Krummacher, Gottfried Daniel - Die Wanderungen Israels durch die Wüste nach Kanaan (Schilfmeer).

Krummacher, Gottfried Daniel - Die Wanderungen Israels durch die Wüste nach Kanaan (Schilfmeer).

Neunte Predigt

Sechste Lagerstätte: das Schilfmeer.

4. Buch Mose 33,10

Ich denke, wir setzen unsere Reise fort, indem wir mit unseren Gedanken die Kinder Israel begleiten und zugleich die Ähnlichkeiten bemerken, welche zwischen dieser sichtbaren Reise nach Kanaan und den Gängen und Abwechselungen des inneren Lebens stattfinden. Wir haben uns nun lange genug in dem lieblichen Elim aufgehalten, von seinen köstlichen Palmbäumen genossen, in ihrem Schatten uns erquickt, und aus seinen Brunnen getrunken. Wir möchten wohl gern stets durch angenehme Empfindungen ergötzt werden und das Kreuz und die Anfechtung anderen überlassen. Aber der Heilige Geist hat uns noch mehr zu bezeugen, als dass wir Gottes Kinder sind, noch mehr und was anderes zu sagen, als dass wir durch das Blut Christi gerecht worden sind – und dass Gott die Liebe sei in Christo Jesu. Er kann – und will nicht immer trösten, sondern auch betrüben, nicht bloß heilen, sondern auch verwunden, nicht bloß beruhigen, sondern auch ängstigen, nicht bloß sich als ein erquickender Tau, sondern auch als ein Feuer und einen Geist des Gerichts und Ausbrennens an denjenigen erweisen, die er seiner Bearbeitung würdigt. Er braucht nicht allezeit den Stab sanft, sondern auch den Stab wehe, nicht bloß das Evangelium, sondern auch das Gesetz, nicht nur die Verheißungen, sondern auch die Forderungen, und redet nicht bloß von Trost, sondern auch von Pflicht. Er erhöhet, demütigt aber auch; er versetzt in den dritten Himmel und führt auch in die Hölle; tröstet reichlich, lässt aber auch erfahren viel und große Angst, tötet sogar und machet wieder lebendig. So wird dann das Ebenbild Christi in der Seele abgemalt. Gold wird wohl siebenmal geläutert. Es gibt auch Öfen des Elends, wo jemand aufs lauterste gefegt wird. Er hat dir zu sagen, dass Gott allein gut – aber auch, dass das Dichten deines Herzens böse ist von Jugend auf und immerdar; dir zu sagen, dass er zwar treu ist, du aber nicht. Will er dich lehren, dass Christus der Weg sei, so wird er dir auch jeden anderen Weg vermauern; dass er das Leben sei, so wirst du überall sonst nichts als Tod finden usw. Die Saat des Feldes würde wohl nicht gedeihen, wenn kein Winter über ihr herginge, weshalb sie auch im Herbst gesät wird. Ohne Zweifel ist es den Bäumen nützlich, dass sie einmal im Jahre ihrer Blätter und Früchte und sogar ihres Saftes beraubt werden, und das edelste unter allen Gewächsen – der Weinstock – wird auch am meisten beschnitten. Die Ähnlichkeit finden wir auch bei den Ereignissen des inneren Lebens: durch welche Geburtswehen und Angst, durch wie mannigfachen Tod muss es hindurch!

Elim ist nicht Kanaan, die Kinder Israel müssen also von da aufbrechen und weiter! Lasst uns sie begleiten. Lasst uns sehen, wie der Herr von der Welt her gerichtet hat, damit wir getröstet, belehrt, gezüchtigt und unterrichtet werden in der Gerechtigkeit.

Von Elim mussten sie aufbrechen und reisen aufs Schilfmeer zu, und weil die Wolkensäule hier Halt machte, so mussten sie auch Halt machen, ihre Zelte aufschlagen und sich lagern. Diesseits Elim hatten sie’s also gemächlicher, als sie’s jenseits gehabt hatten, wo sie sich gar nicht hatten lagern dürfen, sondern drei Tage an einem fort ziehen und ihre nächtliche Ruhe, so gut es gehen wollte, auf harter Erde und unter dem blauen Himmel nehmen mussten. So geht’s im Christentum auch bald leichter, bald schwerer her. Jetzt ist gleichsam Waffenstillstand, hernach ein desto heißerer und langwierigerer Kampf und dann wieder eine liebliche Erquickung. –

