Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Zwölfte Betrachtung. Über die Menschheit Christi.

Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Zwölfte Betrachtung. Über die Menschheit Christi.

Von Lieblichkeit, Liebe, Nützlichkeit fließt ganz über die heiligste Geburt und Kindheit unseres Erlösers. Von Lieblichkeit in Beziehung auf das Frohlocken, von Liebe in Beziehung auf das Leiden, von Nützlichkeit in Beziehung auf die Bedeutung. Denn was gibt es Lieblicheres, als den selbst als Menschen zu sehen, von dem es bekannt, dass er des Menschen Schöpfer ist? Was muss wiederum eben dem Menschen so liebevoll erscheinen, als deutlich zu sehen, dass mit diesem Mittler zwischen Gott und den Menschen, unserem Herrn Jesus Christus, auf eine gewisse wunderbare und unaussprechliche Art die Ewigkeit einen Anfang nimmt, die Höhe erniedrigt wird? Im Leibe der Mutter wird der empfangen, der ewig in des Vaters Schoß ist. In Windeln eingehüllt ist der, der die Erde mit Wurzeln und Bäumen bekleidet, den Himmel mit Lichtern geschmückt, das Meer mit Fischen erfüllt hat. Den die Himmel der Himmel nicht fassen können, der ist in eine enge Krippe eingeschlossen, wird von der Muttermilch genährt. Der schreitet fort in Weisheit, dessen Weisheit keinen Anfang und kein Ende hat, der auch die Weisheit des Vaters ist, lebt in der Zeit, während seine Ewigkeit so wenig wächst, als abnimmt: schreitet fort in Gnade, er der Urheber, Erhalter und Vergelter aller Gnade. Der ist Eltern untertan, den die ganze Schöpfung anbetet, vor dem auch jedes Knie sich beugt. Setzen wir noch hinzu, wenn es beliebt, dass er sich taufen ließ, und zwar der Herr vom Knechte, der Gott vom Menschen, und der König vom Soldaten. Der wird vom Teufel versucht, dem Engel dienen. Die Speise hungert, die Quelle dürstet, der Weg wird müde, die Höhe herabgedrückt, die Kraft schwach, die Stärke entkräftet, die Herrlichkeit beleidigt, die Fröhlichkeit trauert, die Freude empfindet Schmerzen und die Majestät wird erniedrigt und das Leben stirbt. Guter Jesus, wie süß bist du dem, der von Herzen an dich denkt und dich liebt! Und ich weiß wenigstens nicht, weil ich es auch nicht völlig zu begreifen vermag, woher es kommt, dass du weit süßer im Herzen dessen bist, der dich darum liebt, weil du Fleisch, als darum, dass du das Wort bist; süßer darum, dass du niedrig, als darum, dass du erhaben bist. Ist es doch weit süßer für die Erinnerung des dich Liebenden, zu sehen, wie du aus der Jungfraumutter in der Zeit geboren worden, als wie du in lauter Glanz vor Luzifer vom Vater gezeugt worden, wie du dich selbst entäußert und Knechtsgestalt angenommen hast, als wie du in Gottesgestalt Gott gleich warst, süßer, dich vor den Juden am Kreuz sterben, als über die Engel im Himmel herrschen zu sehen, dich Allem unterworfen zu betrachten, als über Alles erhaben, wie du als Mensch Menschliches getragen, denn als Gott Göttliches vollbracht hast, wie du Erlöser der Verlorenen, als wie du Schöpfer der noch nicht im Dasein Befindlichen bist. O wie süß ist es, im Innersten des Herzens sich ins Gedächtnis zu rufen, wie du für uns in der Jungfrau ohne Befleckung empfangen, ohne Verlegung ihrer Jungfräulichkeit geboren, in Windeln gewickelt, in die Krippe gelegt worden bist, wie du Vorwürfe erduldetest, bei Beschimpfungen schwiegst, den Jüngern die Füße wuscht, mit dem Leintuche sie abwischtest, Nachts dein Gebet verlängertest, Blutschweiß vergosst, um dreißig Silberlinge verkauft, mit einem Kusse verraten, mit Schwertern und Prügeln gefangen genommen, gebunden, gerichtet, zur Geißelung verurteilt, zur Tötung wie ein unschuldiges Lamm geführt wurdest, deinen Mund bei Misshandlungen nicht auftatest, auf die Menge der Anklagen nicht antwortetest, wie du Faustschläge bekamst, Backenstreiche erduldetest, mit Geißeln gehauen, von Wunden unterlaufen, mit Speichel überzogen, mit einem Purpurmantel bekleidet, mit Dornen gekrönt, zum Spott angebetet, mit einem Rohre auf das Haupt geschlagen, mit einem weißen Kleide verhöhnt, zum Tode verurteilt wurdest, dein Kreuz trugst, und daran geheftet für deine Kreuziger batest, mit Essig getränkt, mit Galle gespeist, vom Räuber gescholten wurdest, dein Blut durch fünf Wunden deines Körpers vergossest, das Haupt neigtest, den Geist aufgabst, deine geliebte Seele in die Hände des Vaters empfahlst, und das Alles für uns erduldetest. Das Alles bildet und mehrt mehr und mehr die Freude, das Vertrauen und den Trost, die Liebe und die Sehnsucht.

