Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die Berge der Bibel - 3. Der Nebo.

Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die Berge der Bibel - 3. Der Nebo.

Als die Zeit der irdischen Wallfahrt des Mannes Gottes Mose sich ihrem Ende entgegenneigte, da sprach der Herr zu ihm (5. Mose 32,49.): „Gehe auf das Gebirge Abarim, auf den Berg Nebo, der da liegt im Moabiterlande gegen Jericho über, und besiehe das Land Canaan, das ich den Kindern Israel zum Eigenthum geben werde, und stirb auf dem Berge, wenn du hinauf gekommen bist und versammle dich zu deinem Volk.“ Und Mose (5. Mose 34,1 und 5) „ging von dem Gefilde der Moabiter auf den Berg Nebo, auf die Spitze des Gebirges Pisga, gegen Jericho über – und Mose sah das Land Canaan mit seinen Augen – und starb auf dem Berge.“ Das ist die Erzählung der heiligen Schrift von dem Berge Nebo. Danach war er der Berührungspunkt des Gebirges Abarim und des Gebirges Pisga und lag nicht weit vom gelobten Lande in der moabitischen Aue im Osten des Jordan.

Dieser Berg Nebo ist oft von Reisenden aufgesucht worden. Einer der neuesten giebt uns folgende Schilderung von ihm: Der Berg steigt gegen Jericho über auf und bietet eine Aussicht so umfassend wie keine adre Stätte der Ostjordangegend. Dreißig bis sechzig Meilen weit überschaut das Auge die Berge und Thäler des heiligen Landes: unmittelbar zu den Füßen der Jordan, wie er herabströmt, mit den Gefilden Jerichos; Jerusalem und das Gebirde Juda, Bethlehem tritt klar hervor, das Gebirge Ephraim bis zu den Höhen Galiläas hinauf. Der Standpunkt ist nicht so hoch, daß das Einzelne verschwämme, wie es bei höheren Bergesgipfeln der Fall ist; das Auge kann sich der entzückenden Schöne freuen; das ganze heilige Land, so klein dem Umfange nach, so wunderbar in seiner Ausstattung, liegt vor dem staunenden Blicke ausgebreitet.

Auf diesem Berge starb Mose, der Mittler des alten Testamentes, der größte Mann der alten Weltgeschichte. Wie er einst selbst gesungen im neunzigsten Psalme: „Du lässest die Menschen sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder -; Du lässest sie dahin fahren wie einen Strom und sind wie ein Schlaf; gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blühet und bald welk wird, und des Abends abgehauen wird und verdorret“ -, so geschah ihm nun selbst. Mose war 120 Jahre alt, da er auf dem Berge Nebo starb. Seine Augen waren nicht dunkel geworden, und seine Kraft war nicht verfallen, doch, dennoch mußte er sterben.

Denn sie sterben,
Stoßen sich am Todesfelsen alle!
Mag das Aug‘ die glänzenden Krystalle
Ueberfunkeln; ach vom Roth der Wangen,
Von der lichtgebräunten Locke Prangen,
Von des Auges blauem Wiederscheine,
Vom Smaragd der kronenreichen Haine,
Von dem Gold der sommerlichen Garbe
Bleibt allein die graue Todtenfarbe.

Jeder Mensch hat am Ende seines Lebens seinen Nebo, an dem er nicht vorüberkommt, über den kein Stab ihn trägt, kein Gut, kein Geld, keine Macht, keine List ihn führt, an dem er müde liegen bleibt; dieser Nebo ist der Grabeshügel. Wir wissen nicht, wo das Moabiterland ist, in welchem dieser unser Nebo steht; wir wissen auch nicht, wann wir unsern Nebo besteigen müssen, um der Welt Valet zu sagen; aber wir wissen um so gewisser, daß wir ihn einmal früher oder später besteigen müssen. Und weil wir das wissen, so sollten wir mitten im Thale des Lebens uns oft, recht oft Zeit nehmen, an unsern Todesberg zu denken. Die tägliche Erinnerung an ihn würde uns vergessen lassen, was dahinten ist, und uns anstacheln, uns zu strecken nach dem, was vorne ist; sie würde uns die Güter dieser Welt als verwesliche Scheingüter erkennen lassen und unsere Liebe zu höheren Gütern zuwenden. Aber ach, der Sturm der Freudentage übertönt bei den meisten Lebendigen die leise Todesfrage. In gesteigertem Lebensgefühl hält die Welt die Fäden, die sie an die Erde knüpfen, für unzerreißbare Seile, und bedenkt nicht, daß die Geschlechter der Menschen sind wie die Blätter der Bäume. So kommt es denn, daß sie sich hier feste bauen und sind doch nichts als Gäste, und wo sie ewig sollen sein, da bauen sie nur selten ein. Lasset uns unsre Augen aufheben zum Nebo und an das Wort denken, das der Allmächtige zu Mose sprach: Gehe auf das Gebirge Abarim und stirb auf dem Berge! so wird sich auch mitten im Leben die Mosisbitte täglich auf unsre Lippen legen: „Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden!“

