Calvin, Jean - Die Summe des Gesetzes.

Calvin, Jean - Die Summe des Gesetzes.

Abschnitt 216.

5. Mos. 10.
12 Nun, Israel, was fordert der Herr, dein Gott, von dir, denn dass du den Herrn, deinen Gott, fürchtest, dass du in allen seinen Wegen wandelst, und liebest ihn, und dienest dem Herrn, deinem Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele; 13 dass du die Gebote des Herrn haltest und seine Rechte, die ich dir heute gebiete, auf dass dir´ s wohl gehe?

5. Mos. 6.
5 Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen.

3. Mos. 19.
18 Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Nachdem wir die einzelnen Gebote der Reihe nach ausgelegt haben, ist nun die Summe des Gesetzes zu betrachten, die dem Ganzen die entscheidende Richtung gibt. Auch Paulus (1. Tim. 1, 5 f.) bezeichnet als die Hauptsumme des Gesetzes „Liebe von reinem Herzen und von gutem Gewissen und von ungefärbtem Glauben, -“ und er kennt schon zu seiner Zeit Ausleger des Gesetzes, die nur zu unnützem Geschwätz kamen, weil sie diesen Richtpunkt nicht in Betracht zogen. Wie nun das Gesetz auf zwei Tafeln geschrieben war, so fasst es Mose auch in die zwei Hauptstücke zusammen, dass wir Gott von ganzem Herzen lieben sollen und unsern Nächsten als uns selbst. Diese beiden Sätze hat er zwar noch nicht miteinander verbunden, aber Christus, aus dessen Geist er redete, enthüllt uns seine eigentliche Absicht. Denn als man den Herrn nach dem vornehmsten Gebot im Gesetz fragte, gab er die Antwort (Mt. 22, 37 ff.): „Du sollst Gott von ganzem Herzen lieben. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.“ Danach besteht die ganze Gerechtigkeit und Vollkommenheit, welche das Gesetz erfordert, in zwei Stücken: wir sollen erstlich in wahrer Frömmigkeit den Herrn verehren, und zum andern lauter und rein nach der Regel der Liebe mit den Menschen handeln. Dasselbe meint auch Paulus: denn der Glaube, welchen er als Quell und Ursprung der brüderlichen Liebe bezeichnet, fasst die Liebe zu Gott in sich. Daraus ergibt sich die kurze und klare Bestimmung, dass zu einem rechten Leben nichts anderes als Frömmigkeit und Gerechtigkeit gehört. Allerdings scheint Paulus einmal noch ein drittes Stück hinzuzufügen (Tit. 2, 12): die Gnade Gottes will uns nach seinem Wort erziehen, „dass wir sollen verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste und züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt.“ Aber ein züchtiges Wesen lässt sich einfach als würzende Beigabe zu einem gerechten und gottseligen Leben betrachten. Und in der Tat wird einem Menschen, der nicht züchtig, keusch und ehrbar lebt, niemand glauben, dass er der Heiligkeit und Vollkommenheit nachjagt. Andere Stellen schweigen wieder von der Verehrung Gottes und fassen das ganze Gesetz nur in der Liebe zum Nächsten zusammen: aber damit soll die Gottseligkeit nicht ausgeschaltet, sondern nur ihr entscheidender Beweis in den Vordergrund gestellt werden. Pflegen doch Heuchler in der Beobachtung eines äußeren Kultus eine heilige Maske zur Schau zu tragen, wobei sie in geschwollenem Hochmut einhergehen, von räuberischer Begier und Habsucht brennen, sich mit Neid und Eifersucht erfüllen, mit grausamen Drohungen um sich werfen und schmutzigen Begierden nachlaufen. Solchen Schein und Nebel aber will Christus zerstreuen. Darum bezeichnet er als Hauptstücke im Gesetz (Mt. 23, 23) Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue. Und auch an einer anderen Stelle (Mt. 19, 18 f.) kann er von der ersten Tafel schweigen, wenn er die vom Gesetz erforderte Gerechtigkeit beschreibt. Mit derselben Absicht nennt Paulus die Liebe des Gesetzes Erfüllung oder das Band der Vollkommenheit (Röm. 13, 10; Kol. 3, 14). Alle diese Aussagen wollen aber nichts weniger, als durch die Pflichten der Menschliebe die Gottesfurcht in den Hintergrund drängen. Haben wir doch schon gesehen, dass der Herr an der entscheidenden Stelle, wo er die Summe des ganzen Gesetzes angibt, den Anfang mit der Gottesliebe macht. Und wenn Paulus sagt (Gal. 5, 6), dass der Glaube durch die Liebe tätig ist, so deckt er damit die eigentliche Triebkraft und den Grund eines gerechten Lebens auf. So stimmt trefflich zusammen, was nur eine oberflächliche Betrachtung als Gegensatz empfindet. Es kann einmal heißen (2. Kor. 7, 1), dass man die Heiligung in der Furcht Gottes beweist, wenn man sich von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes reinigt – und ein andermal (Röm. 13, 9), dass das ganze Gesetz im Gebot der Nächstenliebe zusammengefasst ist. Denn an wirkliche Frömmigkeit bei einem Menschen wird man nur da glauben, wenn er auch gerecht und lauter mit den Brüdern umgeht. Und weil unsre Guttaten den Herrn selbst nicht erreichen können, lässt sich nur aus unsrer Erfüllung der brüderlichen Pflichten auf die Gesinnung unseres Herzens schließen. Wie Johannes sagt (1. Joh. 4, 20): „Wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet?“ Wer also nicht als Heuchler dastehen will, soll seine Frömmigkeit durch brüderliche Liebe beweisen. So zieht denn Johannes den Schluss (1. Joh. 4, 21), dass nach des Herren Willen ein Mensch, der Gott liebt, auch seinen Bruder lieben soll. Bevor ich übrigens die beiden Hauptgebote im Einzelnen auslege, ist ins Auge zu fassen, was Mose mit seiner kurz zusammengefassten Aussage eigentlich beabsichtigt (5. Mos. 10, 12): Nun Israel, was fordert der Herr von dir denn dass du deinen Gott fürchtest und liebest den Herrn von ganzer Seele?

