Seckendorff-Gutend, Henriette Freiin von - Hausandachten - 30. Andacht.
Jesaias 54.
Der Ruf, die Aufforderung, die in den ersten Versen dieses Kapitels enthalten ist, gilt uns Allen, meine Lieben. Nicht als ob wir Alle einsam bleiben und einen solchen Beruf, wie z. B. der Meinige ist, haben müssen. Wir sollen nur Alle dem Herrn anhangen von ganzer Seele und von ganzem Gemüt und trachten Ihm Seelen zuzuführen. Wer vom Herrn erleuchtet und ganz durchleuchtet ist, der wird stets auch Anderen als ein Licht leuchten und so viel Liebe und Wärme um sich verbreiten, dass auch andere sich angezogen fühlen und herzukommen, sich an seinem Licht zu erwärmen. „Die Einsame, heißt es V. 1, hat mehr Kinder, (d. h. geistliche Kinder), denn die den Mann hat.“ Dabei fällt mir immer die liebe, heimgegangene Dorothea Trudel ein. Welch reich gesegnete Mutter war sie und wie strahlte sie immer vor Freude, wenn sie über dieses Kapitel sprach. Solche Werkzeuge der Gnade Gottes können und sollen wir Alle werden; man kann das in jedem Stand und Beruf. Aber zuerst müssen wir selbst ganz los von Allem sein, von aller Eigenliebe und Eigenehre, von aller Unreinigkeit und Bosheit, nicht nur angeleuchtet von dem himmlischen Licht, sondern völlig durchleuchtet, so dass alles Weltliche, Sündliche in uns vollständig getötet und erstorben ist und wir ganz lebendig sind in Christo Jesu. Wer die Güte und Freundlichkeit des Herrn, Seine Liebe und Sein Erbarmen schon recht geschmeckt hat, der bekommt einen unwiderstehlichen Drang, auch anderen Seelen den Weg zum Heil und Frieden zu zeigen. Sieht der Herr bei einer Seele das redliche Verlangen, ein Werkzeug in Seinem Dienst zu werden, so ersetzt Er alles Fehlende mit Seiner Kraft, rüstet sie aus mit Weisheit und Stärke und je elender und nichtswürdiger sich eine Seele fühlt, desto reichlicher kann sie der Herr segnen und desto mehr kann sie anderen voranleuchten und sie erbauen. Vor einiger Zeit war in meiner Kur hier ein sehr armes, etwa acht und zwanzigjähriges, schlichtes Mädchen, die sich von Jesu Gnadensonne so durchleuchten ließ, dass sie nun, trotz ihrer bitteren Armut, sich unendlich reich fühlt und für ihre ganze Umgebung ein Segen ist. Sie wird immer zu Kranken gerufen, um mit ihnen zu beten und ist eine eifrige und unerschrockene Verteidigerin der Sache des Herrn. So lebendig und tätig macht die Gnade und Liebe Jesu, wenn wir sie in unseren Herzen wirken lassen, wenn wir der Sünde absterben und der Gerechtigkeit leben, wenn der Herr unsere Freude und Wonne, unser Ein und Alles ist. Wie fröhlich und glücklich fühlt man sich alsdann, man hat nichts mehr zu fürchten; denn der Herr selbst lässt uns sagen: V. 4. „Fürchte dich nicht, denn du sollst nicht zu Schanden werden, werde nicht blöde, ängstlich und verzagt, denn du sollst nicht zu Spott werden; denn der dich gemacht hat, ist dein Mann; Herr Zebaoth heißt Sein Name und dein Erlöser, der Heilige in Israel, der aller Welt Gott genannt wird.