Tholuck, August - 2. Kor. 12, 7-9. "Warum es Gott geschehen lasse, daß auch seine ernsten und treuen Streiter bis an's Ende ihrer Tage dem völlig freien Aufschwunge ihres Geistes unüberwindliche Schranken gesetzt finden?"

Tholuck, August - 2. Kor. 12, 7-9. "Warum es Gott geschehen lasse, daß auch seine ernsten und treuen Streiter bis an's Ende ihrer Tage dem völlig freien Aufschwunge ihres Geistes unüberwindliche Schranken gesetzt finden?"

Wir haben, meine Freunde, in unserm letzten Gottesdienste die hohe und herrliche Stufe der Freiheit kennen lernen, zu welcher der Glaube den Christen erhebt. Je unläugbarer es nun ist, daß der Gnadenschatz Jesu Christi so reiche Gaben und Gnaden hat, je gewisser es ist, daß der Geist Gottes würklich dem Menschengeist in allen Stücken die Freiheit über das Fleisch zu verschaffen vermag, desto wehmüthiger muß der ernste Kämpfer, der treue Beter gestimmt werden, wenn er nach jahrelangem Kampf die Erfahrung macht, daß er dennoch nicht zum völlig freien Aufschwunge des Geistes gelangen mag, daß gewisse Schwachheiten und insonderheit leibliche Anfechtungen seiner Freiheit unüberwindliche Schranken zu setzen scheinen. Und namentlich erfüllt diese Erfahrung uns mit Wehmuth, wenn man sie auch an denjenigen machen muß, die man in allen Stücken als Freigelassene des Herrn betrachten, die man in allen Stücken zu seinen Vorbildern erwählen möchte, wie wir denn zum Beispiel an der Wahrheit uns versündigen würden, wenn wir läugnen wollten, daß auch bei unserm Luther das Fleisch manchmal über den Geist gesiegt, wie der demüthige Mann selbst in aufrichtiger Bußfertigkeit von sich bekannt hat. Werden wir nun von solcherlei Erfahrungen betrübt, so drängt es uns, die Schrift aufzuschlagen, ob wir nicht vielleicht in ihr eine Antwort finden möchten auf die Frage: Warum es wohl Gott geschehen lasse, daß auch seine ernsten und treuen Streiter bis an's Ende ihrer Tage dem völlig freien Aufschwünge ihres Geistes unüberwindliche Schranken gesetzt finden? - Wohl dürfte nun Manchem von euch, indem ihr hierüber nachsinnet, sofort jener Ausspruch des Apostels im zweiten Briefe an die Korinther ins Gedächtniß treten, wo er von dem Pfahle im Fleische spricht, der ihm gegeben sei, und darob er dreimal den Herrn gebeten, daß er ihn von ihm nehme. In der Thal ist es diese Stelle, welche uns auf unsere Frage die Antwort ertheilt, und die im 12ten Kapitel des zweiten Briefes an die Korinther von V. 7 -9. folgendermaßen lautet: „Auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarungen überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, ein Satansengel, der mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe. Dafür ich dreimal dem Herrn geflehet habe, daß er von mir weiche. Und er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

