Tholuck, August - Eph. 2,3. "Wir sind Kinder des göttlichen Zorns von Natur"

Tholuck, August - Eph. 2,3. "Wir sind Kinder des göttlichen Zorns von Natur"

Es ist eine schöne Sache, wenn die Gemeinde die Zeiten des Kirchenjahrs mitlebt, eine schöne Sache, wenn der einzelne Christ in der heiligen Adventszeit mit der gesammten christlichen Kirche der Geburt des kommenden Erlösers entgegen harrt, am heiligen Christfest mit der gesammten christlichen Kirche an der Wiege des gebornen Erlösers sein Hosianna singt, am Charfreitage mit der gesammten christlichen Kirche nach Golgatha zieht, am Ostermorgen in den gemeinsamen Jubel der Christenheit einstimmt, in der heiligen Pfingstzeit mit der Gesammtheit der Kirche um die Ausgießung des Heiligen Geistes bittet. Es ist das Kirchenjahr in seinem Verlaufe eine fortgehende Erinnerung an die ewige Geschichte, welche neben der Geschichte des alltäglichen Lebens herläuft. Darum läßt denn der Geistliche auch nur ungern die Rücksicht auf die Zeiten des Kirchenjahrs außer Acht, und so möchte auch ich am heutigen Adventstage gern mit euch, im Namen des Herrn Versammelte, des kommenden Erlösers mich freuen. Aber noch bleibt eine Aufgabe zu lösen uns übrig, welche wir in unserer letzten Betrachtung uns stellten: wir haben zwei Aussprüche des großen Heidenapostels über das Verhältniß des Menschen zu Gott vernommen, welche einander zu widersprechen und auszuschließen schienen; wir haben ihn auftreten sehen auf dem Areopag, und mitten in der umdüsterten Heiden-Welt das Wort aussprechen hören: „Wir sind göttlichen Geschlechts!“ Aus demselben Munde haben wir das Zeugniß vernommen: „wir sind von Natur Kinder des göttlichen Zorns!“ Wir haben die Bedeutung jenes ersten Ausspruches erkannt, wir dürfen uns der Erkenntniß des andern nicht entziehen, da erst durch die Erkenntniß des zweiten der erste sein volles Licht erhält. Wie wenig es indeß auch so scheinen möchte, so wird dennoch auch die Betrachtung dieses Textes zu einer Adventspredigt für uns werden. Und so vernimm denn, Gemeinde des Herrn, was der Apostel der Heiden an die Epheser schreibt in dem 2ten Kapitel jenes Briefes im dritten Verse: „Wir Alle waren auch Kinder des Zornes von Natur.“

Ihr seht, Geliebte, die Betrachtung unseres heutigen Textes wird uns in dunkle Abgründe führen, es wird das Wort Gottes nicht als unser Tröster, sondern als unser Ankläger auftreten, es wird nicht die Wunden verbinden, sondern Wunden schlagen. Aber, Geliebte, wollet nur nicht den Prediger desselben anklagen, als ob er nur die düstre Seite der Wahrheit euch vorhielte. Er hält euch keine andere Seiten vor, als das Wort Gottes selbst. Hat er nicht in unserer letzten Betrachtung durch dasselbe Gotteswort euch zur Erkenntniß der rechten Menschenwürde geführt, durch welches er heut euch demüthigen muß? O daß wir denn allezeit als demüthige Kinder uns vor das Gotteswort hinstellen möchten, ob es uns Thränen entlocken, ob es sie trocknen wolle.

So laßt uns denn zuerst fragen, in welchem Sinne die Heilige Schrift von einem Zorne Gottes lehret, und sodann, in welchem Sinne wir allesammt von Natur Kinder des göttlichen Zornes heißen.

