Krummacher, Gottfried Daniel - Die Wanderungen Israels durch die Wüste nach Kanaan (Abrona).

Krummacher, Gottfried Daniel - Die Wanderungen Israels durch die Wüste nach Kanaan (Abrona).

Sechsundvierzigste Predigt. Dreißigste Lagerstätte:

Text: 4. Buch Mose 33,34.

Es ist schon Manchem höchst auffallend gewesen, dass in dem ganzen Buche Esther, obschon es aus 10 Kapiteln besteht, der Name Gottes auch nicht ein Einzigmal genannt wird. Einige haben deswegen sogar gezweifelt, ob es wohl zu den heiligen Büchern gehöre; Andere es aber damit entschuldigen wollen, dass es so übernommen sei, wie man die Geschichte eben in der persischen Chronik vorgefunden habe. Aber alte gottesfürchtige Rabbinen haben den Namen Jehovah auf eine verdeckte Weise an zwei Stellen in diesem Büchlein entdeckt. Zuerst versteckt sich dieser Name, der im Hebräischen mit vier Buchstaben, IHVH, (Jabo, Hamelech, Vehaman, Hajam) geschrieben wird, in eben so viel Wörtern des 20sten Verses 1. Kapitel, jedoch rückwärts, als hieße es Havohej. Und so verkehrt hatte sich der Bundesgott wirklich eine lange Zeit her gegen sein Bundesvolk erwiesen, als ob es mit allen seinen Verheißungen rückwärts ginge. Zum zweiten Male erscheint der heilige Name, aber ordnungsmäßig geschrieben, in 4 Wörtern des vierten Verses des fünften Kapitels, und von da an fing Gott wieder an, sich in seiner Bundes-Treue gegen sein Volk zu erweisen. Ich denke, diese Rabbinen haben recht gesehen. Mögen die Führungen der Gläubigen sein, welche sie wollen, so hat der Herr seine Hand auch da im Spiel, wo sie nicht oder verkehrt erscheint. Zuletzt offenbart sie sich doch in ihrer wahren Gestalt. Es ist ein Übergang, wie auch der Name unserer diesmaligen Lagerstätte bedeutet.

Das Lager der Kinder Israel bot einen schönen und wunderbaren Anblick dar. Es bildete ein sehr großes Viereck, mit mehreren schnurgraden, breiten Haupt- und sehr vielen Nebenstraßen. Nach jeder Seite lagerten drei Stämme, jeder mit seinem Heerführer und einer besonderen Fahne. In der Mitte war ein großer Platz und auf demselben die Stiftshütte, die sichtbare Wohnung des unsichtbaren Gottes. Bei wichtigen Angelegenheiten begab sich Moses dahinein, Gott um Rat zu fragen. Über derselben erhub sich die Wolkensäule, die man im ganzen Lager sehen konnte. Des Tags diente sie statt eines Schirmes gegen die brennenden Sonnenstrahlen, Nachts machte sie's helle. Sie gab das Signal zur Reise, indem sie sich erhub, wo dann die Stiftshütte samt dem Lager abgebrochen wurde. Sie zeigte den Weg, indem sie voranzog. Sie bezeichnete das Lager, indem sie stille stand. Im ganzen Lager war keine beschwerliche Arbeit außer derjenigen, welche darin bestand, dass sie jeden Morgen vor das Lager gehen mussten, Manna zu sammeln, wobei es nicht darauf an kam, ob Jemand viel oder wenig sammelte, indem Jeder, wenn mans maß, gleichviel hatte, sei es durch ein Wunder, oder auf eine andere Weise, welches jedoch nicht glaublich ist, da sonst ja auch wohl zu wenig hätte da sein können. Das Abbrechen und Wiederaufschlagen der Zelte war die andere Arbeit, die jedoch Eins ins Andre gerechnet, nur alle Jahr vorkam. Im ganzen Lager war kein Armer, sowie kein Handel. Es herrschte da eine liebliche Ruhe, und das Ganze bildete die neutestamentliche Verfassung ab. Alles in Allem Christus, den aßen sie im Manna, den tranken sie in dem Wasser aus dem geschlagenen Felsen; ihn fragten sie, und er antwortete ihnen, er war ihr Schirm, ihr Führer, Geleitsmann und Ruhegeber.

