Krummacher, Gottfried Daniel - Briefe an einen Freund - 1. Brief

Krummacher, Gottfried Daniel - Briefe an einen Freund - 1. Brief

Baerl, den 5. September 1799

Geliebtester Bruder in dem Herrn Jesu!

Zuerst danke ich dem Vater unseres Herrn Jesu Christi so innig, als ich kann, der er mir Armen Sie zum Freunde geschenkt hat; drei leibliche Brüder drehen mir den Rücken, und ein Freund, den ich ehemals wie meine Seele liebte, aber ich achte diese für Dreck, da Sie mir geschenkt sind. Jesu, du tust mir viel Gutes, lehre mich schätzen, lehre mich dankbar sein, du weißt, ich bin's nicht.

Schon hatte ich einen Brief fertig, den Ihnen Herr Giesen überreichen sollte, aber Sie sind mir zuvorgekommen, und ich eile, Ihnen zu antworten, um mir zu vergegenwärtigen, daß ich Sie, Bruder, daß ich Ihre Gattin, daß ich so manche fromme Seele kennen lernen konnte. Nun bin ich wieder in meiner stillen Einsiedelei, o möchte bei mir ein stilles Bethel sein, Jesus, mein Gesellschafter, mein Alles! Wie leicht, mein Teuerster, wie leicht werde ich mir fremd, und wieviel habe ich zu tun, ehe ich wieder mit mir bekannt werde, eine unangenehme Bekanntschaft, wahrlich, aber nur recht die Wunden gefühlt, desto ersehnter ist der Arzt! O wie gut hat Gott es gemacht, daß ich so einsam sein muß, so gerne einsam bin, also mir selbst nicht entfliehen kann, das ich so gerne tue. O lieber, lieber B., ich bin erstaunlich verkehrt, Sie glauben es nicht, in meinem Fleische wohnt löblich nichts Gutes, und kennten Sie mich recht, ich fürchtete, Sie nennten mich Ihren Freund nicht. O, ich bitte Sie, denken Sie sich bei diesen Worten alles, denn es ist mir oft, unerträglich, zu denken, daß ein Mensch eine zu gute Meinung von mir hat. Sie sollen noch Dinge von mir hören, denn ich möchte Ihnen nach und nach gern alles sagen, was in mir ist, nichts hält mich schon jetzt davon ab, als der Gedanke, Sie würden keine Geduld mit mir haben können. O guter, großer, hoher, gnädiger Hohepriester, du, du hast Mitleiden mit uns, welch ein Wort! Ich höre jetzt die Exegese der Bibel in einer strengen Schule, die heißt Herz, das Thema heißt: Verdorbenheit, und mein Meister redet hart mit mir, und ich muß zuhören, weil ich sonst kein Zeugnis bekommen kann. Herr Jesu, schlag zu, schlag zu und schone nicht, bis alles, alles, was ich bin und habe, zu deinen gebenedeiten Füßen liegt! Nimm, o nimm die Wurfschaufel und fege die Tenne meines Herzens, bis nichts darin übrig ist, als du! Ach, lieber Herr Christus, wie werde ich dein Lob verkündigen können, wenn du auch mir, auch mir aushilfst. O nein, ich mag deiner Schule nicht entlaufen, lehre du den dummen, eigenweisen, stolzen und eigenwilligen Krummacher nur, ach nimm dir die Mühe!

O lieber Bruder, ach, es ist mir sonderlich, wenn ich Sie Bruder nenne, o möchte ich es sein, möchte ich aus Gott geboren sein, - nun dann in Gottes Namen, lieber Bruder, sollten Sie es wohl leiden können, wenn ich zuweilen meine Klagen auch in Ihren Busen ausschütte? Doch ja, Sie haben mir schon ein Recht dazu gegeben, und vielleicht gibt mir Gott die Gnade, mich durch Sie zu trösten, beruhigen, anfeuern zu lassen, sowie der erste Brief von Ihnen mir schon so wichtig und aus dem Herzen geschrieben ist. Doch sage ich Ihnen mein Leid, so will ich Ihnen auch meine Freude erzählen, wenn Sie es nur haben und leiden wollen. Der Herr kann und wird auch mir helfen, denn er kann sich sehr an mir Widerspenstigen verherrlichen. Aber wahrlich, ich bin jetzt in großer Not, ich fühle das satanische Gift der Sünde, das alles durchdringt, ich fühle es in seinen mannigfaltigen Farben, ich fühle es, daß Sünde nichts anderes ist als Abweichen von Gott!! Was sagen Sie dazu? Ich muß mich oft zum Gebet zwingen, und o wie elendiglich bete ich, ach wahrlich, wenn Gott will gebeten sein, so muß er's mir geben, ich kann und will es nicht einmal. Doch den Jesus, der so oft schon sein hohes „Friede“ in meine Seele hineinrief und Sturm und Wellen gebot, der Jesus lebt noch, und sein Name ist Treu und Wahrhaftig, und dann freue ich mich, daß ich doch einst, ist es dann nicht in der Versammlung der Heiligen hienieden, doch dort oben mit vollem Munde und noch vollerer Seele ausrufen werde: Halleluja dem Lamme, Halleluja, und alles bete an!