Unser Auge wendet sich zur Betrachtung der Tiefen der Gottheit; um seines Wesens Eigenschaften zu erkennen, erheben wir unsern Geist. Da tritt zuvörderst jene alte Befürchtung entgegen, daß ja die Erkenntniß dieser Tiefen den Menschen überhaupt verhüllt sei. Allerdings mag nun auch diese Klage aus einem redlich-frommen und demüthigen Herzen hervorquellen, doch dürfen wir es uns nicht verhehlen, daß auch nicht selten ein fleischlicher Sinn ihr Grund ist. Ist es wahr, daß Gott uns verschlossen ist, wohlan, so wende der Geist sich zu der Welt hin, die willig ihre Pforten ihm aufthut! Ist es wahr, daß das Ewige für den Menschen geist nicht die rechte Speise ist, wohlan, so nähre er sich von den Trabern der Zeitlichkeit! Seht, auch aus diesem fleischlichen Sinne geht oftmals die Erklärung hervor, daß Gottes Tiefe uns verhüllt sei. Oftmals geschieht es, daß der Fleischessinn mit dem Geständniß, was Gott sei, sei leider dem Menschen verschlossen, nur loskommen will, um desto vorwurfsfreier der Endlichkeit sich zuzuwenden. - Wohl tragen wir das Bewußtseyn unserer Getrenntheit von Gott in uns, und insofern er von uns getrennt ist, ist er auch der verborgene Gott; wohl steht geschrieben, daß „er in einem Lichte wohnt, da Niemand zukommen mag“: aber ist der von der Menschheit getrennte Gott ihr nicht nahe gekommen? Hat der verborgene Gott ihr nicht sein Antlitz enthüllt in der Klarheit des Antlitzes Jesu Christi? Brüder, seitdem Einer dasteht in der Geschichte, der da ruft: „Wer mich stehet, der stehet den Vater,“ hat Gott aufgehört, ein verborgener Gott für die Menschen zu seyn. - Was euch mißtrauisch macht gegen eure Erkenntniß des göttlichen Wesens, ist es nicht das Menschenähnliche in Allem, was wir von ihm wissen und aussagen? Ist aber der Mensch sein Ebenbild, wie soll denn nicht auch alles Menschenähnliche zugleich gottähnlich seyn? Hat er uns gemacht zu seinem Bilde, wie soll das Bild nicht aus sich selber das Urbild zu erkennen suchen? Es ist wahr, das Gottesbild in uns ist zerrissen und umschattet; aber ist nicht jener Menschensohn unter uns erschienen, der, weil er in allen Stücken der Sohn des lebendigen Gottes war - Gottes Sohn, wie des Menschen Sohn - darum auch sagen konnte, wovor jede andere menschliche Zunge erzittern würde: „Wer mich siehet, der stehet den Vater“? Darum seit er in die Welt gekommen ist, dürfen wir das kühne Wort wagen - und wenn nicht das Mindeste von Gottes Eigenschaften in der Schrift verzeichnet wäre, wir kennten sie, - wir kennen den Sohn, und im Glanze seines Angesichtes schauen wir den Vater. Aber dieser Sohn, der in des Vaters Schooße lag, hat uns auch durch seinen eigenen Mund und durch den seiner Apostel bezeuget, was er gesehen und gehört hat vom Vater.