“ Welch überaus köstliche, trostreiche Verheißung, deren Tiefen wir gar nicht zu fassen und auszudenken vermögen, ist doch das. Die Majestät Gottes neigt sich herab zu uns armen, sündigen Menschenkindern. Er, der Große und Erhabene, der Herr Zebaoth, der aller Welt Gott genannt wird, will unser Mann sein, will Seine Pracht und Herrlichkeit, alle Seine Macht und Ehre, Seinen ganzen Reichtum mit uns teilen und will uns hochadeln. Wenn ein vornehmer Herr, ein König ein armes, geringes Mädchen heiraten wollte, wie würde man erstaunen, was würde die Welt dazu sagen? Und doch ist das noch kein Vergleich gegenüber von dem, was der Herr des Himmels und der Erden uns in Aussicht stellt und was Er uns schenken will, wenn wir unseren Mann, unseren Herrn und König, unser Ein und Alles sein lassen. Muss es nicht ein ganz kaltes, verstocktes, frevelhaftes Herz sein, das dennoch diese herrlichen Verheißungen missachtet, beharrlich in der Sünde lebt und mit Gewalt dem Verderben entgegen eilt? Ach, wie viel Gnade und Segen verscherzen wir, wenn wir uns nicht ganz entschieden für den Herrn erklären. Er kann uns ja nicht mehr geben, als Er uns verheißen hat, übersteigt es doch all' unser Denken und Hoffen; ja, drüben im Licht der Ewigkeit wird es uns erst recht klar werden, was wir versäumt und welches Erbteil wir verscherzt haben! O, der Herr möge uns Allen offene Augen, Ohren und willige Herzen schenken, Seine Stimme zu hören, dass wir Ihn zu unserem Friedefürsten, Seligmacher und Erlöser erwählen, dass Er unser Ein und Alles wird. „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ (V. 10.) Ist das nicht überaus tröstlich und ermunternd? Das merkt euch alle, ihr Betrübten und Verzagten, wenn euch bange wird um die Vergebung eurer Sünden, wenn ihr fürchtet, es möchte für euch zu spät sein usw. So lange ihr noch die Berge und Hügel unverrückt vor euren Augen seht, so lange dürft ihr euch auch fest, felsenfest auf die Gnade des Herrn verlassen und selbst, wenn diese weichen würden, wäre es noch Gnadenzeit, denn der Herr sagt deutlich: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen.“ Seid nur getrost und unverzagt, Alle, die ihr des Herrn harrt. Wie der Herr bei der Sintflut die Fenster Seines Himmels aufgetan, worauf die Flut sich über die Welt ergoss und alles zu Grunde richtete um der Sünden der Menschen willen, so will jetzt im neuen Bund der treue Gott die Fenster des Himmels auftun und auf Alle, die an Seinen Sohn von ganzem Herzen glauben, Ströme von Segen heruntergießen, dass sie ganz überflutet werden sollen von Gnade und Segen. Wenn dann auch über ihr Fleisch noch manches Gericht ergeht, so ist eine solche Seele dennoch getrost, denn sie sieht durch das Gericht hindurch die Gerechtigkeit Gottes. Unsere sündige Natur sucht uns immer wieder abwärts zu ziehen, darum braucht der Herr allerlei Zuchtmittel zu unserer Besserung. Aber wir wollen fest an dem Worte halten, V. 7 und 8. „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen; aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zornes ein wenig vor dir verborgen; aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.“ Ja, wer den Herrn hat und unter dem Schatten Seiner süßen Jesushand beständig steht, der darf nicht zagen, auch wenn alle Wetter über ihn gehen. Alle, die dem Herrn anhangen, Sein Kreuz auf sich nehmen, Ihm nachfolgen, besonders die in Seinem Dienst stehen, müssen viel Schmach, Spott und Verachtung, ja Verfolgung leiden, denn wer dem Herrn Seelen zuführen will, die oft sehr tief in Sünden stecken, der muss oft wie in die Hölle hineingreifen, und fordert dadurch Satans Zorn und Wut heraus. Deshalb ist Seelen zu retten ein überaus schwerer, aber auch ein überaus seliger Beruf, denn man fühlt sich nie allein; der Herr ist mit uns, unsere Stärke und Zuversicht. „Wer mag wider uns sein?