Zu einem alten frommen Manne kam einst eilenden Schrittes ein munterer Jüngling und rief: „Freue dich mit mir, mein Vater! Endlich, endlich hat mein Oheim die Einwilligung gegeben, ich darf nun auf die hohe Schule und ein Rechtsgelehrter werden, nun ist mein Glück gemacht!“ – Gut, mein Sohn, erwiederte der Alte, nun wirst du also fleißig anfangen zu lernen, doch - was dann? – „Nach drei Jahren werd‘ ich meine Prüfung bestehn und sicherlich mit Ehren gekrönt die Schule verlassen und meinen Beruf antreten!“ - Und dann? – „Dann werd‘ ich an Fleiß und Gewissenhaftigkeit es nicht fehlen lassen, man wird von mir reden weit und breit, mich aufsuchen und mir Vertrauen schenken!“ - Und dann? – „Dann werd‘ ich mir etwas ersparen und ein wohlhabender Mann werden, werd‘ ein rechtschaffenes Weib nehmen und mir einen eigenen Hausstand gründen?“ - Und dann? – „Dann werd‘ ich meine Kinder heranziehn, daß aus ihnen auch etwas werden kann, jeder das, wozu er grade Gaben hat, und sie werden wohlgerathen und in ihres Vaters Fußtapfen treten.“ - Und dann? – „Dann werd‘ ich mich zur Ruhe setzen, an meiner Kinder Glück mich freuen, ihre Liebe genießen und ein glückseliges Alter haben. „ - Und dann? – „Nun, immer kann man nicht auf dieser Erde bleiben, und wenn man’s könnte, es wäre nicht einmal gut, dann freilich, dann muß ich sterben.“ - Und dann? rief der Alte wieder, faßte ihn an beiden Händen und sah ihm in die Augen, mein Sohn, und dann? – Da verfärbte sich der muntere Jüngling und fing an zu zittern und die Thränen stürzten ihm aus den Augen. „Habe Dank, mein Vater, sprach er endlich, ich hatte die Hauptsache vergessen, daß dem Menschen gesetzt ist einmal zu sterben und dann das Gericht! Aber von heute an soll’s nicht mehr geschehn.“

Der Berg, auf dem Mose starb, lag an der Grenze Canaans, aber noch nicht in Canaan selbst. Mose sah von seiner Höhe, ehe seine Augen brachen, das gute Land, in welchem Milch und Honig fließt, in seiner ganzen Herrlichkeit, sah das Land, in das sein Volk einzuführen seines Lebens Aufgabe und Sehnsucht gewesen war; aber er selbst kam nicht mehr hinein, noch führte er das Volk hinein. Er starb an der Schwelle des heiligen Landes und mußte seinem Nachfolger Josua die Vollendung seines Werks, die Einführung des Volks in das Land der Verheißung überlassen. Es ist schmerzlich, wenn vor Erreichung erhabener Ziele, denen das Leben und die Arbeit des Lebens galt, der Tod plötzlich seine heisere Stimme erhebt: Bis hieher und nicht weiter! es ist schmerzlich, aber alltäglich. So starb König David, ehe er dem Herrn, seinem Gotte einen Tempel erbaut hatte und mußte seinem Sohne Salomo die Ausführung des Tempelbaues überlassen. So starben Jacobus, Stephanus und die heiligen Märtyrer alle; sie sahen die Ausbreitung des Reiches Gottes von ferne, aber wurden dahingerafft mitten in ihrer Arbeit. So starb in unsern Zeiten ein edler, gottinniger König, der Zeit seines Lebens gearbeitet hatte für das Wohl und Heil seines Volks, für das sein Herz, wie selten ein Königsherz schlug, er starb und mußte seinen Nachfolgern überlassen, die Gedanken seines Lebens im Werke zu vollenden. So stirbt mancher Vater, manche Mutter, ehe sie an ihrem Hause und ihren Kindern das Werk vollendet haben, dem ihre Liebe, ihre Mühe, ihre Sorge galt. Nicht blos unser Wissen, auch unser Leben unter dieser Sonne, ist Stückwerk. Dieser sät, der Andere schneidet; dieser arbeitet, der Andere tritt in die Arbeit. Einer hier, der Andre dort geht zur ew’gen Heimath fort, ungefragt ob die und der hier noch weiter nützlich wär‘. Wollte Gott, wir nähmen diese Predigt, die uns der Berg Nebo hält, ernstlich zu Herzen. So würden wir erkennen einmal, daß kein Mensch auf Erden unentbehrlich ist und sodann, daß es gilt zu wirken, so lange es Tag ist, weil die Nacht kommt, da Niemand wirken kann.