Und so bezeuget uns denn sein und seiner Apostel Mund, daß es einen Zorn Gottes giebt. Nicht bloß im Alten Bunde, sondern gleichermaßen im Neuen ist davon die Rede. Ruft dort der Mund des Propheten: „Menschenkinder, suchet Gerechtigkeit, auf daß ihr verborgen bleiben möget am Tage des Zornes,-“ so rufet hier der Mund des Bußpredigers: „Ihr Otterngezücht, wer hat euch gewiesen, daß ihr dem zukünftigen Zorne entrinnen werdet?“ und der Evangelist stimmt ein: „Wer an den Sohn Gottes nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.“ Und auch hier im Neuen Bunde giebt es einen Weheruf der Unbußfertigen, die verloren gehen: „Ihr Berge und Felsen, fallet auf uns und verberget uns vor dem Angesichte deß, der auf dem Stuhle sitzet, und vor dem Zorne des Lammes, denn es ist gekommen der große Tag seines Zornes, und - wer kann bestehen!“ Hat dort Gott in seinem Zorne geschworen, daß „die Widerspenstigen seine Ruhe nicht sehen werden,“ so ruft hier der Jünger, den ihr den Jünger der Liebe nennet: „Wer an den Sohn nicht glaubet, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibet über ihm.“ - Unser Inneres bebet und sträubet sich ob solcher Predigt. Ja, und ob nicht zu dieser Zeit unter den Dienern des Wortes Gottes selbst gefunden werden, die solches zu predigen sich scheuen! Predigten über die Liebe Gottes habt ihr ja wohl Alle vernommen, aber ob ihr auch wohl schon Predigten vernommen habt über einen dieser Aussprüche, eine Predigt über ein Wort wie das: „Es ist erschrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!“? Und doch ist das eine ebensowohl Christi und seiner Boten Wort, wie das andere. - Freilich darf solches Sträuben uns nicht wundern, denn wer den Ankläger im eigenen Herzen trügt, vernimmt der nicht lieber die Botschaft des liebenden Freundes, als des zürnenden Richters? Aber ist es nicht auch außerdem das Wort selbst, das uns abstößt? Mögen wir es wagen, von dem göttlichen Wesen den Zorn auszusagen, die Leidenschaft, ob welcher über den Menschen die Verdammniß kommt? Meine Freunde, daß es einen verdammlichen Zorn der Menschen giebt, das findet ihr auch wohl in der Schrift, wie wenn Jakobus spricht: „Der Zorn des Mannes thut nicht, was vor Gott recht ist;“ und wie Paulus ermahnt: „Hebet auf heilige Hände, sonder Zorn und Zweifel.“ Diesen verdammlichen, unheiligen Zorn kann also fürwahr auch die Schrift nicht meinen. Doch wie? Giebt es nicht einen Zorn der Gerechten, giebt es nicht auch einen heiligen Zorn, mit welchem auch derjenige hat zürnen können, von dem geschrieben steht, daß „er keine Sünde gethan hat, und kein Betrug in seinem Munde erfunden ist!“ Was anders, als dieser heilige Zorn ist es, wenn er dort die Geißel schwingt über die, welche seines Vaters Haus zur Mördergrube machen? Was anders, als dieser heilige Zorn, wenn wir bei Markus von ihm lesen: „Und er sah sie umher an mit Zorn und war betrübt über ihre verstockten Herzen?“ So kann denn also auch der Zorn des Gottes, den wir anbeten, kein anderer seyn, als das ernstliche und thätliche Mißfallen an dem Bösen, ohne welches die Liebe zu dem Guten selber nicht seyn kann. Wollten wir es aber bedenklich finden, daß die heiligen Schriften in einem Ausdrucke von diesem ernstlichen und heiligen Mißfallen Gottes sprechen, der bei den Menschen eine sträfliche Leidenschaft bezeichnet, so vergesset nicht, Freunde, welche fürchterlichen und niedrigen Leidenschaften in der menschlichen Sprache mit dem schönen Worte Liebe belegt werden. Und sollen wir darum aufhören zu bekennen: „Gott ist die Liebe,“ dieweil das Fleisch auch dieses himmelhohe Wort in den Staub zieht, und an eine schwächliche und unheilige Liebe denken mag? Vielmehr lasset uns unmißverstehbar unsere Jugend lehren, und unsern Gemeinden predigen, daß, wie es eine unheilige Liebe giebt unter den Menschen, so einen heiligen Zorn bei Gott.