Unter seiner Leitung brachen sie denn von Gutstadt auf und fanden einen andern Lager- und Ruheplatz zu Abrona, welches die dreißigste Lagerstätte ist. Der Name derselben hat mehrere Bedeutungen, welche wir nacheinander durchgehen wollen.

  1. Dieser Name bedeutet erstlich einen Durchgang, etwa durch ein Tor, oder, wie Jonathan 1. Sam. 14., zwischen zwei Felsen durch, wovon der eine „Bozez“, Kot, der andere „Senne“, Leim hieß. Ist nicht unser irdisches Leben überhaupt nur ein Durchgang? So möchte der ganze Zug Israel durch die arabische Wüste Abrona ein Durchgang heißen; denn Keiner hat hier eine bleibende Statt. Möchte auch Jemand gern bleiben wollen, so muss er doch einmal von dem reißenden Strom der Zeit ergriffen mit fort, und es ist kein Aufhalten. Zwar wird dies wenig beherzigt, es ist aber so. Du machst Pläne auf lange hinaus, deine Wünsche, deine Begierden, deine Bestrebungen klammern sich an das, was da ist. Aber es ist nur ein Durchgang, und der verdient deine ganze Aufmerksamkeit nicht. Gleiche Jenem nicht, der sich selbst gratulierte und sprach: Nun iss und habe guten Mut; aber plötzlich hieß es zu ihm: Du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Es ist ein Durchgang; das kann denen tröstlich sein, derer Kanaan wartet. Müssen sie, wie Jonathan, durch Bozez und Senne hindurch, sie bleiben doch nicht drin stecken. Es wird Gottlob nicht ewig sein, es ist nur ein kurzer Durchgang. Besinne sich aber Jeder gründlich darüber und benehme sich als ein solcher, der hinwegeilt, damit er sich mit demjenigen versehe, was Not tut, und dasjenige, was Not tut, besteht darin, dass man durch die enge Pforte eingehe. Dies ist die Pforte der Buße, das ist einer wahrhaft gründlichen und gänzlichen Sinnesänderung, welche mit Jedem vorgehen muss, dem dies Erdenleben ein glücklicher Durchgang sein soll. Dein natürlicher Zustand mag dir vollkommen recht erscheinen. Er taugt aber zum Seligwerden nicht; dann musst du in einen Stand versetzt werden, der dir noch unbekannt ist, den Christus den schmalen Weg nennt, der zum Leben führt, und welchen, nach seiner eigenen Aussage, Wenige finden. Es ist wahr, Niemand kann sich selbst in diesen Stand versetzen; sogar ist es wahr, dass Viele danach trachten, wie sie mögen hineinkommen, und werden es doch nicht tun können. Halt dich aber für desto unseliger, und sehne dich desto inbrünstiger danach, dass der Herr so barmherzig sei, das Wollen und Vollbringen selbst in dir zu schaffen. Ist dir diese Barmherzigkeit widerfahren, so wirst du durch manche Verleugnung hindurch müssen, wiewohl das ja nichts Besonders ist, der natürliche Mensch muss es auch. Er bekommt nimmermehr Alles nach seinem Sinn, er muss sich in Vieles schicken, das ihm oft höchst unangenehm ist, und hat doch gar keinen Ersatz dafür. Wie dürfte denn ein Christ sich über Verleugnung beschweren, bei welcher er den Beistand des Herrn genießt, und wofür er einen hundertfältigen Lohn bekommt? Auch geht's hier durch Trübsale. Aber was sind die Trübsale zu achten, durch welche wir, wie Paulus und Barnabas Apostelg. 