Unausweichlich nothwendig ist das Leben keines Sünders unter dieser Sonne. Kein Mensch hier ist unentbehrlich. Wenn Gott der Herr einen Mann, wie Mose, vor Vollendung seines Werkes auf dem Nebo sterben läßt und doch das Werk des Mannes auch ohne ihn herrlich hinausführt; so dürfen auch wir kleinen Leute von uns nicht meinen, als ginge es in den Kreisen und Aufgaben unseres Lebens nicht ohne uns, als müsse Alles über den Haufen fallen, wenn wir dahin sind. O nein, Israel nahm Canaan ein auch ohne Moses, und als Mose dahin war, war der große Gott nicht um eine Persönlichkeit verlegen; er machte Josua, den Sohn des Nun, zum Werkzeug seiner Gnade. So hat der liebe Herrgott auch außer uns Werkzeuge, mit denen er vollführen kann, was wir als nur durch uns vollführbar erachten; Weg hat er allerwegen, an Mitteln fehlts ihm nicht. Wenn er uns plötzlich auf unsern Nebo stellt und zu uns spricht: Bestelle dein haus, denn du mußt sterben! so hat er auch für uns schon einen Josua bereit, durch dessen Hand er vollführet, was er durch uns begonnen. Es ist ein eitler Traum, eine windige Phantasie, wenn irgend ein Menschenkind den Wahn pflegt, als ob gewisse Dinge ohne ihn nicht gingen. Wahrlich, wir sind alle mit einander sehr entbehrlich, und der Strom der Weltgeschichte wird nicht im Sande verrinnen, wenn man beim Schreiner für uns den Sarg bestellt.

Aber weil wir genöthigt sein können, den Nebo zu besteigen, ehe wir es meinen, so gilt es zu wirken, so lange es Tag ist. Der Blick auf unsern Nebo soll uns mahnen, die flüchtige Zeit auszukaufen zur Vollführung unserer irdischen Lebensaufgaben ein Jeglicher in dem Berufe, dahinein ihn Gott gestellt hat. Das war ein nutzloser Becher, der in Scherben fällt, ehe er einen Menschen getränkt hat. Solchem Becher würde unser Leben gleichen, wenn es der Tod zerschnitte, ehe wir irgend etwas geleistet Andern zu Nutz und Frommen. Lasset uns fleißig sein zu allen guten Werken; ach wollen wir jetzt schlafen und ruhn? Zum Ruhn wird Zeit sein, wenn wir am Grabeshügel niedersinken. Bis dahin gilt es, im Schweiße des Angesichts die Hände zu rühren, wie der Mann Mose es gethan Zeit seines langen, mühevollen Lebens, und mit dem gegebnen Pfunde zu wuchern, ehe es uns genommen wird.

Gieb, daß ich thu‘ mit Fleiß
Was mir zu thun gebühret;
Wozu mich Dein Befehl
In meinem Stande führet.
Gieb, daß ich’s thue bald,
Zu der Zeit, da ich soll,
Und wenn ich’s thu‘, so gieb,
Daß es gerathe wohl.