Der Apostel hatte es in diesem Briefe mit Gegnern zu thun, welche es gewagt hatten, diese Riesensäule des Tempels Gottes für ein schwaches, gebrechliches Rohr zu erklären, von diesem Manne, der mehr gearbeitet, als sie Alle, zu sagen, daß er nicht werth sei, ein Apostel zu heißen. Bei dieser Gelegenheit zeigt er - und ich möchte eure Liebe bitten, den betreffenden Abschnitt nachzulesen - daß er ebensosehr versteht, den Stab Wehe, wie den Stab Sanft zu schwingen, daß er ebensosehr weiß, um Gottes willen seine Rechte zu behaupten, als um Gottes willen sie zu verläugnen. „Sie sind Hebräer - sagt er - ich auch, sie sind Israeliten, ich auch; sie sind Abrahams Same, ich auch; sie sind Diener Christi, ich bin wohl mehr.“ In diesem Zusammenhange wird er darauf geführt, auch von den geistlichen Auszeichnungen, die ihm zu Theil geworden, zu reden, von den Offenbarungen und Gesichten des Herrn; insbesondere spricht er von einer derselben, die vor vierzehn Jahren ihm zu Theil geworden, in welcher er ward hinweggerückt - ob dabei die Seele sich dem Leibe entrang, er weiß es nicht - in's Paradies, in den Ort der Seligen, und hat da geschaut und genossen, was, wie er sagt, kein sterblicher Mund den Menschen wieder sagen kann. Lasset zuerst mich darauf euch aufmerksam machen, wie besonnen, wie demüthig auch hier wieder der große Apostel erscheint, daß er in allen seinen Briefen nur ein einziges Mal, nämlich eben an dieser Stelle, so hoher Auszeichnung Erwähnung gethan hat; und wie hat er es. auch hier nur mit innerem Widerstreben gethan! Immer auf's Neue drückt er dies aus in den stärksten Worten: „Ich bin, sagt er, ein Narr geworden über dem Rühmen, dazu habt ihr mich gezwungen, sintemal ich nichts weniger bin, als die hohen Apostel (die falschen Lehrer, die sich dafür ausgegeben), wiewohl ich Nichts bin.“ O der Demuth des Mannes, bei dem es dahin gekommen ist, daß es ihm Schmerzen macht, wenn er etwas Hohes und Gutes von sich erzählen soll. Wie hat er gewußt, daß hohe Geistesgaben in einem keuschen und stillen Herzen bewahrt seyn wollen, und wie ist auch darin seine Demuth so groß, daß er auch jetzt noch, er, der hoch geförderte Zeuge Jesu, sich der Gefahr der Selbstüberhebung bewußt ist und ausspricht: gerade „damit er sich nicht der hohen Offenbarung überhebe,“ sei seinem Fleische, d. i. seinem sinnlichen Menschen ein Pfahl gegeben, d. i. ein Stachel, worunter wir uns irgend ein quälendes, körperliches Gebrechen denken können, mit dem indessen auch geistige Anfechtung verbunden gewesen seyn muß, denn er nennt diesen Pfahl im Fleische einen Satansengel, d. i. Satans boten, dieweil er geistliche Versuchungen herbeiführte, entweder zur Niedergeschlagenheit und geistlichen Trägheit versuchend, oder aufreizend zu Ungeduld, Zorn, Murrsinn, Trotz, und wie die schwarzen Engel alle heißen, die im Gefolge einer schweren körperlichen Anfechtung daher zu ziehen Pflegen. Dreimal, sagt er, habe er den Herrn gebeten, ihm diesen Stachel im Fleische abzunehmen - und zwar haben wir hier nicht an gewöhnliche Gebete zu denken, denn er spricht mit dem Herrn, und der Herr erwiedert seine Rede, wir haben also hier an Gesichte zu denken, in denen ihm der Herr erschien, wie wir davon mehrmals in der Apostelgeschichte lesen (Apostelgesch. 18, 9. 22, 17. 23, 11.) - dreimal also hat er den Herrn gebeten, ihm diesen Stachel im Fleisch abzunehmen, und jedesmal ist ihm die Antwort geworden: „Laß dir an meiner Gnade genügen,“ und: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig,“ oder, wie es eigentlich nach dem Grundtexte heißt: „Meine Kraft wird vollendet in der Schwachheit.“

Richten wir nun unsern Blick einerseits auf das, was der Apostel selbst sagt, damit er sich nicht seiner hohen Offenbarung überhebe, sei ihm der Stachel in das Fleisch gegeben, sodann auf die zwei Aussprüche des Herrn: „Laß dir an meiner Gnade genügen,“ und: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig,“ so ergiebt sich uns hieraus bei näherer Betrachtung auf die Frage: Warum es Gott geschehen lasse, daß auch seine ernsten und treuen Streiter bis ans Ende ihrer Tage dem völlig freien Aufschwunge ihres Geistes unüberwindliche Schranken gesetzt finden? eine dreifache Antwort; erstens: damit wir in uns selbst nichts als die Armuth schauen; zweitens: damit wir nur der Gnad', die über uns, vertrauen, drittens: damit den Geistesbau nur Gnade möge bauen.

I.