O freie Gnade, welche Worte, welche Gedanken, welche Seligkeiten, und welch' eine namenlose Bosheit meines Herzens, das da will gezwungen sein, um sich derselben zu unterwerfen! Ist für mich die ewige Verdammnis zu hart? Doch freie Gnade fordert nichts, ich habe auch nichts als ein ungeheures negatives Vermögen, also erkläre ich mich insolvent, und mein geistlicher Bankerott ist gemacht. Also, Herr Jesu! Du kennst das Bürgen recht, du hast dich freiwillig dargeboten, ich hätte dich nicht darum gebeten, o so bezahle auch für mich, und sei mir Leben, Friede, alles! Ich werde mich sehr dankbar beweisen, wenn du mich dankbar machst. Ich sage mit Augustin: Fordere Herr, was du willst, aber gib uns, was du forderst, so sollst du nicht vergebens befehlen.

Ihre Anmerkung, lieber Bruder, über die Rekonvaleszenten ist mir teils aus der Seele gegriffen, teils sehr wichtig und tröstlich. O, auch ich fühle es, und meine Feinde kommen nicht nur gesund aus dem Lazarett, sondern auch schwer bewaffnet aus dem Zeughause, sie feiern nur bei einem Angriffe, um so eine größere Macht zu haben als je zuvor, als hätten sie meine schwachen Seiten recht studiert. Was das Schlimmste ist, ehe ich's mir versehe, haben sie den Schild weg, und mein Schwert ist oft stumpf und verrostet, weil ich's lange nicht mehr nötig zu haben meinte. Grade in dieser Lage trifft mich Ihr lieber Brief und stärkt den fast müden Arm des Kämpfers. O wie ist des Kämpfens noch so viel, bald im Herzen, bald im Kopf, bald in beiden zugleich! O sende mir Kraft von oben: Jetzt heiße ich Legio!! Hilf mir Herr, denn ich werde vom Teufel geplagt! Ich lasse nicht ab zu fragen: Gib mir Geduld, Herr, mich dürstet nach dir! O mein lieber Johannes, ich kann Ihnen nicht alles sagen, ich kenne mich selbst nicht, und muß rufen: Durchforsche mich, o Gott, und leite, ach leite mich auf ewigem Wege! Heute ist mir das so wichtig geworden: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen, meine Stunde ist noch nicht kommen. O wäre uns die Sprache erkennbar! Halten wir und doch mit dem harten „Weib“ nicht so viel auf, sondern bedächten mehr: „Meine Stunde“ usw., wie gut, wie gut wäre das! Ach, warten, warten müssen wir lernen, da hilft nichts, gebricht es an Wein, so müssen wir uns im Durstleiden üben, es wird hernach desto besser schmecken. Vielleicht steht schon Wasser in den Krügen, wenn ich gleich noch nicht weiß, wozu. Alles ist dem Christen gut, Fallen, Schläge, Sünde, selbst des Irrsals Nacht. Über die Bosheit meines Herzens, über die Unlauterkeit meiner Handlungen, über die List des Satans, über die Tücke meiner Seele brauche ich mich ja nicht zu wundern, ja, ja, es sieht da übel aus, Herr, ich mache dir dein Recht nicht streitig, mich zu verdammen, das fällt mir nicht ein, was hast du aber davon, wenn du mich zertrittst! Ja, ich fürchte dich und bebe, du Furchtbarer, o! aber zeige dich mir in deinem Sohne, so liebe ich dich.

Lieber Herzensbruder! Ich fürchte, ich schreibe zu lange, ich ermüde Sie, denn Sie bitten, ich soll erlauben usw., aber darum störe ich mich nicht, es ist noch Raum da, und wenn Sie nicht alles lesen wollen, so können Sie es auch lassen. Es würde mir leid sein, wenn ich in einem Briefe an einen Christen mich der weltlichen Etikette unterwerfen müßte. Ja, auch auf der Kanzel respektiere ich andere nur als Menschen und als Christen, und ein begnadigter König dürfte mehr nicht von mir erwarten. Sie, lieber Bruder, müssen auch erwarten, daß ich allenfalls 6 Boden an Sie schriebe, wenn ich Drang dazu spürte, denn ich beurteile leicht andere nach mir selber. So bitte ich Sie denn, daß wir doch alles Zeremoniell bei Seite schieben, o ich liebe so das Herzliche, und nirgends ist mir besser, als wo es herzlich zugeht, und Ihnen, weiß ich, ist es auch so. Soll ich Ihnen mal was bekennen: Ich bete sogar nie herzlicher, als wenn ich holländisch oder plattdeutsch bete, weil da mit einem mal alles Horchen auf Worte wegfällt. Ach, das Evangelium ist Einfalt, und je größere Gnade, desto mehr Einfalt! Wie lebendig ist mir dies auch an dem großen Diederichs geworden. Die Einfalt ist das Gewand der Gnade, denn wo die Einfalt ist, da ist Demut, das ist Liebe, da ist Geduld, da ist Sanftmut, da ist - Christus. O möchte auch ich recht unmündig werden wie ein Kind! Unser ganzes Christentum ist ja nichts als ein Amen-sagen. O könnte ich alles schreiben, was ich dabei fühle! Doch Sie, Lieber, harmonieren mit mir, Sie werden da ein Konzert hören, wo mir die heilige Harfe Töne zulispelt.