Das Schilfmeer ist das rote Meer, welches diesen Namen von seiner Farbe, jenen von dem Rohr oder Schilf führte, der in Menge an seinen Ufern wuchs. Die Absicht, warum die Wolkensäule sie an das Meer führte, durch welches sie wenige Tage vorher gezogen, ist leicht zu erraten. Sie sollten des Weges gedenken, den sie der Herr bisher geführt hatte. Sie sollten sich lebhaft die große Wohltat und Errettung vergegenwärtigen, die ihnen über, ja wider alles Erwarten zu Teil geworden war. Sie sollten die große Wirkung des Zorns und der Liebe Gottes, seines Ernstes und seiner Güte reiflich erwägen; des Zorns und Ernstes an den Gottlosen, wie es sich auf eine erschreckliche Weise an den Ägyptern gezeigt, seiner Liebe und Güte an seinem Volke, an denen die an seiner Liebe und Güte bleiben. Beides sollte sie zur Buße dahin leiten, dass sie immer mehr noch Gott gesinnt würden. Dies Meer ermunterte sie zur Liebe gegen einen so gütigen, zur Furcht gegen eine so heiligen, zum Vertrauen gegen einen so mächtigen und zur Übergabe an einen so wunderbaren und treuen Gott. Mit Paulo sollten sie sagen lernen: „er hat uns erlöst von solchem Tode, erlöst uns noch täglich, und wir trauen ihm, er werde uns auch hinfort erlösen.“ – Wer hatte sie denn bis hierher gebracht? Wars ihre Kraft, wars ihre Klugheit oder war Er es? Zu welchem Vertrauen auf die Zukunft sollte und konnte sie dies erwecken. Mit wie ganz anderen Augen konnten sie jetzt das nämliche Meer ansehen, als vor wenigen Tagen! Wie ganz natürlich war es, eine Vergleichung zwischen damals und jetzt anzustellen, und in wie frischem Andenken hatten sie es noch? Wahrscheinlich lagen noch tote Leichname von den Ägyptern am Meere samt allerlei Waffen, sie aber standen alle wohlbehalten da und es war keiner, der sie bedrängte. Welchen Mut konnten sie daraus für die Zukunft schöpfen – wie beschämt konnten sie wegen ihres Unglaubens und Misstrauens werden und sich angespornt fühlen, fortan auf den lebendigen Gott zu hoffen und ihn von ganzem Herzen zu lieben, zu fürchten und zu ehren. Wohl mochte es hier heißen: o! dass du auf meine Gebote merktest, so würde dein Friede sein wie ein Wasserstrom, und deine Gerechtigkeit wie Meereswellen. Ach, dass sie ein Herz hätten, das nur mich fürchtet: denn welch ein unartiges Volk war es? Sie hatten kein Auge, das da sähe, kein Ohr, das da hörte und kein Herz, das verständig wäre. Ein Ochs kennet seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn, obschon beide für die dümmsten Tiere gehalten werden, sie erinnern sich, wo sie gefüttert worden sind. Aber dieses Volk lagert sich da am Schilfmeer, beinahe als wenn es selbst Schilf gewesen wäre, ohne Verstand und Nachdenken, ja bald hören wir sie murren und misstrauen. Denken wir aber nur nicht, wir wären besser, sondern lasst uns vielmehr in ihrem Exempel die Ungestalt unseres eigenen Herzens und die Notwendigkeit dessen abnehmen, was uns das rote Meer abbildet, die Notwendigkeit der Reinigung desselben durch das Blut und den Geist Jesu Christi, und dieselbe suchen.

