden zu den Werken Gottes nie brauchbar werden. - Ama nesciri sagte Kempis, sei gern unbekannt!
Ein Geheimnis des wahren Handelns liegt auch in dem Winke: nichts zu viel! und: Nichts halb!
Die Weisen der Alten haben die vier Haupttugenden gesehen in der Weisheit, der Tapferkeit, der Gerechtigkeit und der Mäßigung. (sapientia, fortitudo, justitia, temperantia). Weit mehr als nur die Vier finden wir in Galal. 5,22. 2. Petr. 1,3-11. Tit. 2,12. Das Vorbild ist in Christi Leben gegeben, und die Heiligung ist nichts anderes als Jesu Christo gleichförmig werden. Hierüber sagt Kierkegaard: „Christi Nachfolger sein heißt nicht nur von der Firma profitieren und Christus vor Jahrhunderten gelitten haben lassen, sondern dass dein Leben so viel Ähnlichkeit mit dem Seinen hat, als ein Menschenleben haben kann.“ Röm. 8,19. Phil. 2,5. - Und in dieser Entwicklung soll es mit uns zum Charakter kommen; jeder Christ, der unter dem gestaltenden Einfluss des Heiligen Geistes bleibt und sich von diesem treiben lässt, wird in der Tat ein Charakter, ein Original. Leider sterben die meisten Menschen, wie Leibnitz klagt, nicht als Originale, sondern als Kopien oder auch als Karikaturen. Grundzüge des Charakters sind 1) unerschütterliche Festigkeit und Stärke, vergl. Hebr. 13,9. 2) Die unermüdliche Ausdauer und Beharrlichkeit, vergl. 1. Kor. 15,58. Das bloße Mögen und Wünschen, das Entschließen mit geheimem Vorbehalt und immer zögerndem Aufschübe sind Zeichen der Charakterschwäche. 3) Der Charakter muss ein individuelles Gepräge haben und 4) lauter sein, keiner unreiner Mittel sich zu seinen guten Zwecken bedienen. „Werdet Jünger der göttlichen Einfalt“ (Beck). 5) Alle Tugenden müssen in Harmonie stehen. (vergl. Kirchenfreund 1886 Nr. 2.) - Zur Entwicklung des Charakters gehört Prüfung und Kampf. „Es bildet ein Talent sich in der Stille, doch ein Charakter in dem Sturm der Welt.“ Ein Beispiel eines christlichen Charakters war der General Gordon. Seine vier Lebensgrundsätze waren: 1) sich selbst vergessen. 2) alle Ansprüche aufgeben. 3) nie Billigung oder Missbilligung der Menschen als Beweggrund für eine Handlung gelten lassen. 4) in allem Gottes Willen befolgen und sich nur auf Ihn stützen.
Rückert sagt zwar schön und nicht ohne Wahrheit: „Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll; o lang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.“ Aber ich meine, dies Bild ist meist nicht ein klar bewusstes und umschränktes; bewusst ist es unserm göttlichen Bildner und Werkmeister, dessen Werk wir sind, und seinem Trieb und Werk sich hingeben, das führt zum Ziel und bringt unsern Charakter zur Reife.
Der Kampf, in welchem unser christlicher Charakter reift, geht durch unser ganzes Leben. Wir haben, wie eine altreformierte Bekenntnisschrift sagt, „all unser Leben lang mit unserer verkehrten Art zu streiten, und müssen mit St. Paulus bis zur Vollendung am Tage des HErrn bekennen: Nicht dass ich es schon ergriffen hätte oder schon vollkommen wäre!“ Es ist ein langer heißer Lauf nach dem Kleinod, wobei es durch viel Demütigung und durch manches Fallen geht, bei dem wir aber nicht liegen bleiben dürfen, sondern uns schnell und entschieden mit Gottes Gnade wieder erheben müssen. (Sprüche 24,16.) Es ist allein Gottes Macht und große Barmherzigkeit und Treue, dass wir bewahrt werden zur Seligfeit in der Heiligung des Geistes und im Gehorsam der Wahrheit. 1. Thess. 3,24. 2. Thess. 2,13. 1. Petr. 1,5. Die Treue dessen, der uns berufen hat, ist es auch ganz allein, die uns aus den Umarmungen der Welt errettet, durch welche wir um das Erbe kommen könnten, wiewohl wir durch eigene Schwäche und Mangel an Vertrauen hineingeraten sind. Siehe 1. Mose 20, wo Abraham durch göttliche Fürsorge seine Sara zurückerhält.