14. sagten, in das Reich Gottes gehen müssen? Sind denn diejenigen ohne Trübsal in dieser Welt, die doch zur Hölle fahren? Ist denn Gottlosigkeit ein Mittel, sich vor Trübsal zu sichern, oder ist nicht vielmehr die Gottseligkeit zu allen Dingen nütze? Was ist das denn für ein unbilliges Geschrei, als sei der Weg so trübsalsvoll, den man zum Himmel wandeln soll. Was für Tröstungen gibt's doch auf diesem Wege, wogegen alle Lust der Welt Nichts ist. Unser Sehnen, unsre Tränen trösten mehr, als eure Freud'. Könnt ihr sehen und verstehen die verborg'ne Seligkeit, ihr werdet eurem Kram entlaufen, und mit dem verschmähten Haufen wandern nackt zur Ewigkeit. Auf jeden Fall ist's für Christen nur ein Durchgang, wogegen die Unbekehrten endlich in einem Meer von Trübsal untergehen werden, denn den Schlusspunkt dieses Abrona oder Durchgangs macht der Tod, dem Jeder mit starken Schritten entgegeneilt. Für den Gläubigen macht er das Ende aller Trübsal und den Anfang der höchsten Glückseligkeit; für den Ungläubigen aber macht der Tod das Ende aller seiner Glückseligkeit, wie den Anfang des äußersten Elendes. So ihr das denn wisst, so tretet auf die Wege und schaut und fragt nach den vorigen Wegen, welches der gute Weg sei und wandelt darinnen, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Jer. 6,16.
  2. Der Name dieser Lagerstätte hat zweitens eine böse Bedeutung, denn er bezeichnet eine Übertretung des Gesetzes. So steht das Wort Hos. 6,7.: Sie übertreten den Bund, wie Adam, darin verachten sie mich. So böse die Übertretungen sind, so nötig und nützlich ist es, sie gehörig zu erkennen. Dies macht ein Stück der Buße aus, derer wir vorhin erwähnten. Das heißt aber noch nicht, seine Übertretungen gehörig erkennen, wenn man zugibt, ein Sünder zu sein, wie alle Menschen Sünder seien, womit man denn weiter. Nichts meint, als dass Niemand vollkommen und fehlerfrei sei. Im Grunde schlagen die Menschen ihre Übertretung nicht höher an, als im Natürlichen den Schnupfen. Einige zärtliche Leute brauchen was dagegen, die Meisten aber betrachten ihn als eine Unpässlichkeit, die sich von selbst verliert, möchte er auch zuweilen schlimme Folgen nach sich ziehen. Will man sie über die Tiefe und Größe des menschlichen Elends belehren, so dringt man ihnen einen sehr unangenehmen Dienst auf, erregt ihren Unwillen und Widerspruch. - Doch der Herr führt diejenigen, welche er nach Kanaan bringen will, zuvor nach Abrona in die Erkenntnis ihrer Übertretungen. Er legt ihnen durch seinen Geist insbesondre irgend eine einzelne Übertretung offen, dass sie sich nicht für unschuldig, sondern strafbar achten müssen, wie ein Aussätziger ganz für unrein geachtet wurde, wenn er auch nur eine einzelne Beule an sich trug. Er deckt ihnen aber auch ihren ganzen fleischlichen Sinn als einen solchen auf, der fürs Himmelreich durchaus nicht passt und ganz umgeändert werden muss. Die rechte Selbst- und Sünden-Erkenntnis ist aber mit aufrichtiger Reue und Herzeleid verbunden, ja nicht selten mit Augst und Schrecken, wenn der Mensch zugleich seinen Unglauben fühlen muss, so dass er Gott nichts Gutes zutrauen kann, wenn seine Augen nicht darauf gelenkt werden, wie er sich im Evangelium, sondern vielmehr, wie er sich im Gesetz offenbart hat und ihm mehr seine Heiligkeit als seine Gnade entgegenstrahlt. Da haben schon Manche geschrien: Wehe mir, ich vergehe! und mit Ängstlichkeit gefragt: Was muss ich tun, dass ich selig werde? Ja, ein Jeder muss in dies Abrona, in diese bußfertige Erkenntnis seiner Sünde eingeführt werden. Dies ist der Pflug, durch welchen der Acker des Herzens muss umgestürzt und fürs Evangelium zubereitet werden.
