Arndt, Friedrich - Das Leben Jesu - Fünfzehnte Predigt. Jesus und die Pharisäer.

Arndt, Friedrich - Das Leben Jesu - Fünfzehnte Predigt. Jesus und die Pharisäer.

Text: Matth. V., V. 20.
Ich aber sage euch, es sei denn eure Gerechtigkeit besser, denn die der Pharisäer und Schriftgelehrten, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

Das heißt in der Tat, über eine ganze hochgeachtete Sekte den Stab gebrochen! Hätten wir keine andere Stelle im Neuen Testament, als diese, von den Pharisäern und ihrem Wesen, wir wüssten genug, um uns für immer von ihnen abzuwenden. Denn nicht in das Himmelreich kommen, ist ja der größte Fluch und die härteste Strafe, welche der Richter der Lebendigen und der Toten über einen Menschen aussprechen kann. - Es ist schon immer ein trübes Zeichen und Zeugnis vom Verfall der Menschheit überhaupt und der Kirche insbesondere, wenn Sekten entstehen, und die eine göttliche Wahrheit in lauter verschiedene menschliche Auffassungen und Parteien auseinandergeht; zu Mosis, zu Davids, zu Esras Zeit gab es noch keine Sekten in Israel; erst in den Zeiten seines bürgerlichen und religiösen Verfalls, einige hundert Jahre vor Christo, bildeten sich die zu Jesu Zeit das Volk spaltenden drei Hauptsekten der Pharisäer, Sadduzäer und Essäer aus. Sie deuteten hin auf das Erlöschen des rechten Lebens, auf die Nähe großer Gerichte, auf die Übermacht der Feinde der Wahrheit, auf den Schluss einer abgestorbenen und verfaulenden Weltordnung und den Beginn einer neuen Zeit auf dem Weg entsetzlicher Kämpfe. Das Alles war auch damals im Anzug, und war der Einfluss der freigeisterischen und genusssüchtigen Sadduzäer, wie der einsiedlerischen, zurückgezogenen Essäer auf das Volksleben auch nicht sehr groß, desto umfangreicher war das Gewicht, welches die Pharisäer im Land zu erringen verstanden hatten. Jesu Widerstreit war daher besonders gegen sie gerichtet, und es war vornehmlich ihre Haltung, dem alttestamentlichen Gesetz gegenüber, welche der Herr vor Seinen Richterstuhl zog. Er tadelt nämlich vor Allem dreierlei an ihnen,

  1. ihre Auslegung,
  2. ihre Beobachtung des Gesetzes,
  3. ihre Gerechtigkeit nach dem Gesetz.

Überall hatten sie die verderblichsten Irrpfade eingeschlagen.

I.

Unmittelbar vor unserm Text hatte Jesus vom Gesetz gesprochen, und dass Er nicht gekommen sei, es aufzulösen, sondern zu erfüllen. Nun geht Er zu den Pharisäern über und deren Stellung zum Gesetz, und spricht im Texte: „Es sei denn eure Gerechtigkeit besser, denn die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ In diesen Worten tadelt Er sowohl ihre Auslegung, als ihre Beobachtung und Überschätzung des Gesetzes.

