Krause, Cäsar Wilhelm Alexander - Was lehrt Jesus vom jüngsten Tage?
Predigt am zweiten Sonntag des Advents.
Mein Gott, nimm mich nicht fort in der Hälfte meiner Tage! Deine Jahre währen für und für. Du hast vorhin die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk. Sie werden vergehen, aber du bleibest. Sie werden alle veralten wie ein Gewand; sie werden verwandelt wie ein Kleid, wenn du sie verwandeln wirst. Du aber bleibst, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende. Amen. 1).
So, geliebte Gemeinde, rühmt der Psalm die Ewigkeit und Unveränderlichkeit Gottes gegenüber der Veränderlichkeit und Vergänglichkeit der Welt. Aus dem Nichts hat sein allmächtiges Schöpferwort sie hervorgebracht, hat sie, wie solches der allgemeine Ratschluss der schaffenden Weisheit zu sein scheint, in geregeltem Entwicklungsgang den Grad der Ausbildung gewinnen lassen, den wir jetzt sehen, wird sie sicher auch weiter führen auf der Bahn, die er ihr angewiesen hat, und in seiner Macht steht es, sie zu verwandeln, sie in das Nichts wieder aufzulösen, aus dem er sie hervorgerufen. Aber wird das wirklich einmal geschehen? Das ist eine Frage, die die Menschen gar vielfach schon beschäftigt, nicht selten sie in Angst und Schrecken versetzt hat, deren Beantwortung aber jedenfalls eine würdige Aufgabe für ihre Wissenschaft ist. Allein welche Grundlagen, welche Anknüpfungspunkte für dieselbe bieten sich dar? Wohl kann man aus der Beschaffenheit, aus dem bisherigen Bildungsgange eines Wesens auf die in demselben wirkenden Naturgesetze und auch auf die nach diesen wahrscheinliche Fortbildung desselben schließen; aber solcher Schluss ist immer ein gewagter, teils weil uns dazu die Gesetze der schaffenden Natur zu wenig bekannt sind, teils weil aus ihnen immer nicht die Grenze der Fortbildungsfähigkeit eines Wesens festzustellen sein würde. Und dann sind es ja auch nicht tote Gesetze, es ist ein lebendiger Geist, es ist Gott, der über ihnen steht, dessen Wille und Ratschluss sich in ihnen ausspricht; wer aber hat des Herrn Sinn erkannt? Darum werden die Fragen: Was wird der Mensch, was wird das Menschengeschlecht, was wird die Erde einst sein? immer auch ein Gegenstand des religiösen Nachdenkens sein, und die Antwort, welche solche Manner, in denen wir die Träger einer göttlichen Offenbarung verehren, darauf geben, wird für uns immer entscheidend sein müssen, und um so mehr sein können, wenn wir uns überzeugen, dass sie mit den von uns erkannten Gesetzen der natürlichen und der sittlichen Welt in vollem Einklange stehen.