In diesen Sätzen ist zwar auch der altbekannte und schon aus natürlicher Empfindung sich ergebende Inhalt des Gesetzes enthalten. Zugleich aber empfangen wir einen Fingerzeig, wie wir das alles halten können. Darum wird uns gleicherweise gesagt, dass wir Gott fürchten, wie dass wir ihn lieben sollen: als Herrscher erhebt er Anspruch auf Ehrfurcht und Gehorsam, als Vater auf Liebe. Wir lernen also: wollen wir das Gesetz erfüllen, so muss der Anfang mit der Furcht Gottes gemacht werden, die mit Recht der Weisheit Anfang heißt (Ps. 111, 10; Spr. 1, 7; 9, 10). Weil aber dem Herrn ein gequälter und erzwungener Gehorsam nicht gefällt, hat sich die Liebe anzuschließen. Ja, wir wollen uns vor allem merken, dass die Liebe in unserer Verehrung Gottes die erste Stelle einnehmen muss: nichts Süßeres gibt es, als Gott zu lieben. Ein Herz, dass sich von solcher Süßigkeit nicht locken lässt, muss steinern sein: denn aus keinem andern Grund ladet und mahnt uns der Herr, ihn zu lieben, als weil er selbst uns liebt. Ja, Johannes kann sogar sagen (1. Joh. 4, 19): „Er hat uns zuerst geliebt.“ Wir ziehen auch den Schluss, dass dem Gott, der einen fröhlichen Geber lieb hat (2. Kor. 9, 7) nichts gefällt, was aus widerwilligem Herzen kommt oder nur aus Zwang geschieht. Paulus redet an der betreffenden Stelle zwar nur vom Almosengeben: aber der fröhliche Eifer eines willigen Gehorsams soll uns überhaupt im ganzen Leben beherrschen, wie man bei rechten und guten Kindern sieht, denen der Gehorsam gegen die Eltern eine Freude ist. Und sicherlich fließt die Ehrfurcht, die wir dem Herrn schulden, allein aus der Erfahrung seiner väterlichen Liebe, die uns zur Gegenliebe zieht. Wie es im Psalm heißt (130, 4): „Bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.“ So oft wir also hören, was die Schrift uns immer wieder einprägt (Ps. 31, 24): „Liebet den Herrn, alle seine Heiligen!“ – wollen wir uns erinnern, dass Gott uns eben darum seine Liebe zuwandte, damit wir gern und mit gebührendem Eifer seinen Willen tun lernen. Im Blick auf die hohe Vollkommenheit, die hier gefordert wird, muss es uns aber ganz klar werden, dass wir von wirklicher Erfüllung des Gesetzes noch weit entfernt sind: wir sollen Gott lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, sowie (5. Mos. 6, 5) von allem Vermögen. Wir können uns aber anstrengen soviel wir mögen, - unser Eifer wird doch halb und gebrechlich bleiben, solange die Liebe zu Gott nicht unsern ganzen Sinn erfüllt, alle unsere Gedanken und Begierden nicht auf ihn sich richten und alle unsere Anstrengungen nicht ihm gelten. Die eigene Erfahrung sagt uns hinlänglich, dass unser Sinn nur zu sehr zu allerhand Eitelkeiten neigt, dass viele böse Gedanken in uns aufsteigen, und dass es überaus schwer ist, alle verkehrten Regungen des Fleisches zu zähmen und zu unterdrücken. Auch der beste Kämpfer vermag bei äußerster Anstrengung in diesem geistlichen Kampf nur eben Stand zu halten. Ist es nun schon eine anerkennenswerte Tugend, nicht völlig lass zu werden, so wird vollends niemand behaupten wollen, dass er schon zu dem Ziel vorgedrungen sei, welches das Gesetz uns vor Augen stellt. So oft vielmehr die Lockungen der Welt und eitle Begierden uns reizen wollen, sollen wir uns sagen, dass noch irgendein Teil unsrer Seele von Gottes Liebe nicht völlig erfüllt ist: denn sonst könnte nicht das Widerspiel Eingang gewinnen. – Übrigens ist das „Herz“ an unsrer Stelle, wie auch anderwärts zuweilen, nicht als Sitz der Gefühle und Begehrungen, sondern der sittlichen Erkenntnis gemeint. So redet Gott einmal davon (5. Mos. 29, 3), dass er den Israeliten noch nicht ein Herz gegeben habe, das verständig wäre, Augen, die da sähen, und Ohren, die da höreten.