Zunächst ihre Auslegung. Da trat nämlich ihre tote Schriftgelehrsamkeit und Rechtgläubigkeit, mit der sie sich die Schlüssel des Himmelreichs und der Erkenntnis anmaßten, und den Buchstaben über den Geist setzten, recht augenfällig hervor. O wie sie des Herrn Gesetz verflachten und nur äußerlich und buchstäblich auffassten! Da war von keinem Eindringen in seine Tiefen die Rede; sie begnügten sich mit den äußerlichen Handlungen, wenn die nur gesetzmäßig waren, und fragten nichts nach den Gesinnungen, aus welchen sie hervorgingen; es war ihnen hinreichend zur Vollkommenheit, sich des groben Meineids, des Todschlags, des Ehebruchs, des Diebstahls zu enthalten, mochte das Herz die Keime aller dieser Sünden in sich pflegen und nähren oder nicht. Bei solcher Verflachung war es unmöglich, zu rechter Selbsterkenntnis und zum Hunger und Durst nach der Gnade zu gelangen. - Nicht minder verfälschten sie das Gesetz durch ihre Menschensatzungen und Aufsätze, dass es unter ihrer Hand ein ganz anderes wurde, als wie es ihnen Gott gegeben hatte, durch die Verkehrung aller Religionsbegriffe und Ordnungen, durch die vielen, künstlich aufgestellten Gewissensfragen in allen Gebieten. So unterschieden sie beim Schwören zwischen großen und kleinen, verbindlichen und nicht verbindlichen Eiden: die Eide beim Tempel, beim Altar, bei dem Himmel, waren unverbindlich, die Eide aber beim Tempelgold, bei dem Stuhl Gottes, waren heilig und schuldig, gehalten zu werden. So verboten sie alle Werke am Sabbat, die irgend an eine Tätigkeit und Ermüdung anstreiften, auch die Liebeswerke, die Pflegung und Heilung der Kranken, das Ausrupfen der Ähren zur Stillung des Hungers, das Weitergehen als zweitausend Schritte, das Verteidigen des Vaterlandes gegen die Feinde. Diese Menschensatzungen und Aufsätze behaupteten sie von ihren Vorfahren erhalten zu haben und drängten sie dem jüdischen Volk auf, und vermehrten sie von Tag zu Tag. - Statt das Gesetz zu üben und zu halten, stritten und disputierten sie über den Sinn des Gesetzes, und zerfielen untereinander selbst wieder in zwei Parteien und Schulen, in eine strengere und in eine gemäßigtere, die in allen wichtigen Stücken des Gesetzes voneinander abwichen, und es schärfer oder loser auffassten, namentlich bei der Ehescheidung. - Auf diese ihre Gesetzeserklärung und Gelehrsamkeit legten sie endlich einen so hohen Wert, als wäre sie die Hauptsache im Reich Gottes. Diese Gesetzeserklärungen, früher nur Mittel, um das Gesetz in seiner Kraft und Reinheit zu stützen und zu schützen, wurden ihnen wesentlicher Selbstzweck, galten ihnen und ihren Anhängern für das Wesen der Religion und für Bestandteile des göttlichen Gesetzes, das Gott dem Mose auf Sinai gegeben, und wurden von ihnen zu einem solchen Ansehen erhoben, dass sie sorgfältiger als das göttliche Gebot selbst gehalten wurden (Mark. 7,7-10), und letzteres in den Hintergrund drängten. Daher der Stolz der Pharisäer auf ihre Gesetzeskunde und Auslegung, durch welche sie sich erhaben fühlten über die nichtkundige Menge, über das Volk, das nichts vom Gesetz weiß (Joh. 7,47), und sich anmaßten, die Leiter der Blinden und das Licht derer, die in Finsternis wandelten, zu sein, und es verlangten, auf dem Markte gegrüßt und vom Volk Rabbi, Lehrer, Meister, genannt zu werden. Daher die Verkehrtheit, dass sie ihre Töchter keinem ungelehrten Mann zu Weibern geben wollten, dass sie keine Ungelehrten wollten vor Gericht zeugen lassen, dass sie ihnen kein Geheimnis anvertrauten, mit ihnen nicht zusammen reisten, von ihnen Niemand zum Vormund ernannten, ihnen nicht die Aufsicht über die Almosenkasten überließen, dass Einige von ihnen sogar behaupteten, dass die Ungelehrten keinen Teil an der Auferstehung haben würden. Sie sahen ihre Aussprüche und Entscheidungen geradezu für Gottes Wort an, für untrüglich und unfehlbar, und verlangten vom Volk unbedingte Annahme und Befolgung derselben unter Androhung des Bannes. Wer sehen wollte, wohin die tote Wissenschaft ohne die Furcht des Herrn führt, und wie sie, gleich einem vergifteten Pfeil, die Seelen verwundet und das Geistesleben erstickt, musste diese Pharisäer beobachten in ihren Schulen. Dahin kann der Mensch aber kommen, wenn er Geheimnisse Gottes erklären oder mehr wissen will, als das geoffenbarte Wort Gottes ihm mitteilt, und die menschliche Weisheit überschätzt und vergöttert. Es ist dieser Wissensstolz nicht minder Selbstvergötterung und Übertretung des ersten Gebots, wie die Vergötterung jeder andern Gabe und Leistung.