Solche Antwort auf diese Frage geben uns denn auch die heiligen Urkunden unsers Glaubens. Aus dem Munde Jesu haben wir die Zusicherung, dass der Mensch zum ewigen Leben berufen sei, wie er es ja sein muss, wenn die ihm gestellte Aufgabe: nach der Vollkommenheit zu streben, nicht ein leerer Klang sein soll; dass ein Gericht ihn erwarte; dass aber auch dem ganzen jetzigen Zustande dieser Erde ein Ziel gesetzt sei, und dem Menschengeschlecht mit ihm. Er lehrt uns dies, teils um seiner Zeit verständlich zu werden, teils weil wir ja für das, was nicht in den Kreis unserer Sinne oder Erfahrungen fällt, eigentliche Bezeichnungen nicht haben, im Gewande des Gleichnisses, des Bildes, und es ist nun unsere Ausgabe, aus dem Bilde den Kern seiner Lehre heraus zu finden, ihn anzunehmen und geistig zu durchdringen. Solche Unterweisung enthält auch unser heutiges Sonntagsevangelium. Jesus spricht in demselben von dem jüngsten Tage. Mit ihm haben sich die Menschen schon sehr viel zu schaffen gemacht, besonders zu jener Zeit, da die wörtliche Auffassung des Schriftwortes noch für die einzig berechtigte galt, ja zu den Glaubensartikeln gehörte, und in deren Folge der Aberglaube noch weiter als jetzt verbreitet war. Da wurde oftmals der jüngste Tag als nahe bevorstehend verkündigt, aus jeder auffallenden Naturerscheinung glaubte man auf seine Nahe schließen zu können, und solche Verkündigung verfehlte dann nicht, Angst und Schrecken hervorzubringen, und die Menschen zu mannigfachen Torheilen zu veranlassen. Da aber diese Voraussagungen sich immer als grundlos erwiesen, so gab es Viele und gibt deren noch, welche den jüngsten Tag in das Gebiet der Träume verweisen zu dürfen glaubten, wie denn der Aberglaube ja immer die Wirkung hat, dass er als Gegensatz den Unglauben hervorruft. Beides, wie ich glaube, ist unrecht, und die Wahrheit liegt auch hier wohl, wie gewöhnlich in der Mitte. Jedenfalls weiß ich keinen sichereren Bürgen für sie zu finden, als Jesum, und dass er von dem jüngsten Tage spricht, scheint mir unleugbar. Darum ist es unsere Christenpflicht sein Wort zu hören; das wollen wir auch heute tun und daraus die Frage beantworten:
Was lehrt Jesus vom jüngsten Tage?
(Gesang. Gebet.) Evangelium Lukas 21,25-36.
In dem vorgelesenen Evangelio, nicht minder in dem 24. Kapitel des Evangeliums des Matthäus, in dem 13. des Evangeliums des Markus spricht der Heiland ausführlich von dem einstigen Ende des jetzigen Zustandes der Dinge auf Erden in unmittelbarer Verbindung mit seiner Hinweisung auf die nahe bevorstehende Zerstörung Jerusalems. Wenn in Folge dessen auch die ersten Christen sich das Eintreten beider Ereignisse als unmittelbar verbunden dachten, und darum eine Wiederkehr des Herrn noch bei ihrem Leben erwarteten, wie solche Hoffnung selbst von den Aposteln in einigen Stellen ausgesprochen wird2), so hat die Erfahrung diese Hoffnung genügend widerlegt. Daraus folgt aber nicht, dass, weil das letzte Ereignis nicht in derjenigen unmittelbaren Verbindung mit dem ersten eintraf, in welcher die Apostel es setzen zu dürfen glaubten, es darum überhaupt nimmer eintreffen werde. Vergleichen wir vielmehr die Rede Jesu in dem heutigen Evangelio mit seinen übrigen Aussprüchen über den gleichen Gegenstand, und betrachten wir sie genauer, so gewinnen wir dadurch die unumstößliche Überzeugung:
Jesus lehrt jedenfalls, dass einmal ein solcher Zeitpunkt, der gewöhnlich der jüngste Tag genannt wird, eintreten werde, und wir erkennen zugleich den Grund, warum seine Bekenner auf Erden würden erdulden müssen, und mit der Ankündigung der furchtbaren Zerstörung, welche dem jüdischen Tempel und dem jüdischen Reiche bevorstehe: er wollte dadurch ihre noch immer gehegten irdischen Erwartungen gründlich zerstören. Wie fest die Jünger an diesen hielten erkennen wir ja daraus, dass sie selbst nach seiner Auferstehung ihn noch fragten: Herr, wirst du auf diese Zeit wieder aufrichten das Reich Israel?3) Um so mehr schmeichelten sie sich noch vor seinem Tode mit der Hoffnung auf ein weltliches Messiasreich, in welchem sie zeitliches Glück und irdische Herrlichkeit als den Lohn ihrer Treue gegen den von ihnen erkannten Messias erwarteten4), und Jesu musste alles daran gelegen sein, diesen tiefeingewurzelten Wahn bei ihnen zu beseitigen. Darum verkündet er ihnen die Feindschaft der Welt, die Verfolgung, den Märtyrertod, verkündet ihnen die Vernichtung des jüdischen Tempels und Reiches, damit sie nicht mehr an ein weltliches zu Jerusalem von ihm aufzurichtendes Reich denken möchten, wie die National-Hoffnungen der Juden solches von dem Messias erwarteten. Damit aber diese irdischen Hoffnungen sich nicht an irgend einen andern Zeitpunkt dieses Lebens knüpfen möchten, setzt er hinzu: Nicht eher werde sein Reich äußerlich kommen, bis die jetzige Ordnung der Dinge auf dieser Erde, bis das jetzt sie bevölkernde Geschlecht von Menschen seine Bestimmung erreicht haben werde, wo dann eine neue Weltordnung bevorstehe. - Wir erkennen daraus einen dreifachen Zweck, um dessentwillen der Heiland diese Lehre so nachdrücklich vortrug: zuerst um die irdischen Messiashoffnungen der Jünger gründlich zu zerstören; dann, um ihnen zu zeigen, dass das Menschengeschlecht keineswegs für die Ewigkeit an diese kleine Erde und ihren jetzigen Zustand gebunden sei, sondern eine weitere Entwicklung ihr bevorstehe, und endlich, um sie zu einer solchen Gewissenhaftigkeit des Denkens und Lebens zu bewegen, dass sie zu jeder Zeit bereit sein möchten, vor den Stuhl des Richters zu treten, und Rechenschaft von ihrem Wandel abzulegen. - Aus der Wichtigkeit dieser Lehren lasst sich denn auch natürlich der Nachdruck erklären, mit welchem Jesus diese Lehre vorträgt. Er will sie recht innig seinen Jüngern an das Herz legen. Darum bedient er sich, der Sitte seines Volkes und seiner Zeit gemäß, sinnlicher und ergreifender Bilder, schildert diese Ereignisse als eine Versammlung aller Menschen vor dem Richterstuhle des Ewigen und seines Gesandten, berufen von dem Weltdurchdringenden Tone der letzten Posaune, begleitet von gewaltigen Naturerscheinungen - bedeutungsvolle Bilder und Gleichnisse, wie sie der Sprache des Morgenländers so eigen sind, wie wir sie ja auch in andern Reden Jesu vorfinden und wegen ihrer Kraft und Schönheit bewundern.
Entkleiden wir nun diese Rede ihres bildlichen Ausdrucks, so finden wir nichts, dessen Wahrheit irgend wie zu bezweifeln stände, wohl aber Alles geeignet, den tiefsten sittlichen Eindruck auf den Geist und das Herz der Menschen zu machen.