Es hatte bei Mose seine besonderen Ursachen, daß der Nebo sein Sterbelager wurde, ehe er in’s gelobte Land hatte einziehen und hineinführen können. Als das alte Volk Israel dahin war, aber auch das neue Geschlecht, das zuerst willig und gehorsam gefolgt war, in den eitlen Wandel nach väterlicher Weise, in Murren und Ungehorsam verfiel, da ließ sich Mose, der Mann Gottes, das Herz erbittern, und es entfuhren ihm unbedachte Worte des Unmuths. Diesen Fehltritt ließ der Herr nicht ungestraft. Um dieser seiner Sünde willen ging dem Manne Mose das heißersehnte Ziel aller seiner Mühen und Beschwerden, der Eintritt in das gute Land Canaan, verloren. Gleichwie aber bei Mose das Besteigen seines Nebo die Folge seiner Sünde war, also ist bei allen Menschen die Wanderung auf ihren Nebo, die Todesreise, eine Folge ihrer Sünde. Denn der Tod ist der Sünde Sold. Durch Adam ist die Sünde in die Welt gekommen und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu allen Menschen hindurch gedrungen, dieweil sei alle gesündigt haben. Der Tod liegt nicht in Gottes ursprünglicher Anordnung, Gott hat keinen Menschen ursprünglich zum Sterben erschaffen. Vielmehr Gott ist das Leben selbst und ein Liebhaber des Lebens und hat die Menschen zu seinem Bilde, also zum Leben erschaffen. Daher wenn der Mensch dahinschwindet wie Gras, das heute grünt und morgen verdorret, wie ein Traum, den man träumt in der Nacht und am Morgen ist er dahin, so liegt das nicth an Gott, sondern an der Sünde der Menschen; erst seit dem Sündenfall ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, darnach das Gericht. Wie uns der Nebo zuruft: Hier stirbt ein Sünder! so ruft uns jeder Grabeshügel zu: Hier ruhen die Gebeine eines Sünders! Die Sünde ist die große Feindin des Lebens, die jedem Menschen die Lebensadern unterbindet, der Wurm, der alle Lebensblüthen zernagt. Man verlangt oft Beweise, schlagende Beweise für die Erbsünde und die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschen; nun, kann es denn einen schlagenderen und niederschlagenderen Beweis für Aller Sünde geben, als den: Alle Menschen müssen sterben, alles Fleisch vergeht wie Heu!?

Mose starb auf dem Berge Nebo, wie es 5. Mose 34,5 nach wörtlicher Uebertragung heißt, an dem Munde Jehovas. Die Rabbinen machten daraus die Fabel, Moses sei von einem Kusse des Herrn gestorben, und es sei dies die sanfteste Todesart, wie wenn Einer ein Haar aus der Milch ziehe. Es bleibt verborgen, was der tiefer Sinn dieses Ausdrucks sei, nur so viel ist klar, daß gesagt sein soll, Moses ist selig gestorben. Dasselbe geht auch hervor aus der Geschichte des Kampfes, den es auf dem Berge Nebo um den Leichnam Mosis gab, davon St. Judas uns schreibt. Der Teufel wollte seine Gewalt über Mose als Sünder geltend machen, aber der Herr bewahrte seine Gebeine durch den Dienst der heiligen Engel, durch welche er bestattet wurde, ohne daß je ein Mensch sein Grab sah. Diese geheimnißvolle Bestattung ist ein lebhafter Ausdruck der in Christo Jesu Alles bedeckenden und vergebenden Gnade Gottes; Mose hatte von Christo geschrieben und gezeugt und glaubte an den, der da kommen sollte und in diesem Glauben ist er trotz seiner Sünde selig auf dem Nebo entschlafen. So dürfen denn auch wir trotz unserer Sünden und Missethaten, so wir nur Glauben haben an den, der unsre Sünde getragen, und in diesem Glauben bis ans Ende beharren, uns eines seligen Endes auf unserm Nebo getrösten. Im Glauben können wir gewiß sein, daß auch wir einst am Munde Jehovas sterben werden:

Wenn ich einmal soll scheiden,
Er scheidet nicht von mir;
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt mein Herr herfür.
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
Er reißt mich aus den Aengsten
Kraft seiner Angst und Pein.

Im Glauben können wir gewiß sein, daß der Teufel, der Verkläger der Brüder, kein Anrecht auf uns wird geltend machen dürfen, wenn wir uns schicken müssen, unserm Gotte zu begegnen; wir sind Christi, und Belial hat keine Gemeinschaft mit Christo. Im Glauben haben wir die gute Zuversicht, daß einst auch unsere Gebeine unter der Hut des guten Gottes stehn, und daß die kleine dunkle Kammer nur das verbrauchte Kleid hegen wird als ein Pfand der zukünftigen Herrlichkeit. In Summa, über dem Nebo leuchtet es in Flammenschrift: Der Tod seiner Heiligen ist werth gehalten vor dem Herrn.