Wir haben die Zeugnisse dafür vernommen aus heiliger Schrift, wir haben dieses ernstliche und thätliche Mißfallen am Bösen angeschaut in unserem Erlöser; aber wenn sie auch verstummten alle diese heiligen Stimmen: ist es nicht dieselbe Predigt, die aus der Geschichte der Welt uns gepredigt wird? Was anders predigen sie, die Weltgerichte der Geschichte, die den frevelnden Despoten am Ende von seinem Throne stürzen, und die am Ende über das Geschlecht der Unterdrücker das richtende Schwert schwingen; was anders predigen sie, als daß es ein ernstliches, thätliches Mißfallen Gottes am Bösen giebt? Hat selbst der Heidenwelt unverläugbar die Anerkennung einer göttlichen Nemesis in der Geschichte sich ausgedrängt, welche das Amt der Vergeltung übt, und den Sterblichen, der seine Schranken verkennt, durch ihre Gerichte in dieselben zurückweist, kann das Auge des Christen, frage ich euch, blind seyn gegen die zahllosen Denkmäler an der Heerstraße der Geschichte, auf denen mit großen, jedem Auge lesbaren Buchstaben die Inschrift steht: „Irrt euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten!“ Welches von diesen Denkmälern ist uns Christen näher gestellt, als das Gericht über Israel? Wer an der Realität eines Zornes Gottes über die Ungerechtigkeit zweifelt, aber an das Wort des Mundes Christi glaubt, o der wende noch einmal den Blick auf jene wehmüthigen und beklommenen Aeußerungen des Heilandes über das Strafgericht, das seine Verwerfung über Israel bringen sollte. Als er nämlich, wie Lukas erzählt, bei seiner letzten Reise zuerst der Stadt ansichtig wird, brechen die Thränen ihm aus, und er ruft: „O Jerusalem, daß du zu dieser deiner Zeit bedächtest, was zu deinem Frieden dient, aber nun ist es vor deinen Augen verborgen! Denn deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern, und werden an allen Orten dich ängstigen, und werden dich schleifen, und keinen Stein auf dem andern lassen, darum daß du die Zeit nicht erkannt hast, darin du heimgesucht bist.“ Hernach, als seine Jünger vom Oelberge herab im Glanze des Abendlichts den vor ihnen liegenden herrlichen Tempel mit seinen glänzenden Marmorsteinen betrachten, und zu ihm sprechen: „Meister, siehe, welche Steine, und welch' ein Bau ist das!“ (Marc. 13, 1.), ruft er ihnen wehmüthig zu: „Wahrlich, ich sage euch: es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde.“ Noth mitten unter seinen eigenen Leiden, als die Weiber Jerusalems über ihn klagen und weinen, wendet er sich zu ihnen um und spricht: „Ihr Töchter von Jerusalem, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder; denn siehe, es wird die Zeit kommen, in welcher man sagen wird: selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht gesäugt haben. Dann werden sie ansangen, zu den Bergen zu sagen: fallet über uns, und zu den Hügeln: decket uns!“ So klagt der Sohn Gottes im geistigen Hinblicke auf die Strafgerichte des göttlichen Zornes über die Gleichgültigkeit gegen das ihnen selbst geoffenbarte Heil, und wir wollten zweifeln, ob es einen solchen göttlichen Zorn giebt?