Diese Ordnung der Dinge auf Erden soll also einmal aufhören! Bewundern und als einen Beweis seiner göttlichen Erleuchtung ansehen muss man es, dass Jesus dies zu seiner Zeit, da die Wissenschaft noch schlief, so klar erkannte und verkündete - an der Wahrheit dieser Verkündigung kann aber heute kein Mensch mehr zweifeln. Schon Moses lehrt uns in seiner Schöpfungsgeschichte mit bewundernswürdiger Wahrheit, dass diese Erde, welche wir bewohnen, nicht durch eine einzige Tat des Schöpfers in der Gestalt und Einrichtung hergestellt ist, in welcher wir sie jetzt sehen, sondern dass sie verschiedene Entwicklungsperioden, die er Tage nennt, durchgemacht hat, und die Wissenschaft bestätigt dies durchaus. - Ja es hat einmal einen Zeitraum gegeben, da die Erde noch wüste und leer war, denn die in ihm entstandenen Schichten unserer Erdrinde enthalten weder Spuren von Pflanzen noch von Tieren. Ihm ist ein anderer Zeitraum gefolgt, in welchem schon ein Pflanzenzenreich die Erde bedeckte, von welchem mächtige Überreste auf uns gekommen sind. Diesem Zeitraum folgte ein anderer Tag des Erdenlebens, in welchem gewaltige Tiere diese Erde bevölkerten, wie wir sie jetzt nicht mehr lebend finden, deren Spuren aber ebenfalls uns erhalten sind, ohne dass aus ihrer Zeit ein Zeugnis für das Dasein des Menschen dargeboten würde. Alle diese Zeiträume sind durch gewaltige Umgestaltungen der Oberfläche unserer Erde begonnen und beendet worden - und wenn wir in dem jetzigen Zeitraum das Menschengeschlecht die Erde inne haben und bewohnen sehen, wollen wir denn so eitel sein zu glauben, dass sie damit ihren höchst möglichen Zweck erreicht habe, uns zu beherbergen? Wollen wir, wenn wir bis auf uns diese Erde in steter Fortbildung erblicken nun willkürlich behaupten: das bisher geltende Gesetz habe uns zu Ehren zu wirken aufgehört? Nein, es wird ein Tag kommen, da der Himmel Kräfte sich wieder bewegen, die Wasserwogen wieder brausen werden, um, nach dem Willen des Vollkommenen, der Alles zur Vollkommenheit sich entwickeln lassen will, weil seine Liebe Alles zu sich heranzieht, eine neue vollkommenere Ordnung der Dinge auf dieser Erde zu gestalten. Was Jesus vorher verkündigt, wird eintreten, und der Tag, an welchem Solches geschehen wird, wird für die jetzige Weltgestaltung der letzte, der jüngste Tag sein.
So wie für diese, so auch für das Menschengeschlecht in seiner jetzigen Ausstattung. Oder wollen wir zweifeln, dass dasselbe auch als ein Ganzes seine große gottgegebene Bestimmung habe, zu deren Erreichung jeder Einzelne nur seinen Teil beizutragen hat? Wollen wir daran zweifeln, dass diese Aufgabe einmal erfüllt, werden werde, die wir ja sehen, welche mächtigen Fortschritte in geistiger und sittlicher Bildung große Teile dieses Menschengeschlechtes in wenigen Jahrtausenden getan haben; und was sind diese Jahrtausende im Vergleiche zu der Ewigkeit Anders, als eine kurze Spanne Zeit? Wollen wir zweifeln, dass was einzelnen Völkern gelang endlich auch allen Menschenstämmen gelingen, dass sich an ihnen der Wille Gottes erfüllen werde, nach welchem allen Menschen geholfen werde, alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen sollen?5) Müssen wir es nicht ganz natürlich und vernünftig finden, dass dem Menschengeschlecht dann, wenn es das in der jetzigen Weltgestaltung Erreichbare erreicht hat, ein anderer, seinen dann erlangten Kräften von Neuem entsprechender, eine noch weitere Entfaltung derselben anregender und zulassender Wohnplatz hier oder anderswo werde angewiesen werden? Ja gewiss, Jesus lehrt es, dass ein jüngster Tag für diese Erde einstmals eintreten werde, und Vernunft und Wissenschaft stimmen ihm darin vollkommen bei.