Wir haben den Berg Nebo und den Mann Mose und das Land Canaan bisher nur im Sinne der wirklichen Geschichte betrachtet; es läßt aber der Nebo mit dem Manne, der auf ihm stirbt, und mit dem gelobten Lande, das sich vor seinen Blicken ausbreitet und in das er doch nicht hineinkommt, auch eine geistliche Deutung zu, die von den Vätern unserer Kirche allezeit hoch gehalten ist.

Moses führt zwar bis an die Schwelle des gelobten Landes, aber nicht ins gelobte Land selber hinein. Moses ist der Repräsentant des Gesetzes und das gelobte Land ein Vorbild des Reiches Gottes in Jesu Christo. An Mosis Person wurde offenbar, daß das Gesetz wohl auf das Reich Gottes vorbereiten, aber nimmermehr in dasselbe einführen kann. Das Gesetz führt den, der sich seiner göttlichen Einwirkung hingiebt, bis an die Grenze des Landes, wo der seligmachende Glaube anfängt, zur Erkenntniß der Sünde und zur Sehnsucht nach dem, der die ewige Erlösung von der Sünde erfunden hat, aber erlösen und in die Erlösung einführen kann es nicht. Die frommen Väter im alten Bunde, so viele ihrer das Gesetz Mosis in ihrem Leben walten ließen, sind immer nur allerhöchstens bis zur Nebohöhe gekommen, von der sie das gelobte Land des Messiasreiches, in welchem Gerechtigkeit und Friede sich küssen, von ferne gesehen haben, aber hineingekommen sind sie durch das Gesetz nicht. Das Gesetz ist ein Zuchtmeister auf Christum, aber es kann niemals Christum ersetzen, es ist ein Wegweiser, aber nicht der Weg selber, Christus allein ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Christus und sein Evangelium führen in das Reich, da Friede und Freude lacht, Moses und das Gesetz führen nur bis an die Schwelle.

Mosis Leichnam erfuhr auf dem Nebo durch Gottes Barmherzigkeit eine besondere, gnädige, geheimnißvolle Bestattung. Die alten Kirchenlehrer fanden in dieser Bestattung angedeutet, daß durch Christum das Gesetz begraben wird und nichts von seinen Wirkungen mehr zu finden ist. Es sind diejenigen Wirkungen des Gesetzes gemeint, da es alles Fleisch vor Gott zu Schuldnern macht, alle Menschen vor Gott zu Uebertretern und Missethätern stempelt. Diese Wirkungen werden durch Christum bei denen, die an seine Weltversöhnung glauben, aufgehoben. Denn wenn der gläubige Mensch nach dem Gesetze sich prüfend erkennen muß, daß er seiner zahllosen Uebertretungen wegen ein armer, verlorener und verdammter Sünder ist, so darf er sich doch des heiligen Verdienstes Christi im Glauben getrösten; der Glaub‘ sieht Jesum Christum an, der hat g’nug für uns all‘ gethan und ist der Mittler worden. Diese tröstliche Wahrheit mag ein sinniges Gemüth wohl im Gleichniß auf dem Berge Nebo versinnbildet schauen, wo die Gnade Gottes den erstorbenen Mann des Gesetzes geheimnißvoll zudeckt.

Aber noch eine bedeutendere Predigt im Gleichniß hält uns der Berg Nebo. Der Mann Mose brauchte nur noch ein paar Schritte zu thun, nur noch einen einzigen Berg hinunter zu steigen, so war er im Lande Canaan, im Lande seiner Sehnsucht; aber er blieb vor den Grenzen Canaans auf dem Nebo liegen und starb auf dem Nebo, sah das gute Land und kam doch nicht hinein. So giebt es Viele, Viele, die bis an die äußersten Grenzen zwischen Welt und Reich Gottes vorschreiten; nur ein einziger Schritt noch, und sie wären im Lande, da Milch und Honig fließt; aber die alle andern Schritte gethan haben, diesen Einen Schritt, der Alles zum Abschluß bringen, Alles entscheiden würde, thun sie nicht, sie bleiben auf dem Grenzberge liegen, sie sterben auf der Grenze; sie sehen das Reich Gottes mit ihren Augen; man konnte gute Hoffnung haben, daß sie hinein kommen würden, aber sie kommen nicht hinein. Und derer sind mehr, als man meint. Wer weiß, mein Freund, vielleicht bist du selbst ein solcher. Herr, meinest Du, daß wenige selig werden? fragte unsern Heiland einst einer seiner Jünger. Und der Herr antwortete: „Ringet darnach, daß ihr durch die enge Pforte eingehet; denn Viele werden, das sage ich euch, darnach trachten, wie sie hineinkommen, und werden es nicht thun können.“