Jesus trat diesem Unwesen aufs Bestimmteste entgegen. Er suchte das Volk von der falschen Auslegung der Pharisäer zur richtigen Auslegung des göttlichen Worts zurückzuführen, vom Buchstaben zum Geist, vom erstarrenden Tod zum frischen Leben, von der äußeren Handlung zur inneren Gesinnung, von den Menschensatzungen zum Gottesgebot, von den Nebendingen zur Hauptsache. Wenn Jene in der Liebe einen Unterschied machten zwischen Freund und Feind, so hob Er diesen Unterschied für die Liebe auf, und sprach: „Ich aber sage euch, liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.“ Wenn Jene spitzfindig fragten: Wer ist denn mein Nächster? hielt Er ihnen das lehrreiche Gleichnis vom barmherzigen Samariter vor. Wenn Jene die Selbstrache des Einzelnen begründeten durch das Wort: „Auge um Auge, Zahn um Zahn,“ und was im Gesetze Mosis den Ältesten, d. h. den von Gott bestellten Richtern, überlassen war, auf alle Beleidigten ausdehnten, lehrte Er dagegen, lieber Unrecht leiden, als Unrecht tun, durch Verzeihen und Vergeben jede Wiedervergeltung vor Gericht unnötig machen, und nicht sowohl die Strafe, als die Besserung, nicht sowohl das Verderben, als die Rettung und Umkehr des Sünders suchen und erstreben. Wenn Jene die obersten Plätze sich aussuchten und ehrgeizig auf die Titel: Meister, Lehrer, Vater, hielten, lehrte Er sie von Selbsterniedrigung und Selbsterhöhung, verbot Seinen Jüngern die Titelsucht und prägte ihnen die Pflicht der Demut nachdrücklich ein. Wenn Jene endlich das Volk verachteten, alle Unstudierten als einen Gräuel verabscheuten, jeden Umgang mit ihnen wie die Pest flohen, und es ein gewöhnlicher Satz bei ihnen war: Das gemeine Volk soll ein Schemel sein zu der Pharisäer Füßen! suchte Jesus gerade das lernbegierige und empfängliche Volk auf, und sagte den Pharisäern ins Gesicht, dass nichts, was zum Mund einginge, den Menschen verunreinige, sondern was zum Mund ausginge. So war Er in allen Stücken der Widerpart der Pharisäer, überall der rechte Ausleger des Gesetzes, und täuschte die Menschen weder über sich selbst, noch über das Gesetz, und führte von der Menschensatzung zur göttlichen Ordnung wieder zurück. Kein Wunder, dass Er da einen harten Streit zu bestehen hatte die drei Jahre Seines öffentlichen Lehrerberufs, und der Scheinweisheit der Klugen dieser Welt gegenüber erst recht als das Licht der Welt erschien, das da erleuchtet Alle, die in Finsternis und Todesschatten sitzen.

II.