Aber mit diesem Tage soll auch ein allgemeines Gericht verbunden sein, und es fällt uns allerdings schwerer, dies für den Plan der göttlichen Gerechtigkeit notwendig zu erkennen, wie denn auch die Aussprüche Jesu über diesen, doch jedenfalls geistig zu fassenden Hergang auch dunkler und bildlicher sind. - Jeder Mensch hat zuvörderst seinen eignen jüngsten Tag - der, an welchem er stirbt, und an diesem muss auch notwendig ein Gericht eintreten. Denn nach dem ganzen geistigen und sittlichen Zustande, den ein Mensch bei seinem Scheiden von dieser Erde erlangt hat, muss sich der Zustand richten, in welchem er in die andere Welt eintritt, und darin spricht sich schon das Ergebnis eines Gerichtes aus. - Danach ließe sich wohl die Vermutung ausstellen, dass diese einzelnen jüngsten Tage, diese Einzelgerichte in dem Bilde eines Gesamtgerichtes zusammengefasst sind, denn der Unterschied der Zeit verschwindet ja vor dem Unendlichen, und am Ende der Tage werden sie alle vollzogen sein. - Der Umstand jedoch, dass Jesus sich als den Richter nennt, dass er alle Völker als versammelt darstellt, lässt auch eine andere Annahme als begründet erscheinen. Er hat sein Evangelium der Menschheit gebracht, damit sie durch dasselbe erlöst und für das Himmelreich erzogen würde. Das Evangelium ist die Sache nicht des einzelnen Menschen, sondern der Menschheit. Will Jesus etwa damit andeuten, dass die Menschheit, wenn sie ihren Lauf auf dieser Erde vollendet haben wird, von ihm zur Rechenschaft gezogen werden würde: Wie hast du, Menschheit, das Gnadengeschenk Gottes, das ich dir gebracht, angewandt und in dir wirken lassen? - Doch - wir müssen uns bescheiden, dies Dunkel nicht aufhellen zu können, wir müssen uns begnügen, aus dem Worte Jesu die allgemeine Wahrheit anzunehmen: dass mit dem Ende das Gericht komme. -
Und wann wird dieser Zeitpunkt eintreten? Das weiß Niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater6). So spricht Jesus! Sollte man glauben, dass nach diesem so entschiedenen Ausspruche des Herrn noch so Viele sich die unfruchtbare Mühe gemacht haben, diesen Zeitpunkt auszugrübeln und auszurechnen, und dadurch furchtsame und abergläubische Gemüter in Angst und Schrecken zu versetzen? Und doch ist es oft geschehen, ja schon die neutestamentlichen Schriftsteller haben diesen Zeitpunkt in einen so nahen Zusammenhang mit der Zerstörung Jerusalems gebracht, wie dies nach dem obigen Ausspruche des Herrn in der ursprünglichen Rede Jesu unmöglich der Fall gewesen sein kann, und wie es sich ja als unbegründet erwiesen hat. - Aber auch hier müssen wir uns wieder bescheiden, dass diesen Schleier zu lüften dem menschlichen Geiste nicht verstattet sei; vielmehr sind alle darauf hingerichteten Bestrebungen vermessen, und alle darauf sich etwa gründenden Vorherverkündigungen gehören in das Gebiet des Aberglaubens und können uns nicht mehr schrecken. Was Gott seiner Weisheit und seiner Macht vorbehalten hat, wollen wir in Demut erwarten, und den Herrn preisen, dass er es uns verborgen. Wir wissen nicht, wie nah oder fern der Zeitpunkt des Gerichtes uns ist, und das hat den doppelten Vorteil für uns, dass wir der mit dem Nahen des bekannten Zeitpunktes wachsenden Angst und Pein enthoben sind; aber auch, dass wir uns nimmer sicher fühlen dürfen, und es vielmehr als die wahre Lebensweisheit erkennen müssen, so zu leben und zu handeln, als wenn jeder Tag für uns der letzte wäre; in jedem Augenblicke uns bereit zu halten vor den Thron des Richters zu treten. - Und so stehen wir ja wirklich da, dass es keinen Augenblick der Sicherheit für uns geben kann; dass weder der Jugend Blüte, noch des Leibes Kraft und der Gesundheit Fülle unser Hiersein für den nächsten Tag sicher verbürgt, und der Mahnungen ergehen genug an uns, welche uns erinnern, dass jeder Tag unser jüngster, der Tag unsers Todes sein kann. Müssen wir auf diesen uns jederzeit vorbereiten, da wir ja wissen, dass Keiner ihm entgeht, hoffen wir jedoch durch Gottes Gnade und im Ringen nach dem Frieden eines guten Gewissens den Übergang aus dieser Welt in eine andere siegreich zu überstehen, - warum sollte uns denn vor jenem allgemeinen Tage der Wiedergeburt bangen und grauen? Wird sich nicht auch in ihm das Walten des Gottes kund geben, der die Liebe ist? Freilich schildert der Heiland uns diesen Zeitpunkt, als einen der Bangigkeit, des Schreckens und der Erwartung - aber doch als nichts Anderes, wie als eine außerordentliche Regung der Kräfte des Himmels und der Erde - mit einem Worte: der Naturkräfte; es ist die Stunde der Geburt einer neuen Ordnung der Dinge, und nach den allgemeinen Gesetzen der Natur ist jede Geburtsstunde, obwohl nur eine natürliche Entwicklung, doch immer ein Augenblick der Angst, der Bangigkeit, der Schmerzen, der Gefahr.