David sagt auch einmal zu seiner Seele: „Vergiss nicht, was dir der Herr Gutes getan hat.“ Wir sehen auch an dem Exempel der Jünger, dass sie oft nichts verständiger wurden über den Wundergeschichten, welche sie erlebten, und so geht’s noch. Wie Paulus sagt, wir haben auch ein Osterlamm, so möchten wir auch sagen: wir haben auch ein Schilfmeer, das wir betrachten sollen, um darin die Herrlichkeit des Herrn und dasjenige zu erblicken, was sich für uns ziemet. Und für dies unser Schilfmeer sollen wir alles achten, was uns den Ernst und die Güte Gottes, was uns unsere Verdorbenheit und Elend, so wie seine Macht und Gnade vorhält. Das Wort Gottes, die Geschichte, unsere Feiertage, namentlich das heilige Abendmahl und unsere eigene Erfahrung bilden gleichsam das weitläufige Schilfmeer, das wir mit verständigen Augen betrachten, und daraus Weisheit lernen sollten. An diesem Meere sind wir auch gleichsam gelagert, und die Predigt des göttlichen Wortes gibt uns fortwährend Anleitung zu seiner Betrachtung, wer nur Ohren hat, um zu hören und Augen, um zu sehen, sonst geht’s wie mit jenem Meere, das mancher vor lauter Schilf nicht gewahr wurde. – Ich maße mir freilich nicht an, das genannte unübersehbare Meer des göttlichen Worts, der Geschichte usw. übersehbar machen und mich in eine spezielle Darlegung der Einzelheiten einlassen zu wollen, denn zum Übersehen dieses Meers, bedürfen wir des hohen Standpunktes der Ewigkeit, nebst ihren Augen und ihrem Lichte; denn hienieden ist selbst eines Apostels Wissen nur Stückwerk und ein Schauen als durch einen Spiegel in ein dunkles Wort. Jesus Christus ist denn doch der Mittelpunkt, in welchem sich die zerstreute Strahlen als in ihrem Brennpunkt vereinigen und in dessen Angesicht die Herrlichkeit Gottes sich spiegelt, dessen Betrachtung daher auch das Nötigste und Heilsamste ist. Sünde und Gnade recht kennen lernen, ist unsere Aufgabe, und beides wird am besten in ihm gelernt, der zur Sünde und zur Gerechtigkeit gemacht ist. Wollen wir recht anschauen, was die Sünde sei: so haben wir nicht so sehr unsere Augen zu richten auf jene erste gottlose Welt, die samt und sonders mit Alten und Kindern in den Wasserfluten ersäuft wurde – nicht bloß auf Sodom, auf das das Feuer vom Himmel fällt, da der Herr Schwefel und Feuer regnen ließ von dem Herrn aus dem Himmel – nicht bloß auf die Rotte Korah, die so lebendig von der Erde verschlungen wird und in die Hölle fährt, oder den erschrecklichen Judas, der, nachdem er gesündigt hat, selbst das verdiente Todesurteil an sich vollzieht – sondern wenn wir sehen, wie Gott selbst seines eigenen Sohnes, nachdem er ihn zur Sünde gemacht – so gar nicht schont, weder dem Leibe noch der Seele nach und ihn ohne Barmherzigkeit in des Todes Stand legt: so sehen wir erst vollständig, was die Sünde in Gottes Augen sein müsse, da er einer solchen Rache darüber nimmt und ein solches Opfer fordert. Wie tief werden wir dadurch gedemütigt, zu welcher Buße und Selbstverleugnung aufgefordert! – Aber wo erblicken wir auch einen solchen Gnadenglanz, wie in dem Angesichte Jesu Christi? Allerdings ist es rührend, wenn wir in den Propheten mitten durch ein finsteres Gewölke zorniger Rede und schrecklicher Drohungen, oft mit einem Mal die Sonne in den zärtlichsten Verheißungen durchbrechen sehen und in den Wolken den farbigen Regenbogen der unveränderlichen Treue erblicken, dass es z.B. heißt: „wenn man den Himmel oben kann messen, und den Grund der Erden erforschen, so will ich auch verwerfen den ganzen Samen Israel, um Alles, das sie tun, spricht der Herr. Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer!“ und dergleichen, wo Gott wie ein Vater erscheint, der mit seinen Kindern zürnt und schilt, plötzlich sie aber wieder aufs freundlichste umarmt, als könnte er ihr Zutrauen und Liebe durchaus nicht missen; - rührend ist es allerdings, wenn Jesus uns das liebende Herz Gottes schildert in dem Bilde eines geschäftigen Weibes, welche, das Licht in der einen, den Besen in der anderen Hand, das ganze Haus um eines Groschen willen durchsucht; eines Hirten, der voller Freuden, sein wiedergefundenes Schaf auf den Achseln, heimträgt; eines Vaters, der seinem ungeratenen Sohne entgegeneilt, ihn küsset und schmücket; - rührend ist es, wenn er da einen gefallenen Petrus grüßen lässt, dort einen bekümmerten Sünder seinen Sohn nennt, ihm getrost zu sein befiehlt und ihn versichert: deine Sünden sind dir vergeben, und hier einem Zachäus zuruft: steig eilend hernieder, denn ich muss heute zu deinem Hause einkehren; - rührend ist es, wenn er ruft: her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken; wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst! und dergleichen mehr. Lieblich ist es, wenn eine Seele die erquickenden Zuflüsse der Gnade also schmecket, dass sie mit dem Propheten vor Freuden aufspringt in dem Gott ihres Heils und mit David rühmt. der Herr ist mein Hirte! Aber dies Alles sind doch gleichsam nur lieblich funkelnde Tautropfen, nicht die Sonne der Gerechtigkeit selbst. Welch ein Schilfmeer derselben bietet die Sendung und Dahingabe Jesu Christi selber dar? Welch ein unergründliches Meer an Tiefe und unübersehbar an Umfang bietet die Gnade aller Gnaden dar, dass Gott die Welt also liebte, dass er seinen eingebornen Sohn gab; dass der Sohn sie also liebte, dass er sein Leben für sie in den Tod gab. O! dass wir recht an diesem Meer gelagert wären und würden, und der Heilige Geist über diesen Wassern schwebte, die durch das Wunderholz des Kreuzes so süß und genesend geworden sind, damit wir erkennten die Höhe und Tiefe, die Länge und Breite der Gnade Gottes in Christo Jesu; dass uns der Schilf der Unbußfertigkeit und des Unglaubens nicht hinderte: zu sehen, was sonst nicht zu sehen, wenn wir in seinem Lichte nicht stehen. Wahrlich, wie in jenem Meer Israels Feinde umkamen, so mag man hier sagen: Da verschwinden meine Sünden, wie ein Strohhalm in der Glut! Ein Abgrund von Barmherzigkeit verschlingt ein Meer voll Herzeleid, Du, Herr, vergibst die Sünden! – Wohl ist hier das Wasser, das dem Ezechiel erst bis an die Knöchel, dann bis an die Kniee, Lenden und endlich so weit ging, dass er hindurch schwimmen musste, und es nicht mehr gründen konnte. Welche Herrlichkeit wird es sein um das kristallene Meer mit Feuer gemengt, wovon Offenb. 15. die Rede ist, woran diejenigen stehen, die den Sieg behalten haben, und auf Harfen Gottes das Lied Mosis und des Lammes singen.