“ Der Herr behält den Sieg, und wenn alle Feinde schnauben, es soll ihnen doch nicht gelingen. „Siehe, wer will sich wider Dich rotten?“ heißt es V. 15. Hier spricht der Prophet Jesaias von den Feinden Zions. Wie steht es in diesem Stück mit dir, liebe Seele, kannst du deine Feinde lieben und ihnen alles Gute wünschen? Im alten Bund betete man gegen seine Feinde und wünschte ihnen Böses; aber im neuen Bund gebietet uns der Herr, sie zu segnen, sie zu lieben und ihnen Gutes zu tun. Hast du dir diese Feindesliebe auch schon von dem Herrn schenken lassen? Die Feinde lieben und ihnen vergeben, das verstand die liebe Dorothea Trudel ganz außerordentlich. Sie hatte eine Liebe, mit der sie alle Menschen aufs innigste umfasste, besonders ihre Kranken, von denen Jedes sich für ihren besonderen Liebling hielt. Ihre Liebe zu solchen Personen, welche sie beleidigt hatten, war mir immer ein Gegenstand besonderer Bewunderung. Diese Macht der Liebe, welche Dorothea hatte, übte eine ganz überwältigende Anziehungskraft auf mich aus. Nur in dieser Liebe Jesu kann man eine Macht über seine Feinde bekommen, dass dieselben zuweilen noch unsere innigsten Freunde werden. Diese Liebe ward mir ein Sporn, den Herrn auch ernstlich um dieselbe anzurufen. Wer dieselbe ausübt, darf herrliche Erfahrungen machen, wie ich es in Männedorf bei der lieben Dorothea Trudel oftmals miterleben durfte. Eine dieser Begebenheiten möchte ich euch hier mitteilen: an einem Vormittag, als Dorothea ihre Hausandacht halten wollte, kamen drei wild aussehende Matrosen ins Haus und forderten lärmend Getränke von derselben. Mit ihrer gewinnenden Liebe ging sie auf die drei Männer zu und fragte nach ihrem Begehren, worauf dieselben wiederholt stürmisch Getränke verlangten. Ganz entschieden erwiderte ihnen Dorothea, dass hier keine Getränke verabreicht würden, und als sie sich noch nicht abweisen ließen, lud sie dieselben aufs Freundlichste ein, ihrer Andacht beizuwohnen. Die Matrosen sahen einander an, winkten sich gegenseitig zu und willigten in den Vorschlag ein; sie hatten einen großen Hund mitgebracht, den sie mit sich in den Saal nahmen, wo ihnen Dorothea Plätze anwies. Nun begann sie ihre Andacht mit einem brünstigen, von innigster Liebe durchdrungenen Gebet für diese drei Männer, dass wir Alle davon ergriffen waren; die drei Matrosen saßen ganz eingeschüchtert und stille da; sie machten während der ganzen Andacht keine Bewegung, und nachdem das Schlussgebet gesprochen war, in welchem Dorothea wieder diese drei Männer mit brennender Liebe dem Heiland ans Herze legte, verließen sie nacheinander ganz still den Saal. Wir aber lobten den Herrn mit fröhlichem Herzen, denn wir hatten bei dem Eintreten der Matrosen nichts Gutes geahnt. Für Dorothea aber wurden diese Männer von nun an der Gegenstand ernstlicher Fürbitte; sie bat den Herrn dringend, er möchte ihr diese drei Seelen schenken und sie dieselben vor Seinem Thron einst als Gerettete wieder finden lassen. Und siehe da! es stund nicht lange an, so kam einer jener Männer ganz zerknirscht und gebeugt zu Dorothea und bekannte ihr, dass sie die Absicht gehabt hätten, während der Andacht ihren Hund unter die Versammelten zu hetzen, sie seinen aber schon durch ihr Gebet so ergriffen worden, dass sie ihr böses Vornehmen nicht hätten ausführen können; die Andacht habe sie in ihrem Gewissen tief ergriffen, und er komme jetzt, um die liebe Dorothea um Verzeihung zu bitten. Die beiden anderen Männer folgten bald ihrem Vorgänger mit demselben reumütigen Bekenntnis. Die Freude der lieben Dorothea über diese Siegesbeute ihres Heilandes war rührend; besonders wenn sie erzählte, mit welcher Liebe und Aufmerksamkeit diese Matrosen ihr fortan begegneten. Das tat die Macht der Liebe Jesu, welche die liebe Dorothea in hohem Grad besaß, und durch diese konnte sie Alles überwinden und besiegen. Wir wollen auch um den Brand der heißen Jesusliebe bitten, mit der wir ausüben können, was uns der Herr Matth. 