Wie groß diese aber auch sein mögen, Jesus lehrt uns auch von dem jüngsten Tag, dass wir seinen Schrecken entgehen können. So seid nur wacker alle Zeit und betet, spricht er, dass ihr würdig werden mögt zu entfliehen diesem Allen, und zu stehen vor des Menschen Sohn; und an einem andern Orte: So wacht nun, denn ihr wisst nicht, wenn der Herr kommt, auf dass er nicht schnell komme und finde euch schlafend. Was ich aber euch sage, das sage ich Allen; Wacht! Also auch uns ist diese Mahnung zugerufen; wir wollen sie daher beherzigen. Nur dann werden wir uns wacker halten in aller Zeit, wenn wir wachsam sind auf uns selbst, dass nicht irgend eine böse Neigung oder Leidenschaft bei uns einwurzele, denn um so schwerer wird es uns werden, sie auszurotten, je länger sie von unserem Herzen Besitz genommen hat; wachsam, dass nicht eitle Selbstzufriedenheit uns betrüge, indem sie uns zuflüstert, wir seien schon gut, während wir es doch erst, und immer besser werden sollen; wachsam auf die Zeit, in welcher wir leben, und ihre Zeichen, damit wir die aus ihnen sich für uns ergebenden Pflichten erkennen und ihnen genügen. Ist es so nun nicht schlechte Selbstsucht, sondern heilige Pflichttreue, welche uns erfüllt und in unserem Denken und Handeln uns leitet, so sehen wir getrost jedem Wechsel der Zeit und der Geschicke entgegen, und Tod und Gericht können den nicht schrecken, der treu ist in der Liebe. Denn auf diese Treue in der Liebe wird der Herr sehen wenn er kommen wird, die Seinigen zu richten, nicht auf ihr Glaubensbekenntnis, Das ist endlich das Wesentlichste, was er als Anweisung für unser Leben uns von dem jüngsten Tage verkündet, und dies Wesentliche haben die Menschen gerade am häufigsten übersehen, während sie über das Unwesentliche sich auf das Heftigste gestritten haben. Jesus stellt sich aber uns selbst im Bilde als Richter dar und alle Völker der Erde um ihn versammelt, und da fragt er nicht: Bist du katholisch oder reformirt oder lutherisch gewesen, hast du au Dies oder an Jenes geglaubt? sondern er spricht zu denen auf seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist vom Anbeginn der Welt. Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackend gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich so gesehen und haben dir das getan? Und der König wird antworten und sagen zu ihnen: Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt Einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan! - O, nur dies Eine lasst uns lernen von dem Herrn und es bewahren in einem treuen Herzen. Alles Andere können wir getrost Gott anheimstellen, dies aber ist unsere Sache; hier ist es uns ausdrücklich gesagt, worin wir sollen wacker sein, um den Schrecken des Gerichtes zu entgehen, nämlich darin, dass wir Liebe üben an unseren Brüdern; denn die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Amen.