Ja vielmehr - sagt die Schrift - „sind wir allzumal von Natur Kinder dieses göttlichen Zornes,“ d. h. ihm verfallen. Es dünkt euch eine harte Rede; aus dem Munde des Heilandes möchtet ihr sie lieber vertragen, als aus dem seines Apostels. Allein habt ihr sie nicht aus des Heilands eigenem Munde vernommen, wenn er dort dem Nikodemus sagt: „Es sei denn, daß jemand geboren werde aus dem Wasser und dem Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen; was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch.“ Kann Keiner in das Reich Gottes eingehen, ohne eine so gründliche Veränderung des innern Menschen, daß sie eine neue Geburt heißt, ohne eine Veränderung durch den Gottesgeist, was ist das anders, als was auch der Apostel uns sagt, daß von Natur, ehe noch der göttliche Geist uns umgestaltet, wir allzumal Gegenstände des göttlichen Zornes sind. Wir aber, die wir bereits aus der Erscheinung Christi und aus dem Einflusse der christlichen Predigt einen Eindruck von dem heiligen Gotte erhalten haben, wie wird uns nicht diese Wahrheit unzweifelhaft, wenn wir ernstlich die Neigungen in uns und deren Züchtigungen in und außer uns betrachten. Ich sage: daß das ernstliche und thätige Mißfallen Gottes auf die Menschheit, die ihren natürlichen Neigungen nach dahin geht, gerichtet seyn muß, wird uns das nicht unzweifelhaft, wenn wir unsere natürlichen Neigungen und deren Züchtigungen ernstlich betrachten? O welch' eine Herrschaft die Neigungen, die wider Gott sind, in der Menschheit erlangt haben! Wenn wir zuvörderst auf die Allgemeinheit der Sünde sehen: wie ist kein Volk, kein Stand, kein Alter ohne sie, und wie schmiegt sie sich an die von Gott gesetzte Natur an, indem wieder jedes Volk, jedes Zeitalter, jede Altersstufe und jeder Stand seine eigene Sünde hat: Sünden der gebildeten Welt, Sünden der Naturkinder, Sünden der Hohen, Sünden der Niedrigen, Sünden des männlichen, Sünden des weiblichen Geschlechts! Wenn wir auf ihre Gewalt sehen, wie arbeitet Alles daran, sie von der Erde zu vertilgen: Weise, Religionslehrer und Gesetzgeber, und dennoch pflanzt sie sich fort von Geschlecht zu Geschlecht! Unter den achthundert Millionen, die alle vierzig bis fünfzig Jahre auf der Erde auf- und wieder abtreten, ist im Laufe aller Jahrhunderte auch nur Einer aufgetreten, der zu sagen wagte: „Wer mag mich einer Sünde zeihen?“ Wenn wir auf ihre Tiefe sehen: wie erblickt auch der Heiligste unter den Menschenkindern noch einen Hintergrund in sich, hinter dem die Hölle ihren Abgrund aufthut! Wie entdeckt im tiefsten Grunde der Seele ein Jeder den Samen zu allem Bösen in sich! Ihr tretet vor die Geschichte hin, alle Ungeheuer menschlicher Verbrechen tauchen vor euch auf, ihr wendet mit Abscheu euch davon zurück; aber daß nicht auch ein Mal in eurem Leben die Stunde eintreten könnte, wo von innen die Versuchung kommt, und von außen die Gelegenheit, und wo ihr fallet wie einer von Jenen - wer mag dafür stehen? Und alle diese Sünde ist, wie der Apostel sagt, „Feindschaft wider Gott;“ denn was ist Sünde anders, als der Abfall von dem ewigen, heiligen Willen, der unser alleiniges Gesetz seyn sollte! „Feindschaft wider Gott? sagst du: aber wenn sie nun dieses ihr Oberhaupt nicht erkennen?“ Von wem sprichst du? Von deinen Mitbrüdern in der Christenheit? Aber ist der Schall des Wortes Gottes nicht ausgegangen in alle Lande? Oder sprichst du von den Heiden? Ader warum geht ihr nicht, und prediget ihnen, wer der unbekannte Gott sei, den sie suchen? Ist nicht also auch diese mangelhafte Erkenntniß Gottes selbst ein Zeugniß unserer Sündhaftigkeit? Macht sie uns nicht selber mehr oder weniger schuldig? - Und einer solchen Welt gegenüber sollte nicht das Licht des heiligen Gottes sich in eine strafende Feuerflamme verwandeln? Als der Sohn in den Tempel trat, und sah, daß sie den Tempel zu einer Räuber- und Mördergrube, zu einem Kaufhause gemacht hatten, da hat er eine Geißel gewunden, und „der Eifer um des Herrn Haus, heißt es, hat ihn gefressen!“ Nun haben sie den schönen, großen Gottestempel dieser Erde zu einer Räuber- und Mördergrube, zu einem Kaufhause gemacht, und wenn der heilige Gott hineintritt, soll er seine Geißel nicht schwingen? Aber er schwingt sie, denn die Züchtigungen Gottes in und außer uns, auch sie bezeugen, daß das Wort des Apostels, das wir betrachten, Wahrheit ist.

Ich habe von den besondern Strafgerichten Gottes geredet, in denen das thätige Mißfallen Gottes an der Sünde sich kund giebt. Richten wir nun auf diese allein den Blick, so mag es uns vielleicht zweifelhaft werden, ob wir sie als die Züchtigungen der Sünde zu betrachten haben: denn, fragt ihr, sind sie die Züchtigungen der Sünde, warum stehen sie so vereinzelt? Sollen wir die durch die sündige Welt schreitende Gerechtigkeit Gottes darin erkennen, wenn hier der einzelne Frevler, und dort eine frevelnde Nation von der Höhe, auf welcher sie höhnend thront, in den Abgrund gestürzt wird - ich sage: sollen wir darin den Schritt der göttlichen Gerechtigkeit durch die Welt erkennen, warum ist er nur etliche Male in Jahrhunderten so laut, und übrigens so leise? Aber, meine Freunde, wollen wir vergessen, was geschrieben steht, daß wir hier in der Periode der Buße leben, und dort in der Periode der Gerichte Gottes, daß wir hier die Offenbarungen seiner Langmuth genießen, und daß dort die Offenbarungen seiner Gerechtigkeit auf uns harren? Wohl ist es wahr, daß der schnelle Strom der Zeiten Missethaten und Frevel ohne Zahl hinabschwemmt, ungerächt, ja, menschlichem Auge unentdeckt! Aber steht nicht geschrieben von einem Endgerichte, in welchem auch das Verborgene der menschlichen Brust soll offenbar werden? Christen, die unbereute Missethat, die der Strom der Zeit dahin schwemmt, geht nicht verloren, sie wird in die Ewigkeit geführt. Was sagt der Apostel Röm. 2.: „Weißest du nicht, daß Gottes Güte dich zur Buße leitet? Du aber nach deinem verstockten und unbußfertigen Herzen häufest dir selbst den Zorn auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes!“ So wird denn jedwede unerkannte Gnade und Langmuth einst anschlagen in Offenbarung der Gerechtigkeit, und jeder Liebesstrahl, der über dem Haupte des Unbußfertigen hinging, ohne die Buße zu erwecken, in einen Wetterstrahl des göttlichen Zornes wird er sich verwandeln.