Dieser Kampf wurde noch heißer, wenn es nicht die Auslegung, sondern die Beobachtung des Gesetzes galt. Offenbarten die Pharisäer bei der Auslegung des Gesetzes ihre Buchstäbelei und Geistlosigkeit, so offenbarten sie bei der Ausübung desselben ihre Heuchelei und Scheinheiligkeit. Drei Religionsübungen waren es namentlich, auf welche sie großen Wert legten: das Almosengeben, Beten und Fasten. Das Almosen nannten sie das Salz des Reichtums, womit das ganze Gesetz erfüllt würde; darnach setzten sie das Gebet, und hielten davon, es sei eine Wurfschaufel, den Zorn Gottes damit zu versöhnen; nach dem Gebet betrachteten sie endlich auch das Fasten als ein gutes Werk, das in einem gerechten Leben nicht fehlen dürfe. Aus diesen drei äußeren Werken bestand hauptsächlich ihre Gerechtigkeit. - Das Schlimmste aber war die Art und Weise, wie sie dies äußere Werk betrieben, und dieser Art gegenüber galten insbesondere die Textworte: „Ich sage euch, es sei denn eure Gerechtigkeit besser, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Jesus selbst sagt uns (Matth. 6.), dass sie ihre Almosen gern öffentlich mit vielem Geräusch und Gepränge gaben und damit so lange warteten, bis eine Menge Menschen zusammengekommen waren, die Zeugen ihrer Wohltätigkeit sein konnten; dass sie es täglich so einzurichten wussten, dass sie allemal sich auf der Straße befanden, so oft ihre selbstgewählten Gebetstunden nahten, damit die Leute hören möchten, wie schön sie beten könnten; dass sie ihre Denkzettel nicht breit, die Quasten an ihren Kleidern nicht groß genug machen konnten, um nur mit ihrer Frömmigkeit recht in die Augen zu fallen und als besonders heilig verehrt zu werden; dass sie regelmäßig zweimal in der Woche fasteten, am Donnerstag, weil da Moses auf den Berg Sinai hinauf-, am Montag, weil er da wieder heruntergestiegen sei; dass sie dabei sauer aussahen und ihre Angesichter verstellten und eine gar klägliche Miene annahmen, als ob ihnen ihr Fasten rechte Herzenssache sei, womit sie außerdem auch oft noch viele Selbstpeinigungen und Abhärtungen verbanden, wie Schlafen auf hartem Boden oder auf Stacheln und Nägeln. Auf diese Weise glaubten sie vor dem Volk, gleich den alten Propheten, als priesterliche Volksvertreter zu erscheinen, welche nicht bloß eigene, sondern auch fremde Sünden zu tragen und abzubüßen haben, damit Gottes Zorn und Strafe abgewendet und Seine Gnade für das Volk erworben würde. Auf diese Weise dachten sie am besten für die Erbauung und Besserung der großen Menge zu sorgen, und ihr das gute Beispiel zu geben, das man dem Nächsten zu geben schuldig sei. So taten sie die Werke ihrer Gerechtigkeit nur im Blick auf die Menschen, nur aus Eitelkeit, Ehrgeiz, Ruhmsucht, Selbstgefälligkeit, ohne dabei Gottes Ehre, das Wohl des Nächsten und das eigene Seelenheil zu befördern. Das Leichte im Gesetz taten sie; denn was war leichter, als einen bestimmten Teil Almosen zu geben, zu gewissen Zeiten auswendig gelernte Gebete und Sprüche herzusagen, zweimal die Woche bis Sonnenuntergang wenig oder gar nichts zu essen, und nicht bloß die Feldfrüchte, sondern auch die Gartengewächse, die Krausemünze, den Till und Kümmel, zu verzehnten? Dagegen das Schwere im Gesetz, das Gericht, die Barmherzigkeit und die Treue ließen sie dahinten. Das Äußerliche, in die Augen Fallende, taten sie, und das schien so gottselig zu sein, wie möglich; dagegen um die innere Herzensreinigung und Vervollkommnung bekümmerten sie sich nicht, und glichen den Bechern und Schüsseln, die auswendig rein, inwendig voll Unmäßigkeit waren, und den übertünchten Gräbern, die leuchtendweiß angestrichen und mit schönen, lobenden Inschriften versehen, aber inwendig voll Totengebeine und Unflats waren. An ihre Kleider hatten sie viele Sprüche geschrieben, in ihre Herzen aber war keiner gedrungen. Alles war Tünche, gleißnerischer Prunk, Wolfsnatur im Schafskleid, Lüge in Worten und Werken, Missbrauch des Heiligsten für selbstsüchtige Zwecke, Feigheit und Frechheit zugleich. Sie hatten den Schein eines gottseligen Wesens; aber seine Kraft verleugneten sie. Sie sahen den Splitter in Anderer Augen und wurden des Balkens im eigenen Auge nicht gewahr. Sie dienten Gott mit ihren Lippen; aber ihr Herz war fern von Ihm. Sie reisten umher zu Wasser und zu Land, um Andere zu ihrer Sekte zu bekehren, und vergaßen darüber die eigene Sinnesänderung und Besserung. Sie hielten viel auf äußere Waschungen, ihre Trinkgefäße, Krüge und Tische mussten immer rein sein, des Waschens und Spülens war kein Ende, sie gingen sogar nicht ins Richthaus des Pilatus am Osterfest, um sich nicht zu verunreinigen - aber machten sich kein Gewissen daraus, am Osterfest unschuldig Blut zu vergießen. Sie bauten den alten Propheten prachtvolle Denkmäler, fanden es aber gar nicht unrecht, die Propheten ihrer Zeit, vor allen den Sohn Gottes, zu kreuzigen und zu töten.