Denn wer sollte sich nicht freuen und jauchzen? wer nicht über die Maßen fröhlich sein, und sich Glück wünschen, wenn er sieht, wie sein Schöpfer nicht bloß Mensch für ihn ward, sondern so Hartes und Unwürdiges erduldet hat? Was gibt es für den Geist Lieblicheres zur Erinnerung? was Süßeres zum Kosten? was Fröhlicheres zum Denken? Wer entreißt mir den Platz im Reiche, wo der allmächtig ist, der mein Bruder und mein Fleisch ist? Welches Ereignis könnte mich trostlos machen, da mir so große Hoffnung so große Gewissheit verschafft? Wie kann irgend eine Traurigkeit in dem Platz finden, der mit solchen Gedanken beständig sich beschäftigt? Und nicht geringeres Vertrauen erzeugt sich in ihm, wenn er es fleißig seinem Erlöser gegenüber entzündet. Gewiss eine durchweg sichere und in nichts unbesonnene Voraussetzung, welche die Betrachtung der Menschheit an Christus im Geiste hervorgebracht hat. Wie sollte ich nicht hoffen, dass ich Anteil haben werde am Geschick der Auserwählten, wenn ich sehe, wie der Schöpfer des Weltalls selbst für mich gestorben ist? Für mich vergoss er sein Blut aus seiner Seite: wie sollte ich an meine Erlösung nicht zuversichtlich glauben, da ich wohl weiß, ein so großer Preis von solcher Beschaffenheit sei für mich gegeben worden? Auch Wasser vergoss er für mich, wie sollte ich nicht vertrauensvoll glauben, ich sei von allen meinen Befleckungen gereinigt, da ich bekanntlich durch das Wasser, das aus dem Innern Christi floss, gereinigt bin? Vergossen, sage ich, ist jenes, vergossen dieses; jenes zur Erlösung, dieses zur Abwaschung des Erlösten; jenes, um mich aus der Gefangenschaft loszukaufen, dieses um den Unreinen abzuwaschen. Für mich den Knecht ist der Sohn dahin gegeben worden, um mir die Erbschaft durch seinen Tod zu erkaufen: wie sollte ich nicht glauben, ich sei Erbe und zwar Erbe Gottes, Miterbe aber Christi? (Röm. 8,17.) Als ich Feind war, ward ich mit Gott versöhnt durch den Tod seines Sohnes: wie sollte ich, da ich nun durch sein Blut gerecht gemacht bin, durch ihn nicht vor seinem Zorne geborgen sein? Seines eigenen Sohnes hat der Vater nicht verschont, sondern ihn für mich hingegeben: wie sollte er mit ihm mir nicht Alles geschenkt haben? (Röm. 8,32.) Wer wird klagend wider mich auftreten, da seine Liebe die Menge der Sünden bedeckt? (1. Ptr. 4,8.) Sein Blut schreit stärker von der Erde, als das Abels, und der Ton so großen und so beschaffenen Geschreis sollte das Herz des Vaters nicht rühren?

Ferne sei es, nochmals und abermals ferne sei es, dass ich ohne innerstes Mitleiden bliebe bei Betrachtung deines Sterbens für mich, o guter Jesus! Vor meinen Augen solltest du gekreuzigt werden und keine Rührung mein Herz erfassen; dein Schwert schwebt mir vor, und es sollte nicht meine Seele durchdringen? Süßer Jesus, was soll es mir, dass ich mit dir leide? Aber es wird wohl seinen Nutzen haben.

