Rieger, Carl Heinrich - Kurze Betrachtungen über die Psalmen – Der 80. Psalm.
1. Ein Psalm Assaphs von den Spanrosen vorzusingen. 2. Du Hirte Israels, höre, der du Joseph hütest wie der Schafe; erscheine, der du sitzt über Cherubim. 3. Erwecke deine Gewalt, der du vor Ephraim, Benjamin und Manasse bist, und komm uns zu Hilfe. 4. GOtt, tröste uns, und lass leuchten dein Antlitz, so genesen wir. 5. HErr, GOtt Zebaoth, wie lange willst du zürnen über dem Gebet deines Volks? 6. Du speist sie mit Tränenbrot, und tränkst sie mit großem Maß voll Tränen. 7. Du setzt uns unseren Nachbarn zum Zank, und unsere Feinde spotten unserer. 8. GOtt Zebaoth, tröste uns; lass leuchten dein Antlitz, so genesen wir. 9. Du hast einen Weinstock aus Ägypten geholt, und hast vertrieben die Heiden, und denselben gepflanzt. 10. Du hast vor ihm die Bahn gemacht, und hast ihn lassen einwurzeln, dass er das Land erfüllt hat. 11. Berge sind mit seinem Schatten bedeckt, und mit seinen Reben die Zedern GOttes. 12. Du hast sein Gewächs ausgebreitet bis an das Meer, und seine Zweige bis an das Wasser. 13. Warum hast du denn seinen Zaun zerbrochen, dass ihn zerreißt Alles, das vorüber geht? 14. Es haben ihn zerwühlt die wilden Säue, und die wilden Tiere haben ihn verderbt. 15. GOtt Zebaoth, wende dich doch, schaue vom Himmel, und siehe an, und suche heim diesen Weinstock, 16. Und halte ihn im Bau, den deine Rechte gepflanzt hat, und den du dir festiglich erwählt hast. 17. Siehe darein, und schilt, dass des Brennens und Reißens ein Ende werde. 18. Deine Hand schütze das Volk deiner Rechten, und die Leute, die du dir festiglich erwählt hast; 19. So wollen wir nicht von dir weichen. Lass uns leben; so wollen wir deinen Namen anrufen. 20. HErr, GOtt Zebaoth, tröste uns; lass dein Antlitz leuchten, so genesen wir.
Der 80. Psalm heißt wieder 1) in seiner Überschrift: Ein Psalm Assaphs, von den Spanrosen vorzusingen. Geht auch wie der vorhergehende auf die Gefangenschaft und den Jammerstand des Volks GOttes. Die dreimalige Wiederholung der Bitte: GOtt tröste uns, lass leuchten dein Antlitz, V. 4. 8. 15., gibt uns die sicherste Spur zur Einteilung des Psalms. Er besteht nämlich aus einer dreimal wiederholten Bitte des Volks GOttes um Trost und Aushilfe, so, dass die Beweggründe, womit diese Bitte unterstützt wird, aus unterschiedlichen Quellen genommen werden. Bei der dreifachen Wiederholung dieser Bitte haben Einige an das Geheimnis der heiligen Dreieinigkeit gedacht, Andere haben sie auf den dreifachen Notstand des israelitischen Volks gedeutet, da zuerst die zehn Stämme in Assyrien, hernach Juda und Benjamin gen Babel geführt, und bei der letzten Zerstörung Jerusalems das ganze Volk in die Zerstreuung geraten ist. Bei dem ersten Gebetsanlauf sind also die Gründe von GOtt selbst genommen, und von Seiner nahen Verbindung, in welcher Er mit Seinem Volk stehe, V. 24. Auf die Namen, die GOtt in Seinem Wort gegeben werden, in der Absicht, dass wir Ihn dabei in allen Nöten anrufen sollen, ist besonders zu merken; in dem Schluss des vorigen Psalm hat es geheißen: Wir Dein Volk und Schafe Deiner Weide. Wenn es aber da oft unter dem Gefühl der Unwürdigkeit mit solchem Gnadenruhm nicht recht fort will, so kann man doch dem HErrn Seinen Hirten und Hüters - Namen vorhalten. Zu diesem vertraulichen Namen: Hirt und Hüter, wird aber gleich auch ein hoher Name GOttes gesetzt: der Du sitzt über Cherubim; so heißt es: unser Vater, aber auch gleich dabei: der Du bist im Himmel. So ist zartes Vertrauen und heilige Scheue immer mit einander verbunden, so hält sich der Glaube an seine zwei Hauptstücken: an die Liebe und an die Macht GOttes. Höre, erscheine, erwecke.“ Im Herzen GOttes fangt es im Innersten mit hören an, und wird dann auch ins Äußere, dem Glauben zum Trost, den Feinden zum Schrecken „ geführt. 3) Beim zweiten Gebetsanlauf werden die Beweggründe von des Volks Jammerstand hergenommen, V. 58. Es heißt eigentlich: wie lange willst Du auch gegen das Gebet Deines Volks, und ungeachtet des Gebets Deines Volks rauchen, so, dass das Gebet Deines Volks nicht durch kam? Dergleichen Offenb. Joh. 15, 8. vorkommt, da es heißt: Der Tempel ward voll Rauchs von der Herrlichkeit GOttes, und von Seiner Kraft, und Niemand konnte in den Himmel gehen, bis die sieben Plagen der sieben Engel vollendet würden. Darum gilts mit allen Heiligen zu bitten, zur rechten Zeit, da sich GOtt gnädig finden lässt. 4) Bei dem dritten Gebetsanlauf werden die Beweggründe von den alten Gnadenerweisungen GOttes hergenommen, die aber durch den gegenwärtigen Jammer fast aufgehoben und vernichtet worden, V. 9-20. Mit einem Weinstock und Weinberg wird das Volk und die Kirche GOttes öfters in der Schrift verglichen. Reben sind ein edles aber schwaches Holz, bei der Fruchtbarkeit kostbar und wert, bei der Unfruchtbarkeit aber untauglich zu Allem und zum Verbrennen gewidmet. Man sehe Ezech. 15. Der Fleiß GOttes an diesem aus Ägypten geholten Weinstock wird Jesaj. 5, beschrieben. Dem doppelten im Psalm vorkommenden: Warum? warum? hast du denn seinen Zaun ab gebrochen? wird daselbst Jesaj. 5, 4. ein anderes warum? entgegen gesetzt: Warum hat er denn Heerlinge gebracht, da ich wartete, dass er Trauben brächte? Desto mehr hat der Glaube zu schaffen, dass er auch unter einer vom Volk wohlverdienten Züchtigung doch den Mut zum Beten nicht aufgibt, sondern immer anhält: Der Feinde Gewalt betrübt uns, GOtt Zebaoth, tröste uns, die Leidens-Schmach verfinstert uns, und GOttes Gnade erleuchte uns, die Menschen verderben uns, durch GOttes Gnade genesen wir.