Wie hätte Jesus, der offene Verkündiger der Wahrheit, zu dieser schändlichen Heuchelei schweigen und durch Sein Schweigen sie in ihrer Sünde bestärken, sich ihrer Sünde teilhaftig machen können? Es war unmöglich. Gleichviel, ob sie noch so hoch standen im Ansehen beim Volk, so hoch, dass in keinem Stück der Religion, weder beim Opfer, noch beim Gebet, etwas ohne ihren Rat und ihr Befragen vorgenommen werden durfte: Finsternis konnte Jesus nicht Licht, und schwarz konnte Er nicht weiß nennen. Ob sie sogar zum Teil Mitglieder des hohen Rats waren: die Verwirrung aller Begriffe von Recht und Unrecht, von gut und böse, und die Nachahmung im Schlechten war um so gefährlicher, je höher sie standen. Ob sie die höchste Macht in Händen hatten, Ihm zu schaden: lieber wollte Er selbst untergehen, als die Wahrheit verleugnen und die Menge in den Abgrund des Verderbens sinken lassen. So stellte Er denn gerade sie, diese überheiligen Leute, als den schlechtesten Teil des Volks dar, und warnte laut und öffentlich vor der Heuchelei der Obersten und Vorsteher, und rief noch zuletzt, um scheidend noch einen Donnerkeil in ihr Herz und Gewissen zu schleudern, achtmal hintereinander Wehe über sie aus. -

III.