Damit wir in uns selbst nichts als die Armuth schauen, das ist es, was sich uns als die Antwort ergiebt, wenn wir die Worte des Apostels: „Damit ich mich der hohen Offenbarung nicht überhebe,“ in ihrer Bedeutung uns nahe bringen. „Ohne mich könnt ihr nichts thun,“ hat der Heiland gesagt, und meint damit, daß, ohne sein Wort von außen zum Lehrer und seinen Geist von innen zum Beistande zu haben, nichts wahrhaft Gutes vollbracht werden möge. Es dauert lange, ehe ein Mensch dahin kommt, dies in seiner Wahrheit zu erkennen, am Ende aber geht einem doch darüber das Auge auf, wie armselig es um uns stehen würde, wenn alles dasjenige in Abzug gebracht würde, was Christi Wort von außen und Christi Geist von innen in uns gewinkt hat, und hat man etwa vorher eine Einbildung auf das aus eigenen Kräften gewinkte Gute gehabt, so verschwindet dieselbe. Allein es tritt eine andere an die Stelle. Was von christlichen Gedanken, Gefühlen und Antrieben in uns gewinkt ist, daß faßt die Schrift unter dem Namen: „Christus in uns“ zusammen; dieser Christus in uns wird gleichsam unsere zweite Natur, und so entsteht abermals die Gefahr der Einbildung, die Gefahr, zu vergessen, daß wir in uns selbst nur Armuth sind. Zwar spricht der Apostel hier von Offenbarungen, deren er sich hätte überheben können, und bei Offenbarungen sollte man es am wenigsten erwarten, daß sich einer überheben könnte, denn sie kommen und gehen doch so ganz ohne des Menschen Zuthun; aber, Freunde, so tief ist der Dünkel, in des Menschen Brust gegründet, daß sogar dann, wenn der Mensch etwas für eine Gabe des bloßen Zufalls erklärt, er darum noch nicht aufhört, sich darauf etwas einzubilden; so der Spieler, der fortwährend einen günstigen Zufall, wie er es nennt, an sein Spiel geknüpft sieht, so der Feldherr, der über alle seine Berechnung hinaus einen Glücksstern an seine Waffen geknüpft sieht. Und so mag es doch wohl geschehen, daß, wenn auch ohne alles Zuthun von des Menschen Seite der Schleier hinweggenommen wird von der verborgenen Gotteswelt, das eitle Menschenherz spricht: warum mir das und keinem Andern? und sich auch aus solchen reinen Geschenken der Erbarmung eine eitle Krone für sein eignes Haupt macht. - Und wie nahe muß solche Gefahr, auf das, was Gottes Gnade in uns würkt, sich etwas einzubilden, vor Allem den hochgestellten Geistern im Reiche Gottes liegen - wenn auf eines Apostels Wort die Krankheit wich, wenn der Tod sich beugte vor dem Scepter seines Wortes, wenn dreitausend Sünder auf ein Mal an ihre Brust schlugen und fragten: „Was soll ich thun, daß ich selig werde?“ - welche Versuchung, der Armuth in uns selbst zu vergessen, wenn ein Luther am Ende seines Lebens sich sagen konnte: Die fünfzig Regenten und gebietenden Herrn, die dem Evangelium gehorchen, und die mehr als zwölf Millionen Volkes schliefen, und mein Wort hat die Schläfer geweckt - welche Versuchung, der Armuth in uns selbst zu vergessen! Ja und wir Prediger selbst, welche Versuchung, wenn mehr als tausend unsterbliche Seelen zu uns aufsehen, als zu denen, welche Kraft ihres Amtes von Gott verordnet sind, Seligkeit vorzulegen und Verdammniß, Leben und Tod, wenn der Funke zündet, wenn Sünder Buße thun, Schläfer erwachen, Blinde sehend werden und Lahme gehen - o wie thut den hochgestellten Geistern im Reiche Gottes ein Pfahl im Fleische Noth, der sie erinnere, daß sie selbst in sich nichts als die Armuth schauen, wie thut es aber auch uns allen Noth, und wie findet sich am Ende, daß keiner von den Gläubigen ist, der nicht in irgend einem Sinne seinen Pfahl im Fleische, seine geheime Zucht vom Herrn, oder, wie Luther es nennt, sein Hauskreuzlein habe, damit wir in uns selbst nichts als die Armuth schauen. Nun möchte es euch freilich bedünken: immerdar in sich selbst nichts als die Armuth schauen, auch nicht einmal auf das seine Zuversicht setzen zu dürfen, was Gott in uns gewürkt hat, sei doch gar zu niederschlagend, aber wollet nur auch auf das achten, was uns zweitens als Antwort auf unsere Frage in unserm Texte gegeben wird: Damit wir nur der Gnade, die über uns, vertrauen.

II.