Warum nicht, wenn es bekannt ist, dass die Wahrheit der steht und empfindet, in welchem du sagtest, dass, wenn wir mitleiden, wir mit ihm herrschen werden? (Röm. 8,17.) und an einer andern Stelle: wenn wir mit ihm gestorben sind, werden wir auch mit leben (2. Tmth. 11,12). Damit aber dieses Mitleiden, von dem wir reden, in unserem Geiste zum Leben komme, so tut es not, dass Liebe in ihm entbrenne, denn wen wir feurig lieben, mit dessen Missgeschick haben wir ja auch Mitleiden, und wünschen uns Glück zu seinem Glücke. Jesus, mein Geist vermag es weder zu fassen, noch die Zunge auszudrücken, wie sehr du es verdienst, von mir geliebt zu werden, der du dich so sehr herabgelassen hast, mich zu lieben. Du hast mich geliebt und mich von meinen Sünden mit deinem Blute abgewaschen (Offb. 1,5). Denn wenn ich dich sehr liebe, so hast du mich ja zuvor geliebt, und mehr. Denn darin zeigt sich Gottes Liebe, sagt der Apostel, nicht als hätten wir Gott geliebt, sondern dass er uns zuerst geliebt hat (1. Joh. 4,10). Er liebte, als ich nicht liebte, denn wenn du den der nicht liebt, nicht liebtest, würdest du ihn auch nicht lieben machen. Ich liebe dich über Alles, o süßester Jesus, aber all zu wenig, weil weit weniger als du verdienst, Geliebtester, und also weniger, als ich schuldig bin. Und wer vermöchte dies? Es vermag dich Einer zu lieben, nach Kräften, wenn du es ihm verleihst, aber niemals nach Schuldigkeit. Wer sollte dir dein unschuldiges Blut erstatten, das nicht tropfenweise, sondern in Wellen durch fünf Teile deines Körpers hervorfloss. Du schufst mich, als ich noch nicht war; du erlöstest mich, als ich verloren war. Aber deine Liebe allein war ja der Grund, warum du mich erschufst und erlöstest. Wie nun, o Jesus, Süßigkeit meines Lebens! was sahst du an mir, dass du so großen Preis für mich gabst? Gar nichts, nur weil es dir so beliebte. Wohl erwiesest du viel als Schöpfer, aber weit mehr als Erlöser. O wie schön bist du, Herr Jesus, und wie lieblich! Schön, aber für die, die dich sehen; lieblich, aber für die, die dich kosten. Man kennt dich nicht, wenn man dich nicht sieht. Du wirst nicht süß, wenn man dich nicht kostet. Mach, dass ich dich suche, beim Suchen dich finde, dich festhalte und zu eigen behalte, dass du allein meine Süßigkeit, mein Geschmack und mein Wohlgefallen bist. Mach, dass ich dich erkenne, fürchte, liebe, verlange. Lass mich nicht in die Liebe zum Zeitlichen fallen. Wehe mir, mein Herr, dass ich nicht unausgesetzt kosten kann, wie lieblich und süß du bist!

Ich bin ein Sünder, o erbarmungsreichster Jesus. Erbarme dich meiner, der du nicht gekommen bist, Gerechte zu berufen, sondern Sünder (Matth. 9,13). Du geöffnete Quelle für das Haus David (Zach. 13,11), zeige dich und ergieße dich, und wasche mich ab. Denn geöffnet bist du für Jedermann, der dich empfindet, und allen Schmutz aller wahrhaft Reuigen wäscht du ab, indem du, o süßester Jesus, Gutes für Böses, ein Geschenk für Bosheit, ein Verdienst für ein Vergehen, Gerechtigkeit für Übeltat, und Gnade für Schuld gibst. So erfuhr es König David, der in seiner Reue von deinem Boten vernahm: Der Herr hat dir deine Sünde vergeben, du sollst nicht sterben (2. Kng. 12,13). Denn durch dich ward er mit Bußtränen gewaschen und gereinigt von den Makeln schwerer Schuld. Deine Reinigkeit wusch ab an ihm das Verbrechen des Ehebruchs, und deine Liebe tilgte den grausamen Menschenmord. Durch dich ward jener Apostelfürst gereinigt, der bitterlich seine feige Verleugnung beweinte. Durch dich auch jene berüchtigte Sünderin, o du reinste und süßeste Quelle, weiß gewaschen verdiente sie durch so große Freundlichkeit, dass ihr verliehen ward, früher als die Apostel die neue Herrlichkeit deiner Auferstehung zu sehen, und sie ihnen anzukündigen. Durch dich ward auch jener gereinigt, der neben dir am Kreuz hängend sowohl für seiner Taten wert anerkannte, was er erhielt, als auch bat, du möchtest seiner in deinem Reiche gedenken, und dadurch es verdiente, dass du ihn sogleich erhörtest.

In Wahrheit sage ich dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein (Luk. 23,43). Und wie Viele werden durch dich, liebevoller Jesus, täglich erleuchtet und abgewaschen, von der Finsternis zum Lichte, und vom Schmutze zur Reinigkeit! Nimm mich auf nach langer Verbannung von dir.

Süßigkeit des Lebens, und Gesundheit ohne Trug, o guter Jesus, wenn ich auf das Fleisch gesät habe, was anders werde ich vom Fleische ernten, als das Verderben? Und wenn ich die Welt geliebt habe, welche Frucht werde ich davon bekommen? Dreifach, Herr Gott, pflegte ich dem babylonischen Könige den Tribut in abscheulicher Untertänigkeit gegen ihn zu entrichten. Was ist die Untertänigkeit gegen ihn anders als Sünde? Der dreifache Tribut aber ist Lust, Einwilligung, Gewohnheit. Und dieser Tribut ward mit dem Herzen, dem Mund und der Tat entrichtet. Siehe welches Feuer unter diesem Hafen1) brannte, der nach dem Nordwind gerichtet war, dessen Kohlen der Feind anfachte, der die Gedanken meines Geistes verkohlte. Siehe barmherziger Gott, siehe ein dreifacher Strick, der Geist, Zunge, Leib gewaltig bindet. Nie war Gesundheit in mir von der Fußsohle bis zum Scheitel (Jes. 1,6). Heile also meine Seele, weil ich mich an dir versündigt habe (Ps. 40,5): Verrichte also dein Werk, liebreicher Jesus, und rette mich. Denn du heißt Jesus aus keinem anderen Grunde, als weil du dein Volk von seinen Sünden erlösen wirst (Matth. 1,21), der du mit dem Vater und heiligen Geiste lebst und regierst von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

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Topf
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