3. Mos. 19, V. 18. Du sollst deinen Nächsten lieben. Wie ein jeglicher gegen seinen Nächsten gesinnt sein soll, würde sich auf vielen Seiten nicht besser sagen lassen, als mit diesem einen Worte. Uns selbst zu lieben sind wir nicht nur übermäßig geneigt, sondern wir empfinden dazu den unwiderstehlichen Trieb: ja die Selbsthilfe verblendet uns derartig, dass sie nur zu viele Ungerechtigkeiten gebiert. Da wir also immer nur an uns denken, die Brüder aber vergessen und übersehen, kann Gott uns zur rechten Liebe nur dadurch anleiten, dass er jenen uns angeborenen und tief eingewurzelten verkehrten Trieb aus unserm Herzen reißt: dies wiederum kann nicht anders geschehen, als dass der uns einwohnenden Liebe eine andere Richtung gegeben wird. Übrigens haben die päpstlichen Theologen aus unserem Gebot in der törichtsten Weise gefolgert, dass die Selbstliebe die oberste Stelle behaupten müsse: denn sie werde zum Maßstab genommen, an welchem dann die Liebe zum Nächsten gemessen werden solle. Als ob Gott ein Feuer, das schon mehr als nötig brennt, noch weiter anfachen wollte! Die Absicht ist vielmehr, uns von unserer blinden und maßlosen Selbstliebe abzubringen: darum stellt Gott den Nächsten gleichsam an unsere Stelle und sagt, dass wir ihn nicht minder lieben sollen als uns selbst. Denn was Paulus von der Liebe lehrt (1. Kor. 13, 5), dass sie nicht das Ihre sucht, wird niemand leisten, der nicht sich selbst absagte. – Unter den Nächsten sind nicht bloß besonders nahe stehende Verwandte gemeint, sondern alle Menschen ohne Ausnahme: denn das ganze Menschengeschlecht bildet einen einzigen Leib, dessen Glieder wir sind, und Glieder müssen einander tragen und ineinander greifen. Darum sollen wir unter Umständen auch ganz fern stehende Leute ebenso hegen und pflegen, wie unser eigenes Fleisch. So hat es uns Christus in der Geschichte vom barmherzigen Samariter gelehrt (Lk. 10, 30 ff.).

Quelle: Müller, Karl / Menges I. - Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, 2. Band

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