5,44 u. 45. befiehlt: „Ich aber sage euch: liebt eure Feinde, segnet die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn Er lässt Seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Ich kann euch versichern, es fehlt mir in meinem Beruf auch nicht an Schmach, Spott, Verachtung und Verleumdung aller Art, wie auch nicht an viel Demütigungen und Widerwärtigkeiten; ich habe schon die entsetzlichsten Äußerungen über mich gehört, z. B. von einem frommen Mann, dass meine ganze Sache auf kolossaler Täuschung beruhe usw., und doch fühle ich mich unaussprechlich glücklich darinnen, bin immer ganz beschämt über die vielen Gnaden und Segnungen, die der Herr mich täglich an meinen Kranken erfahren lässt, hauptsächlich auch, wie Er sich zu der ganzen Sache bekennt und mich gegen die Verleumdung vertritt. Wer schickt denn die vielen Kranken? der barmherzige Heiland führt sie hierher, um ihnen nach Leib und Seele wohl zu tun in Seiner großen Gnade und Liebe. Der Herr wird solche Zweifler und Verächter einst im Licht der Ewigkeit überzeugen und beschämen. Wir aber wollen fröhlich sein in dem Herrn allewege, uns felsenfest Seiner Verheißungen getrösten und uns gerne hier Narren heißen lassen von der Welt. Der Herr ist unser Schild und sehr großer Lohn. Wir fürchten uns nicht, denn wer bei dem Herrn ist, kennt keine Furcht und keine Sorgen, auch keine Betrübnis als nur solche, die man um Seelen hat, die sich nicht retten lassen wollen, oder wieder abfallen; das schmerzt tief. Gleich wie es einer Mutter angelegentlichste Sorge und ihre größte Freude ist, wenn ihre Kinder den Herrn lieben und Ihm dienen, so ist es einer geistlichen Mutter die größte Freude und Wonne, wenn ihre geistlich gezeugten und dem Herrn zugeführten Kinder fest bleiben in der Zucht und Vermahnung zum Herrn und lebendige Glieder an Seinem Leib werden; aber auch der tiefste Schmerz, wenn sie wieder laut und träge werden oder gar wieder Gefallen an der Sünde finden. Das ist ein Schmerz, der sich nicht beschreiben lässt. Aber der Herr verheißt auch in dieser Beziehung Segen und Frieden ohn' Ende, ohne Maß und Ziel und einst einen Lohn, der alles Denken übersteigt.
V. 11. „Du Elende, über die alle Wetter gehen und du Trostlose! Siehe, ich will deine Steine wie einen Schmuck legen und will deinen Grund mit Saphiren legen und deine Fenster aus Kristallen machen und deine Tore von Rubinen und alle deine Grenzen von erwählten Steinen und alle deine Kinder gelehrt vom Herrn und großen Frieden deinen Kindern.“. Ist das nicht der Mühe wert, meine Lieben, dass wir die kurze Spanne Zeit, die wir noch zu leben haben, ganz ausschließlich dem Herrn leben, rein ab der Welt und ganz Christo an, ihn unser Ein und Alles sein zu lassen? denn bei Ihm ist Friede und Freude im heiligen Geist, und wo Jesus Christus bleibt der Herr, wird's alle Tage herrlicher! Ja, Herr Jesu, schenke uns in Gnaden Deinen Segen und Deinen Frieden! Amen.