  3. Doch hat dieser Name drittens auch die angenehme Bedeutung der Wegnahme dieses Elends. In diesem köstlichen Sinne braucht es Nathan 2. Sam. 12,13. Er war auf göttlichen Befehl zu dem Könige David gegangen, ihm auf eine sehr geschickte Weise zur Buße wegen seiner begangenen, schweren Sünde zu bringen, welche etwa seit einem Jahre und drüber auf ihm gelegen. Es gelang vollkommen; der König wurde ganz zerknirscht und gab seine Bußfertigkeit durch wenige, aber aus der Tiefe seines Gemüts hervorquillende Worte zu erkennen, indem er sagte: Ich habe gesündigt wider den Herrn, worauf ihm der Prophet erwiderte: So hat auch der Herr deine Sünde weggenommen; wobei ich gern bemerke, dass eine sehr alte jüdische Schrift, eben aus dem Wörtlein auch auf eine freilich sehr gekünstelte Art beweisen will, dies Wörtlein gebe zu erkennen, dass ihm die Sünde durch den Messias vergeben sei, ein Beweis, dass die altjüdische Kirche die Vergebung der Sünde aus der rechten Quelle, nämlich Christo hergeleitet habe. Hiob braucht dies Wort, wovon unsere Lagerstätte ihren Namen hat, Kap. 7,21. auch, wenn er daselbst, freilich etwas sonderbar, fragt: Warum vergibst du mir meine Missetat nicht und nimmst nicht weg meine Sünde? Micha bedient sich desselbigen Wortes, wenn er Kap. 7,18. voll Verwunderung ausruft: Wo ist ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Missetat den Übrigen seines Erbteils; der seinen Zorn nicht ewig behält, denn er ist barmherzig! Dies Wegnehmen der Sünde geschah überhaupt durch das Opfer Christi, wodurch das Lamm Gottes der Welt Sünde auf sich nahm und wegtrug, wodurch sie in die Tiefe des Meeres versenkt und hinter das Angesicht Gottes zurückgeworfen wurde, wo sich das Scharlachrot in Schneeweiß umwandelte, und er die Handschrift unsrer Sünde auslöschte. Jesu Todestag war der große Tag, von welchem Gott schon 500 Jahre vorher durch den Propheten Sach. 3,9. hatte weissagen lassen: Ich will die Sünde des Landes wegnehmen auf einen Tag. Dies gilt für immer; denn mit diesem einigen Opfer hat er in Ewigkeit vollendet, die geheiligt werden. Weil er ein Opfer gebracht hat, das ewiglich gilt, sitzt er nun zur Rechten Gottes, und in diesem einigen Opfer Jesu Christi, einmal am Kreuz geschehen, stehet unsere ganze Seligkeit. Um desselben willen geschieht die Gerechtsprechung des bußfertigen Sünders in dem Gerichte Gottes, wo er von allen seinen Sünden wird losgesprochen und in das Recht zum ewigen Leben wird eingesetzt. Nun ist sein Glück für immer und ewig gemacht; Niemand darf ihn seiner begangenen Sünden wegen nicht einmal beschuldigen, will geschweigen verdammen, denn Gott ist hie, der gerecht spricht. Frei wird er von aller Gewalt des Teufels, denn der Verkläger der Brüder wird verworfen, und sie haben ihn überwunden durch des Lammes Blut - frei wird er von allem Zorn Gottes, denn so weit der Aufgang der Sonne ist vom Niedergang, also weit tut er unsere Übertretung