Es war endlich die übertriebene Wertschätzung des Gesetzes an sich, welche bei den Pharisäern einen Hauptpunkt ihres Lebens ausmachte, und zu der Selbstgerechtigkeit und Werkheiligkeit führte, welche gerade dieser Sekte eigentümlich ist. Wohl hieß es im Gesetz Gottes: „Tue das, so wirst du leben!“ und in der Tat, wer das Gesetz vollkommen gehalten hätte in Gedanken, Neigungen, Worten und Werken, wäre dadurch gerecht geworden. Es hieß aber auch: „Verflucht ist, wer nicht hält alle Worte des Gesetzes, dass er danach tue,“ und da Niemand das Gesetz hält, so spricht es über Jeden den Fluch aus, und kann Niemand gerecht werden durch die Werke des Gesetzes. Entweder muss daher das Gesetz den Menschen, wenn er es ernst und gewissenhaft meint, zur Verzweiflung bringen, und ihm somit Zuchtmeister werden auf Christum, oder, wenn er es nur äußerlich nimmt und mit der Gesetzlichkeit vor den Menschen sich begnügt, zum geistlichen Hochmut und Stolz auf diese seine Werkgerechtigkeit und damit zur Gleichgültigkeit, ja zum Hass gegen Christum, den Herrn und Erlöser. Letzteres war der Fall bei den Pharisäern. Nie hat es wohl eingebildetere und tugendstolzere Menschen in der Weltgeschichte gegeben, als eben sie. Sie ließen es bei dem äußeren Gehorsam gegen die Gebote Gottes bewenden, und meinten, mit diesen äußeren Werken den Himmel zu verdienen. Sie hielten sich für besser, als sie waren, und für besser, als Andere, weil ihnen alle und jede Selbsterkenntnis fehlte. Sie wussten es mit ihrer Scheinheiligkeit so schlau anzufangen, dass sie noch mehr taten, als das Gesetz vorschrieb, und weniger taten, als es verbot, und überverdienstliche gute Werke aufzuweisen hatten. So schlossen sie sich vom Himmelreich aus, und ließen auch die nicht hinein, die hinein wollten.

Nun und nimmermehr hätte Jesus der Heiland der Welt sein können, wenn Er dieser hochmütigen Selbstvergötterung und Volksverführung durch Lehre und Tat nicht entgegen getreten wäre. Darum nannte Er sie bei Namen, Schlangenbrut und Otterngezücht; darum warnte Er die Jünger vor dem Sauerteig der Pharisäer (Matth. 15,14. Luk. 12, 1), forderte sie auf, sie fahren zu lassen, diese blinden Leiter (16,3), und erklärte, dass alle Pflanzen, die Sein Vater nicht gepflanzt, würden ausgereutet werden. Darum trieb Er, der die Liebe war und die Mühseligen und Beladenen zu sich rief, sie, und ihren Anhang mit der Geißel aus dem Tempel hinaus: Die Liebe, ob sie auch die Sünder liebt und zu retten sucht, muss doch die Sünde hassen und strafen, wo sie sie findet. Und wie musste erst Sein Wandel sie richten und strafen! Seine Wahrhaftigkeit ihre Lüge, Seine Offenheit ihre Falschheit, Seine Geistesfreiheit ihre Engherzigkeit, Seine tiefe Demut ihren grenzenlosen Stolz, Seine Menschenliebe ihre Gehässigkeit, Seine Selbstlosigkeit ihren Ehrgeiz. Er redete ja kein Wort und verrichtete keine Tat um des Lobes der Menschen willen, Er ließ durch keinen Tadel und keine Schande der Welt sich von der Äußerung Seiner Gesinnung und Überzeugung zurückhalten. Er war in Allem das Gegenteil von ihnen. Sie wuschen sich ängstlich die Hände vor dem Essen: Er nicht. Sie unterschieden sich vom Volk durch ihre Kleidung und Lebensweise: Er nicht. Sie gingen nur mit ihresgleichen um: Er mit allen Menschen. Sie beobachteten haarscharf die selbstgemachten Satzungen des Sabbatgesetzes: Er heilte am Sabbat ihre Kranken. Sie waren peinlich im Essen und Trinken: Er aß und trank Alles, was die Liebe Ihm vorsetzte, und kehrte sich nicht an ihre Verleumdungen. Sie prahlten mit ihrer Frömmigkeit: Er zog sich mit den Übungen derselben ins Verborgene zurück, in der Einsamkeit und auf Bergeshöhen sammelte Er sich am liebsten zum Gebet, und fern von der großen Menge, unter wenigen Augen, verrichtete Er Seine größten Wunder, und verbot den Jüngern, sie auszubreiten. - Kein Wunder, dass sie Ihn hassten! Er oder sie - das war ihnen klar, war die Entscheidung. Sein Sieg war ihre Niederlage, Sein Eingang ihr Untergang. Darum versuchten sie Ihn durch verfängliche Fragen über die Ehescheidung, über den Zinsgroschen, über das vornehmste Gebot im Gesetz, über das Heilen am Sabbat, über Sein Essen mit den Zöllnern und Sündern, - umsonst, die Versuchung fiel auf ihr Haupt zurück und endete mit ihrer Beschämung. Darum verlästerten sie Ihn: Er treibe den Teufel aus durch Beelzebub, den obersten der Teufel, - umsonst, ihre Verleumdung endet mit Jesu Ehrenrettung und mit dem Ausruf jenes Weibes: „Selig ist der Leib, der Dich getragen hat, und die Brüste, die Du gesogen hast.“ Darum schickten sie am Laubhüttenfest Knechte aus, dass sie Ihn griffen, - umsonst, die Knechte kehren unverrichteter Sache zurück und bekennen: „Also hat noch nie ein Mensch geredet wie dieser Mensch!“ Sie schlagen Ihn endlich ans Kreuz und jubeln über den siegreichen Erfolg ihrer jahrelangen Bemühungen, - umsonst, am Kreuz schon werden sie durch die Stimmen der Natur, des Schächers, des Hauptmanns, des Volks gerichtet, und am dritten Tage steht Er und mit Ihm Seine Sache wieder von den Toten auf.