Das ist nun freilich die Hauptsache. Ach! mit dem, die freie Aussicht hemmenden Schilf und dem Nebel, der nicht selten aus dem Herzen aufsteigt und das Meer verbirgt, dass mans nicht recht sehen kann! Ich meine den Schilf von allerhand Zweifeln und Einreden, und den Nebel von allerhand sündlichen und ungläubigen Gedanken. Welch ein majestätisches Meer! Steige Zion auf einen hohen Berg, um seine gewaltigen Wogen zu sehen, welche deine Feinde verschlingen und alle Gewaltigen zerbrechen sollen; die finsteren Wolken teile der Zweifelung, und heile des Glaubens dürre Hand.

Die Erfahrungen, die der Christ gemacht hat, sind auch so ein Jam Suf, ein Schilfmeer, an welches er von Zeit zu Zeit gelagert wird, zu gedenken all des Weges, den ihn der Herr, sein Gott, geführt hat. Sie sind vornämlich zwiefacher Art, teils niederschlagender, teils erfreulicher Art. Wer ist, der nicht seine Beistimmung geben müsste, wenn jenes Lied sagt: Hat nicht die Erfahrung mich meine Torheit oft gelehrt? – Wer kann merken, wie oft er fehlet, und wie groß ist die Menge der verborgenen Fehler?! Wie wenig Selbsterkenntnis gehört dazu, um einzusehen, dass wir des Ruhms mangeln, den wir an Gott haben sollen, und wie groß muss die Blindheit derer sein, die das nicht an sich kommen lassen wollen! Beurteilen wir aber vollends unser Herz der Beschreibung gemäß, welche uns das untrügliche Wort Gottes von demselben gibt, so haben wir ein Meer vor uns, dessen Wellen Kot und Unflat auswerfen, das sich aber mit allerhand Schilf von Beschönigungen umgibt, um nur nicht in seiner wahren, d.i. abscheulichen Gestalt gesehen zu werden. Auch an dies Meer müssen wir uns lagern lassen, unsere Not und Elend recht gründlich erkennen zu lernen. Es ist wohl unangenehm aber nützlich, beschwerlich aber heilsam. – Wo ist sodann auch der Christ, der im Rückblick auf seinen Weg bis hierher, nicht auf manches ängstliche Gedränge, auf manche große, innere Not geführt würde, welche er hat durchwandern müssen, wo seine Seele bei ihm verzagte und er nicht anders dachte, als es sei aus mit ihm. Aber auch welche liebliche Erfahrungen hat er gemacht, welche ihm billig ebenso unvergesslich blieben, wie jene, weshalb auch David zu seiner Seele spricht: Vergiss es nicht, was der Herr dir Gutes getan hat. Welche herrliche Einsichten sind ihm von Zeit zu Zeit verliehen worden, und mit welcher göttlichen Klarheit hat ihm die Wahrheit geleuchtet. In welcher Fülle hat er oft Jesum Christum erblickt, so dass ihm um all seinen Mangel und um all sein Elend nicht bange war, sondern die Ruhmsprache Pauli in seinem Maße mitführen konnte: Wer will verdammen? Christus ist hie, der gestorben ist; ja vielmehr, der auch auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns. Welche heilige Gesinnungen haben oft sein Gemüt durchströmt, dass es ihm ging, wie Israel am Meere, wo es alle seine Feinde tot sah, und er nicht anders dachte, als der alte Mensch sei nun hinweggetan, wenn er sich gleich nachgehends zu seinem großen Befremden und Bedauern wieder nur allzu lebendig erzeiget, und er sich wieder zum Streit gürten musste. Welche ihm selbst bewundernswürdige Gewissheit des Glaubens und Inbrunst, der Liebe, der Kraft und der Hoffnung hat ihn oft belebt, dass er sagen konnte: der Strick ist zerrissen, der Vogel ist frei. Wie leicht wurde ihm oft eine Sache, die ihm fast als unmöglich vorkommen wollte, und wenn er keine Schwierigkeiten erwartete, häuften sie sich nicht selten von allen Seiten. Wie oft verlor er wieder, was er festiglich gefasst zu haben glaubte, und fand oft schnell, woran er noch lange suchen zu müssen besorgte. Kurz, es gibt eine nützliche Betrachtung ab, von Zeit zu Zeit seine mancherlei gemachten Erfahrungen zu überschauen, besonders aber bleibt die erstmalige Ausgießung der Liebe Gottes ins Herz fürs ganze Leben unvergesslich, und wie Manche haben sich, wie billig, Tag und Stunde bemerkt, wo sie dieses Glückes teilhaftig worden sind. Das Andenken an diese Erfahrung ist nicht selten ein gesegnetes Mittel, die Seele auch in der Wüste zu ermuntern. Man wird den Seefahrern ähnlich, welche, an die Auftritte des Meeres gewöhnt, durch einen Sturm nicht so sehr in Schrecken gesetzt werden, weil sie schon manchen überstanden haben. Jedoch ists auch wahr, dass, wie die Kinder Israel des Nachts das Schilfmeer nicht sahen, was ihnen doch so nahe lag, und wie es an Speise mangelte, ebenso ungläubig waren, wie sonst, so vergisst man auch wohl aller erfahrnen Durchhülfe, kann sich damit nicht trösten, oder die Umstände kommen einem so neu, so unerwartet und schwer vor, dass man Steuer und Ruder verliert und sich über nichts besinnen kann.