von uns frei von aller Strafe, denn die lag auf ihm frei von aller Sünde, welche ihn fortan weder verdammen noch beherrschen darf. Dagegen bekommt er die Gerechtigkeit, welche der Sohn Gottes durch seinen allervollkommensten Gehorsam erwarb, indem ihm dieselbe also zugerechnet wird, als hätte er sie in eigner Person vollbracht und nie einige Sünde begangen noch gehabt. Er bekommt ein Recht an alle Güter des Hauses Gottes, hat Frieden mit Gott durch Jesum Christum, empfängt den heiligen Geist und das ewige Leben. Jedoch hat der bußfertige Sünder erst alsdann den Genuss und die Freude davon, wenn ihm diese, ihm widerfahrene Barmherzigkeit und Begnadigung durch den heiligen Geist im Herzen versiegelt und bekannt gemacht wird, dass er's selbst glauben, sich zueignen und sich darüber freuen kann. Als David durch Nathan der Vergebung seiner Sünden versichert war, lag er doch noch die ganze Nacht auf der Erde und fastete bußfertig, dichtete den 51sten Psalm und ließ ihn öffentlich absingen. Als aber der Herr die Gebeine heilte, die zerschlagen waren, da erst opferte er Dank. Als des Herrn freudiger Geist ihn enthielt, da rief er aus: Lobe den Herrn, meine Seele! So verhält sich's auch noch. Bringt der heilige Geist dies Ölblatt des Friedens in das Herz, so wird es der Herrlichkeit des Herrn voll, voll Lobens und Dankens, denn da vergabst du mir die Schuld meiner Übertretung. Sela. Dafür werden dich alle Heiligen bitten zur rechten Zeit. O, ein herrliches Abrona, welch' ein herrliches, unvergleichliches Lager! Wer da je gewesen ist, der weiß, was eigentlich Freude sei; dem wird's ein Geringes, alle Weltlust zu verschmähen. Hieraus entspringt sodann auch die zweite Art der Wegnahme der Sünde, welche in der Erneuerung und Heiligung besteht. Dies Wasser ist bei jenem Blute. Bei jener Bekanntmachung der Begnadigung vor Gott um Christi willen lässt sich, so zu reden, auch eine vollständige Erneuerung in die Seele hernieder. Mit dieser lieblichen Geißel treibt Jesus alle Käufer und Verkäufer aus der Seele hinaus, stößt die Tische der Wechsler um, gebeut: Tragt dies von dannen und macht die Seele zu einem Bethaus. Da verschwinden alle Sünden, wie ein Strohhalm in der Glut. Die Seele fühlt sich eben so heilig als selig. Sie kommt aus Ägypten nach Ramses, wo lauter Jubel und Freude ist, dass auch kein Hund sich mucken darf, sie anzubellen. Jedoch macht's sich noch anders. Es kommt das Kreuz. Das innere Verderben wird deutlicher erkannt, sowie die gänzliche Abhängigkeit von dem Herrn und seiner Gnade. Die Erneuerung bleibt hienieden mangelhaft, wird aber doch zuletzt und bald zur Vollkommenheit geführt. Nach dieser Vollkommenheit sehnt sich der Geist und ach, wie wohl wird's ihm tun, wenn alle Bande einst gelöst, alle Hindernisse weggeräumt sind, wenn alle Kräfte des Geistes in ihn ausgegossen sind, und er ganz vollkommen Gott dienen, lieben und verherrlichen kann in Ewigkeit!