Welch ein Bild, Geliebte! Wie lehrreich und erwecklich! Der ewigen Wahrheit gegenüber erbleicht jede Lüge und Schminke, auf die Dauer kann es die Heuchelei vor dem Angesicht der Redlichkeit nicht aushalten, und wer unter uns den Pharisäer in sich trägt, es steht ihm zuletzt der Pharisäer Lohn bevor. Ach, und der Pharisäer steckt heut zu Tage noch in der Welt, und in Jedem unter uns. Vielleicht nicht so grell, wie in jener Sekte zu Jesu Zeit; aber desto feiner und tiefer. Vielleicht ist es nicht die Hauptsünde unserer Tage, sondern eher der ungläubige und genusssüchtige Sadduzäismus; aber doch ist er nicht untergegangen. Die Pharisäersekte ist einmal eine unsterbliche Sekte und wird bleiben bis ans Ende der Tage. Man kann mit Entrüstung den Pharisäer im Tempel danken hören, man kann mit hohem Scharfblick die Sünde des Pharisäismus an Anderen wahrnehmen und. strafen, und selber, ohne es zu wissen, in demselben über alle Maßen befangen sein. Sobald wir nur im mindesten das Wort Gottes modeln und verfälschen nach unseren Lüsten und Begierden, oder die Beobachtung des Gesetzes nur beschränken auf Freibleiben von äußeren groben Sünden und Vergehungen, oder in unseren Tugenden eine eigene Gerechtigkeit aufrichten, oder die Blindheit, die Selbstgenugsamkeit, die Lieblosigkeit, den Stolz und Ehrgeiz der Pharisäer nähren in unseren Herzen, oder Gott wohl mit den Lippen preisen, aber dem Herzen nach fern von Ihm bleiben: was sind wir anders, als Pharisäer? Doch - keine Sünde ist so groß, dass sie nicht vergeben und geheilt werden könnte! Auch Pharisäer sind bekehrt und gläubig geworden. Waren nicht Nikodemus, Gamaliel, Paulus ehemals Pharisäer gewesen? Und wie haben sie später den Herrn bekannt und geehrt, und rufen uns noch zu: „Seid unsere Nachfolger, gleichwie wir Christi.“ O, dass viele Nikodemus, Gamaliels und Paulus unter uns aufständen! Dass wir den Herrn nicht hinderten, Sein Werk an uns zu vollbringen! Dann würde es von uns nicht heißen: „Es sei denn eure Gerechtigkeit besser, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen!“ sondern vielmehr: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der wahren Gerechtigkeit in Christo, die nicht aus dem Gesetz, sondern aus dem Glauben an Christum kommt; denn sie sollen satt werden.“ Amen.

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