Wahrlich, diese äußern Züchtigungen der Sünde sie bleiben da nicht aus, wo die Buße ausblieb, auf welche Gott harrete. Aber können wir unser Auge gegen die Züchtigungen verschließen, welche fortwahrend die Sünde in unserm Innern mit sich bringt? Geht nicht fortwährend in ihrem Gefolge der Zwiespalt, die Noth und der Tod? Und warum erkennen wir in diesem fortgehenden Gerichte Gottes nicht sein thätiges Mißfallen an der Sünde? Wir täuschen uns darüber, indem wir sagen: das ist die natürliche, sittliche Ordnung, daß die Sünde der Leute Verderben ist. Aber diese sittliche Weltordnung, von wem stammt sie anders, als von dem Gotte, der gesagt hat: „Ihr sollt heilig seyn, denn ich bin heilig!“ Sind die innern Qualen nicht seine Geißelschläge, die innern Bisse des Gewissens nicht seine Schmerzen, und die innere Oede nicht sein Todesengel? Wollt ihr darum seine Hand darin verkennen, weil dieses innere Gericht ein Gesetz hat, und darum ein natürliches von uns genannt wird? Und ist dieses innere Gericht nicht vielmehr das unwidersprechliche Zeugniß, daß es auch ein äußeres geben werde?

So können wir denn nicht anders, wir beugen uns unter das apostolische Wort, daß wir unserem natürlichen Menschen nach allesammt dem Zorne Gottes verfallen sind. Aber, Gemeinde des Herrn, haben wir aus dem Munde desselbigen Apostels vernommen, daß wir unserer natürlichen Anlage nach allzumal göttlichen Geschlechts sind, wie dürften wir verzagen? Sind wir seines Geschlechts, so kann auch sein Zorn über uns kein anderer sehn, als ein väterlicher; und ist er nicht der eines Tyrannen, sondern der eines Vaters, so wollen auch die Flammen dieses Zorns nichts Anderes an uns verzehren, als was wider Gott ist. Wir haben in unserer letzten Betrachtung gesehen, daß das Bewußtseyn unserer Abstammung von Gott da, wo noch nicht eine Erlösung verkündigt worden, zu einer Weissagung derselben werden muß; nehmen wir daher jene beiden Aussprüche des Apostels über das Verhältniß der Menschen zu Gott zusammen, so wird in der That unsere Predigt vom Zorne Gottes zu einer Adventspredigt, welche uns entgegen harren läßt dem, der da kommen soll. Ist nämlich dieser Zorn Gottes ein väterlicher Zorn, ist er der des Vaters über sein verlornes Kind, so ist er auch Versöhnung stiftend, so ist er Eins mit jener Liebe, welche den eingebornen Sohn für uns Alle dahingegeben, damit wir leben mögen. Ruft dort die Schrift: „Gott war in Christo, und versöhnte die Welt mit sich selber,“ so ist auch der zu Versöhnende und der, welcher versöhnte, kein Anderer, so ist der ewige Vater selbst uns entgegengegangen in seinem Sohne, und über Keinem von allen Sterblichen bleibt der Zorn Gottes, als über dem, „welcher an den Sohn nicht glaubt“ (Joh. 3, 36.). Und so viele nun unserer sind, welche mit freudigem Herzen diesen Glauben haben, die mögen dann auch mit dem Apostel sprechen: „Wir waren todt durch Uebertretung und Sünden, in denen wir weiland gewandelt haben - wir waren Kinder des Zorns von Natur“ - aber „ist jemand in Christo, so ist er eine neue Creatur, das Alte ist vergangen, siehe, es ist Alles neu worden.“ -

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