  4. Das Wort, wovon unsre Lagerstätte den Namen führt, hat noch mehr Bedeutungen. Es heißt auch Zorn. So sagt Gott zum Hiob 40,6. Solltest du mich verdammen, um dich selbst zu rechtfertigen? Hast du einen Arm, wie Gott, und kannst du donnern, wie er? Schmücke dich mit Pracht und erhebe dich, ziehe dich löblich und herrlich an. Streue aus den Zorn deines Grimms. Schaue an die Hochmütigen, wo sie sind, und demütige sie. Aber des Menschen Zorn tut nicht, was recht ist. Zürnt ihr derhalben, so sündigt nicht. Lasst die Sonne nicht über euerm Zorn untergehen. Zieht aber an, als die Heiligen und Geliebten herzliches Erbarmen. Möchte diese Zorneskraft aufs rechte Ziel gerichtet sein und der Entrüstung Christi gleichen, welche gegen die Sünde und Alles anging, was der Ehre Gottes zuwider war; möchte diese Eiferskraft sich im Dienste und Lobe des Herrn äußern, dann wäre es wohl was Vortreffliches. Aber so heftig die Menschen in ihren Sachen, so träge sind sie im Dienste Gottes. Die Schrift redet auch vom Zorn Gottes, und indem Moses Ps. 90 davon redet, spricht er Vers 11: Wer glaubt es, dass du so sehr zürnst? und wer fürchtet sich vor deinem Grimm? Vielleicht starben eben hier nach der göttlichen Drohung eine große Menge Menschen, welches Anlass gab, dieser Lagerstätte einen Namen zu geben, der auf Zorn deutet. Was ist fürchterlicher, als der Zorn Gottes! Wie ernstlich sollte nicht ein jeder auf Abwendung desselben bedacht sein, und dennoch wie groß ist die Menge derer, von welchen Mosis so eben angeführtes Wort gilt: Wer glaubt es, dass du so zürnst? Daher auch kein Zufluchtnehmen zu Christo. Welch ein Jammer! Wie unverantwortlich, in Abwendung des allergrößten Übels so gleichgültig zu sein! Es gibt aber auch einen göttlichen Zorn, der dennoch väterliche Absichten hat, wie schmerzhaft und verwundend auch seine nächsten Wirkungen sind. So heißt es Ps. 78,62.: Er entbrannte über sein Erbe, und Ps. 89,39.: Aber nun verstößt du und verwirfst, und zürnst mit deinem Gesalbten. Du verstörst den Bund deines Knechtes und trittst seine Krone zu Boden. Doch wird die Kirche nach Jes. 12. sagen: Ich danke dir Herr, dass du zornig bist gewesen über mich, und dein Zorn sich gewendet hat, und tröstest mich. Vermutlich kamen die Kinder Israel hier ihrer Sünden wegen von innen und außen in allerlei schwere Umstände, und wurden tief zerknirscht und zerschlagen, wie es denn denen geht. Es ist deiner Sünden Schuld, dass du so gestäupt wirst.
  5. Das Wort, was unsrer Lagerstätte, gab auch den Juden den Namen Hebräer. So war schon Abram 1. Mos. 14,13. genannt, und Luther übersetzt es: dem Ausländer. Wir müssen alle geistlicher Weise Hebräer, d. i. solche sein, welche in einen andern Ort versetzt sind. Uns allen steht eine baldige Versetzung aus dieser in die andere Welt bevor, aus der Zeit in die lange Ewigkeit. Wir eilen zu der Ewigkeit, Herr Jesu, mach' uns nur bereit! Das ist eine sehr wichtige Versetzung, die gewiss geschieht, obschon der eigentliche Zeitpunkt derselben uns unbekannt ist. Es tut daher Not, dass wir uns bei Zeiten darauf gefasst machen, zubereiten und bereit machen lassen. Wie sollt ihr denn geschickt sein mit heiligem Wandel, sagt 2. Petrus 3,11., dass ihr wartet und eilt zu der Zukunft des Tages des Herrn. Christus aber ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Soll die Versetzung in die andere Welt glücklich für uns ablaufen, so müssen wir schon zuvor versetzt sein aus dem Stande der Natur in den Stand der Gnade, aus dem Zorn in die Kindschaft. Der Gottlose wird Ps. 37,35. ein grüner Lorbeerbaum genannt, eigentlich ein Baum, der nicht verpflanzt ist, und deswegen sein frisches Grün behält; denn ein Baum, der verpflanzt wird, trauert eine Zeit lang. Und so geht es auch im Geistlichen. Die Natur stirbt ab und ein neues Leben tritt an die Stelle. Die Versetzung geht nicht ohne Schmerzen ab.