Jener König Agrippa mag sein berühmt gewordnes Wort, das er zum Apostel Paulus sprach, einst im Spott gesagt haben, aber in diesem spottenden Wort gab er einer ernsten Wahrheit Ausdruck, die für Viele gilt: „Es fehlt nicht viel, du überredetest mich, daß ich ein Christ würde.“ Es fehlt nicht viel, so würden sie aus der Finsterniß zum Licht, aus dem Unglauben zum Glauben, aus dem eitlen Wandel nach väterlicher Weise zur Bekehrung zum Hirten und Bischof ihrer Seelen, aus dem Moabiterlande nach Canaan durchringen – es fehlt nicht viel. Ihre Gnadenstunde ist da, ihr Herz schlägt hoch, ihr Gemüth ist mächtig erregt, ihre Sehnsucht nach Christo auf ihrem Gipfelpunkt – es fehlt nicht viel. Die Welt erschien ihnen nie so schaal, die Lust der Welt nie so eitel, das Leben nie so ernst, der Heiland nie so lockend – es fehlt nicht viel. Es fehlt vielleicht nur noch, daß sie ein einziges Vorurtheil überwinden, eine einzige Rücksicht durchbrechen, eine einzige Liebhaberei opfern – es fehlt nicht viel. Aber das Wenige, was noch fehlt, es hält sie zurück; den Einen Schritt, der noch nöthig ist, thun sie nicht; was zu ihrem Frieden dient, sie sehen es, aber sie ergreifen es nicht; sie sind bis auf die Höhe des Nebo gekommen, aber in’s lachende Jordanthal steigen sie nicht hinab; sie bleiben vor Canaan liegen. Beinahe waren sie drin im Lande des Glaubens, beinahe; beinahe hatten sie das himmlische Kleinod in Händen, beinahe. Aber das Beinahe hilft ihnen nichts, denn sie dringen nicht durch. So werden sie nicht selig; so gehen sie trotz ihres Beinahe ewig verloren! Welch‘ eine ernste Predigt ist das, die uns so der Nebo hält; er ruft uns zu:

Wer seiner Seele „Heut“ verträumet,
Der hat die Gnadenzeit versäumet;
Ihm wird hernach nicht aufgethan,
Heut‘ komm, heut‘ nimmt dich Jesus an!

Gott behüte uns davor in Gnaden, daß wir leichtsinnig auf irgend einer Nebohöhe im Leben liegen blieben, ohne den seligen Gang zu thun in das Canaan des Glaubens, das sich zu unsern Füßen wie eine goldene Aue ausbreitet! Mose, als er auf dem Berge Nebo sein Leben beschloß, ohne in’s gelobte Land zu kommen, konnte seine Augen selig schließen, denn er hatte nur das irdische, nicht das himmlische Canaan verscherzt; dieweil er glaubte an den Samen Abrahams, auf den er mit seinem Gesetze und mit seiner Person gewiesen, haben die Engel seine Seele getragen in Abrahams Schooß. Aber wenn wir auf Nebohöhen, die vor dem Lande des Glaubens sich erheben, Halt machen und auf ihnen unser Leben beschließen, verscherzen wir nicht das irdische, sondern das himmlische Canaan; davor behüte uns lieber himmlischer Vater! Lasset uns in dieser unsrer Zeit – wer weiß, wie nahe unser Ende? – unsre Seligkeit schaffen mit Furcht und Zittern; lasset uns, wenn Gottes Gnade uns zieht, recht ringen, daß unser Geist sich ganz entlade von der Last, die ihn beschwert. Nur selig, das sei unsre Losung; und eher sei kein Halt gemacht, als bis wir gelöst, was uns an die Welt, die im Argen liegt, bindet, sei es eine Kette, sei es nur ein Strohhalm, und wir dem mit Leib, Seele und Geist ganz angehören, der ein besserer Führer ist, als Mose, der auf keinem Nebo liegen bleibt, der durch Thäler und über Berge alle, die an ihn glauben, sicher in das ewige Canaan führt, unserm hochgelobten Herrn Jesu Christo.

An seiner Hand geht unsre Bahn
Hinauf, hinab nach Canaan.

Amen.

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