Ach, mit welchen erbärmlichen Augen sahen die dummen Israeliten das Schilfmeer an. Mich däucht, es ist ordentlich eine Absicht dabei, warum es das Schilfmeer genannt wird, da es vorher schlechthin das Meer heißt. Sie sahen nur eine Menge Wasser, nicht aber dasjenige, was sie wenig Tage vorher zu einem so freudigen Lobgesang veranlasst hatte, und waren viel aufmerksamer auf den Schilf als auf die Wunder Gottes, und der Schilf, ein Bild ihres Gemütes, worin so wenig Festigkeit war, wie ein Rohr, das von jedem Winde beweget und in eine andere Richtung gebracht wird. Aber heißt es nicht auch einmal Marc. 6,52. von den Jüngern, sie seien über dem Wunder Jesu, da er mit wenig Broten eine ganze Menge Menschen speiste, nichts verständiger geworden, sondern ihre Herzen seien in ihnen erstarret? Und was will das anders sagen, als sie zogen aus diesem merkwürdigen Vorgang gar den Nutzen und die Belehrung nicht, die man doch billigerweise daraus hätte ziehen sollen. – Findet sich dies Elend nicht noch sehr häufig? Das Meer der göttlichen Wunder in der Heiligen Schrift breitet sich vor den Augen der Menschen aus, der Wunder, die in der Tat fast ganz unglaublich sind, nämlich, dass Gott seinen Sohn gesandt hat in die Welt, nicht, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn selig werde. Aber wie verhält sie sich im Ganzen dagegen? Der Haufe der Unbekehrten und geistlich Toten bleibt ganz gleichgültig und ungerührt. Weltliebe, irdische, sinnliche Annehmlichkeiten und Neuigkeiten setzen sie in große Bewegung, aber die Liebe Gottes, das Vermahnen an Christi statt: lasst euch versöhnen mit Gott, lässt sie ebenso unbeweglich und bringt in ihren Gesinnungen und Verhalten eben so wenig eine Veränderung zum Guten zuwege, als der Anblick des Meeres bei Israel, es wäre denn, dass noch eine besonders göttliche Wirkung hinzukäme. Einige zweifeln und gleichen denjenigen Israeliten, welche so klein von Natur waren, dass sie nichts vom Meere erblickten, weil sie nicht über den Schilf hinwegsehen konnten, während größere Personen oder solche, die auf einer Anhöhe standen, das weite Meer vor sich sahen und des Schilfs über diesem großen Anblick gar nicht gewahr wurden. Einige spotten sogar und gleichen den stolzen Kurzsichtigen, die so von ihrer Vorzüglichkeit eingenommen sind, dass sie meinen, was sie nicht sehen könnten, sähe auch ein Anderer nicht. Kurz, ihre Herzen sind verstarret, und mögen sie auch durch die großen, christlichen Feste wegen der Geburt, des Leidens, der Auferstehung und Himmelfahrt gleichsam an das Schilfmeer geführt werden, das alle unsere Feinde verschlungen hat; mag es ihren Augen durch die heilige Taufe und das Nachtmahl noch näher gebracht werden – sie beharren in ihrem alten Wahne, sie besinnen sich nicht, sie schlagen nicht in sich, um zu sagen: ich will mich aufmachen und zum Vater gehen.

Zu welchen heiligen, angenehmen und ermunternden Gedanken aber mussten sich ein Moses, ein Aaron und die Mirjam, mussten sich Josua, Caleb und die anderen Gläubigen und Verständigen im Volk, durch den Anblick dieses Meeres geweckt fühlen, so dass sie diesen ohne Zweifel bei weitem dem lieblichen Aufenthalte zu Elim vorzogen. Welche Predigt hielt ihnen dies Meer, und wie ganz anders sah es sich von dieser Seite an, als von jener, da sie noch davor standen und Pharao hinter sich hatten. Wie ganz anders urteilt man überhaupt von vielen Dingen, wenn man hindurch ist, als wenn man sie noch vor sich hat! Wie klagte David in seinen Leiden, obschon er hernach sagte: ich danke dir, dass du mich treulich gedemütigt hast.

Aber macht denn der Anblick des Schilfmeers, macht das Evangelium von der Gnade Gottes, so wie es gepredigt, geschrieben ist und durch die christlichen Feste vergegenwärtiget wird, macht es den Eindruck, den es doch billig machen sollte und der ihm angemessen wäre, auf diejenigen, bei denen wirklich geistliches Leben ist, bringt es die Frucht, die es haben sollte? Wo ist die Freudigkeit im Glauben, die Zuversicht der Hoffnung, die Inbrunst der Liebe, die Standhaftigkeit der Geduld, der Sieg über die Welt, die Gottseligkeit des gesammelten Wandels, der himmlische Sinn, die zarte Bruderliebe, die freundliche Tragsamkeit? Wo? Wie gebrechlich geht’s durchgängig damit zu! Wie viel Zweifelmut, Kleinglaube, Ungeduld, Hoffart und dergleichen ist noch da, wie viel Weltsinn, Leichtsinn und Sünde! Lauter Beweise, wie viel Ursache wir haben, mit David zu beten: öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz. Wie viele sind noch zu Zion, denen man zurufen muss: es schwebt euch euer Leid nur vor, ihr hebet euch nicht genug empor zum süßen Heiland eurer Schmerzen.

Das ist ja sehr zu beklagen. Wachset deswegen in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn Jesu Christi: denn wo solches bei euch wohnt, wird es euch nicht faul noch unfruchtbar sein lassen, und euch reichlich dargereicht werden der Eingang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn Jesu Christi.

Er schenke uns Augen, die da sehen, Ohren, die da hören und ein verständiges Herz, das auf seine Gebote merket, damit unser Friede sei wie ein Wasserstrom und unsere Gerechtigkeit wie Meereswellen. Amen!

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