  6. Endlich bezeichnet Abrona, wenn wir es als aus zwei Worten, nämlich Ab und Rona bestehend betrachten, ein starkes Getön, ein heftiges Geschrei in mancherlei Betracht, so wie es auch im Christenleben vorzukommen pflegt. Der Pfau beim Hiob 39,13. hat seinen Namen davon wegen seines lauten und durchdringenden Geschreis. Hat das Haupt und der Herzog der Gemeine am Tage seines Fleisches ein starkes Geschrei erhoben, so mögen die Glieder sich auch darauf gefasst halten. Das Verlangen kann so stark, die Not so drückend, die Begierde nach Hilfe so heftig werden, dass sie in ein lautes Geschrei ausbricht. Jener blinde Bettler sprach nicht, er rief laut: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner. Von jenem kananäischen Weiblein sagen die Jünger: Sie schreit uns nach. Zu Mose sprach der Herr: Was schreist du zu mir? Denn obschon sein Mund am roten Meer nichts redete, so war doch seine heftige Begierde, nach Errettung aus der Hand Pharaos, vor Gott ein durchdringendes Geschrei, und David rief aus der Tiefe seiner Not. Und Gott will um Hilfe angeschrien sein, nicht mit der Heftigkeit der Stimme, denn auch unser Seufzen ist ihm nicht verborgen, sondern mit der Lebhaftigkeit des Verlangens, das nicht auf eine laue, sondern feurige, inbrünstige Weise Rettung begehrt. Der Name unsrer Lagerstätte deutet ferner auf eine Inbrunst im Weinen, wovon es uns auch nicht an den merkwürdigsten Exempeln mangelt. Oben an steht wiederum der Herzog unsrer Seligkeit, den wir dreimal in den bittersten Tränen gebadet erblicken. Die letzten und bittersten vergießt er in unaussprechlicher Seelennot wegen unsrer Sünde, die er beweint als der große Büßende, und uns zugleich ein Vorbild gibt, dass wir sollen nachfolgen seinen Fußstapfen. Seht den großen Erzvater Jakob, sein Flehen um den Segen mit Bächen von Tränen würzen, seht ihn mit diesen Waffen mit Gott und Menschen kämpfen, und indem er unterliegt, siegen. Seht, wie Petri Aufgeblasenheit seinen Himmel mit dichten Wolken überzieht, die sich aber glücklicher Weise bald in einen milden Tränenstrom wieder herabsenken; seht ihn und seine Mitjünger und Mitjüngerinnen um den göttlichen Toten weinen, dessen Tod die unversiegbare Quelle alles Segens ist. Johannes weint über die Maßen, als es scheint, dass Niemand würdig gefunden wird des Buches der göttlichen Ratschlüsse sieben Siegel zu brechen, bis ein himmlischer Ältester seinen Tränen dadurch Einhalt tut, dass er ihn erinnert an den Sieg des Löwen aus dem Stamme Juda. Darum, weine nicht! Lag in jenen Tränen Petri der bittere Wermut eigner Verschuldung, welch' ein Himmel spiegelte sich in den Tränen jenes Weibes zu Jesu Füßen, die das Wort von ihm empfing: Dir sind deine Sünden vergeben, gehe hin in Frieden. David schwemmte sein Bett mit Tränen. O, heilsame Tränen der Buße! O, süße Tränen der Wehmut! O, wonnevolle Tränen des Dankes! Der heilige Geist mache uns oft also weinen!