Am vorigen Sonntag habe ich über den Text gepredigt, den Bruder Rauschenbusch 1) mir aufgab: Ps. 66,16. Ich hatte nur wenige Stunden zum Studieren, aber desto herzlicher sprach ich vielleicht durch Gottes Gnade und Ihr Gebet. Ich konnte nicht aufhören. Macher ist auch dadurch gestärkt und erquickt worden. Seien Sie so gütig, Br. Rauschenbusch dafür zu danken! Auch hat der Herr mir klare Blicke von meinem Dienst gezeigt. Ein Knabe klagte über Sünden, verriet ein gedemütigtes, liebevolles Herz, und ich weinte vor Freuden. Der Herr helfe ihm und versetze immer mehrere aus der Finsternis in sein wunderbares Licht zu seines Namens Preise!

Ich habe mich recht über H. Eylert 2) gefreut. Wie ist doch die Sprache Kanaans immer dieselbe! Ich bitte Sie, lieber Bruder, Sie wollen uns öfters Nachrichten aus dem Reiche Gottes mitteilen, damit auch wir uns freuen und danken.

Ach, mein Köstlicher, wie soll ich dem Herrn genug danken, daß ich Sie, daß Ihre Gattin, diese fromme Jüngerin Jesu, daß ich so viele andere kennen lernte, was soll ich sagen, daß Gott mir Sie zum Freunde geschenkt hat. O! es ist mir, als ob mir jemand sagte: Dieser soll ein Mittel in Gottes Hand sein, wodurch du viel Trost und Stärkung empfangen sollst. O so sei mir gesegnet, sei mein Johannes, an dessen Busen mein gepreßtes Herz seine Klagen zuweilen ausschütte, lieber Bruder! O beten Sie für mich, daß der Herr Jesus mir wolle gnädig sein, ach, ich habe es so nötig. O, ich bin ein erstaunlich verderbter Mensch, mich deucht, es ist keiner so gewesen. Ach das Feine, der Staub der Sünde, die Feindschaft, das ist das Bitterste unseres Elendes, das steinerne, ungefällige, aufrührerische Herz, die stete Galle von Ungöttlichkeiten, der Unwilligkeit zum Guten, der Unbeugsamkeit, sehen Sie, das ist das Herz des Menschen, den Sie Ihren Freund nennen. O, wie werde ich dem Herrn noch danken, wenn er mich einmal dankbar macht. O, ich muß Ihnen alles sagen, Sie möchten sich in mir irren, und ich möchte das nicht gerne, es ist mir sogar oft, als begehrte ich keine Gnade. Ja, ich kann nicht anders, als Ihnen alles bekennen, Sie haben das sicher nicht gedacht und werden mir vielleicht böse sein, daß ich Sie Bruder nannte. Sie ziehen sich vielleicht zurück, doch unser Hohepriester kann Mitleid mit uns haben, und anders weiß ich nicht als zu rufen: Unrein! Unrein!

Nun dann, Er, der Friedefürst, lasse seine Gnade auf uns triefen, er heilige uns je mehr und inniger, er werde verherrlicht an uns und in uns, und durch alles, was wir reden, schweigen, denken, tun und schreiben! Der Herr sei Ihr und Ihrer lieben Gattin Schild und Lohn und Ihres Freundes Krummacher.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

1)
Hilmar Ernst Rauschenbusch, Pastor an der lutherischen Gemeinde zu Elberfeld, starb im Jahre 1815.
2)
Rulemann Ludwig Eylert, geboren im Jahre 1730, kam 1754 von Strünkede nach Hamm als Prediger und wurde im Jahre 1762 Professor der reformierten Theologie an dem akademischen Gymnasium daselbst. Nach dem Jahre 1781 legte er die Professor- und 1794 auch die Predigerstelle in Hamm nieder, indem er letztere seinem Sohne, dem nachmals so bekannt gewordenen preußischen Bischof überließ. Er starb im 82. Lebensjahre am 1. Sept. 1813 zu Hamm und war fast bis an sein Ende mit schriftstellerischen Arbeiten zur Ehre seines Herrn Jesu tätig.
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