  7. Ab-Rona bezeichnet ferner eine kräftige Freude. Der Gerechte freut sich und hat Wonne, sagt Salomo Spr. 29,6., woraus jenes mächtige Jauchzen entspringt, wovon es beim Hiob 38 heißt: Alle Morgensterne lobten mich und es jauchzten alle Kinder Gottes. Israel wird auch von Zeit zu Zeit in ein Ab-Rona gelagert, wo Alles sehr kräftig ist, wo es namentlich in Loben und Danken, ja in ein lautes Jauchzen ausbricht. Das Auge wird von Tränen errettet, der Fuß vom Gleiten. Ein herrliches Ab-Rona, ein herrlicher Übergang, in seiner ganzen Fülle dort oben jenseits des Jordans, doch im Vorgeschmack auch schon hienieden, besonders nach neuen Proben. Und wo wäre das Kind Gottes, das nicht von Zeit zu Zeit etwas davon schmeckte, und vor gutem Mute in dem Herrn jauchzen könnte? Des Stummen Zunge soll nach Jes. 35. Lob sagen, und wenn nach 3. Mos. 9,24. Feuer vom Himmel kommt auf den Altar und das Opfer verzehrt, so fällt alles Volk nieder auf sein Angesicht und frohlockt, wie dort das Volk das Geschrei erhub: Der Herr ist Gott, der Herr ist Gott!
  8. Ab-Rona bezeichnet auch eine Kraft im Gebete, wenn der heilige Geist recht als ein Geist des Gebets in und über eine Seele kommt, dass sie, wie David sich ausdrückt, ihr Herz findet, in nicht gewöhnlicher Weise ein Gebet zu tun, ein Gebet der Inbrunst, das lange fortlodert, das nicht ablässt, das dem Himmelreich Gewalt tut - ein Gebet des Glaubens, wovon Christus sagt: Alles, was ihr bittet in eurem Gebet, glaubt nur, so werdet ihr's empfangen ein Gebet voll heiliger Andacht, welches die Welt und sich selbst vergessen macht ein Gebet der Verleugnung, wo die Seele nichts und Alles begehrt - ein Gebet voll himmlischer Salbung, wo weder Tränen. noch Loben mangeln, und das gewisslich durchdringt, und wie Noahs Taube mit dem Ölblatt des Friedens im Munde zurückkehrt. Herr lehre uns also beten! Insbesondere bezeichnet es eine kräftige Fürbitte. Vermag überhaupt das Gebet des Gerechten viel, wenn es ernstlich oder eingewirkt ist, so gilt das auch von der Fürbitte in solchem Maße, dass selbst ein Eliphas von Theman beim Hiob 22,29. sich äußert: Wirst du dich bekehren zu dem Allmächtigen, so wirst du gebaut werden. Wird man Jemand erniedrigen, und du wirst sagen: Er werde erhöht, so wird der Niedrige erhalten werden. Er wird auch den erhalten, der nicht unschuldig ist, um deiner Fürbitte willen, welches Eliphas selbst erfahren musste. So tut denn Bitte, Gebet und Fürbitte für alle Menschen.

Also ist diese Lagerstätte ein Gegensatz gegen alle Halbheit, Lauheit und träges Wesen. Sie bezeichnet etwas Ganzes, Entschiedenes, Lebendiges, etwa das, was wir in den Worten des 38sten Liedes begehren:

Rühr' mit Eiferskohlen,
Vom Altar zu holen, Meine Lippen an:
Dass, so lang ich Atem ziehe,
Mich in Gottes Ruhm bemühe.

In der Natur nähern wir uns dem Winter. Möchten wir in geistlicher Beziehung dem Frühling und Sommer entgegeneilen. Die natürliche Sonne ist am Weichen, ihre Strahlen werden immer matter, und ihr Angesicht ist uns immer kürzere und kürzere Zeit zugekehrt. Die Lebenssonne leuchte und belebe uns in zunehmender Weise. Unsers Mondes Glanz werde wie der Sonnenglanz, und der Sonnenschein werde siebenmal heller, denn jetzt. Die wahrhaftige Wolken- und Feuersäule ziehe vor uns her und bereite uns recht auf das große Ab-Rona, auf einen seligen Übergang aus der Zeit in die Ewigkeit, aus dem Streit zur Ruhe, aus dem Elend zur Herrlichkeit, durch die Kraft des heiligen Geistes. Da werd' ich meinen Gott stets loben. Amen.

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