Damit wir nur der Gnade, die über uns, vertrauen - das ist es, was uns des Herrn Wort sagt: „Laß dir an meiner Gnade genügen.“ Das Wort Gnade nämlich, meine Freunde in Christo, wird in der Schrift in einem zwiefachen Sinne gebraucht; einmal bezeichnet es das unergründliche Erbarmen Gottes gegen die Schuldigen, das hoch über uns im Herzen Gottes waltet, und zum andern bezeichnet es den Ausfluß dieses Erbarmens, der in unserm Herzen sich offenbart, und ist in diesem Sinne nichts anderes, als der Heilige Geist, der da ausgegossen ist in die Herzen der Gläubigen. Daß nun das Wort im Zusammenhange unserer Stelle jenen ersten Sinn habe, ist offenbar, denn darüber führt ja eben der Apostel Klage, daß er in seinem eigenen Innern die Kraft der Gnade und des Geistes nicht mächtig genug verspüre, um leicht und frei über die Anfechtungen des Fleisches sich zu erheben. So seht ihr denn, wird auch die Zuversicht uns vernichtet auf unser eigenes Werk, ja wird die Zuversicht uns vernichtet auf das, was Gottes Gnade bereits in uns gewürkt hat, so wird es darum an Zuversicht uns doch nicht fehlen - die Gnade Gottes in Jesu Christo über uns, sie ist der Fels, darauf christliche Zuversicht sich gründet. Wenn nämlich unsere Kirche uns unser Vertrauen auf Christum setzen lehrt, so ist dies richtig zu verstehen; es giebt einen Christus vor uns, der ist unser Vorbild, der kann uns nur verdammen, denn wir kommen seinem Vorbilde nicht nach; es giebt einen Christus in uns, der ist unser Beistand, der kann uns nicht rechtfertigen, denn auch neben seinem Beistande dauert die Sünde noch fort; es giebt einen Christus für uns, der ist unser Fürsprecher, auf den haben wir unsere Zuversicht zu setzen. Zwar hat die Kirche, von welcher die unsrige ausgegangen ist, auf die Werke das Vertrauen zu setzen gelehrt, welche von dem Christus in Uns ausgehen; aber eben im Gegensatze dazu hat unsere Kirche mit Paulus den Grund ihrer Zuversicht auf die freie von allen Werken unabhängige Gnade Gottes in Christo über uns gesetzt, und welcher Himmel von Trost, Kraft und Leben hängt an dieser Lehre! denn wer ist unter uns, der mit Paulus sagen könnte: „Ich bin mir nichts bewußt,“ und wenn nun derselbige Paulus hinzufügen muß: „Darum bin ich nicht gerechtfertigt,“ o sagt mir: wie mögen wir gerechtfertigt werden durch das, was würklich durch die Gnade an uns geschehen ist? „Meine Lieben, schreibt Johannes, wenn unser Herz uns verdammt, so ist Gott größer, als unser Herz, und er kennet alle Dinge,“ wenn schon unser eigenliebiges Herz das Verdammungsurtheil über uns ausspricht, wie mögen wir gerechtfertigt werden vor dem Richterstuhl der nie irrenden und Alles erkennenden Gerechtigkeit? Christliche Gemeinde, evangelische Gemeinde, ein Kleinod sonder Gleichen ist dir anvertraut in der Lehre von der freien Gnade Gottes in Christo. Auch unserer Kirche war das Kleinod im Laufe der Zeiten wieder entwendet worden, und es war am Ende des vorigen Jahrhunderts abermals eine Gerechtigkeit aus den Werken aufgerichtet worden. Mit treuer Dankbarkeit wollen wir es erwähnen, daß damals an der Grenzscheide zweier Jahrhunderte - es war gerade im Jahre 1800 - und zwar in der Hauptstadt des Landes, wo die Wiege der Reformation gestanden hat, ein berühmter Gottesgelehrter mit der Reformationspredigt auftrat: „wie sehr unsere Kirche Ursach habe, es nie zu vergessen, daß sie ihr Daseyn vorzüglich der Erneuerung des Lehrsatzes von der freien Gnade Gottes in Christo zu verdanken habe.“ Reinhard war der Name dieses Zeugen der Wahrheit in einer vom Glauben der Väter abfallenden Zeit, und aufs Neue ist seitdem unzähligen Herzen in unserer Kirche das Kleinod dieser Wahrheit theuer geworden.

Gerade bei denjenigen nun, welche vorzugsweise zu Herolden dieser Predigt von der freien Gnade Gottes in Christo berufen worden, mag es vorzugsweise nothwendig gewesen seyn, daß ein Pfahl im Fleische ihnen immerdar predigte, daß, auch nachdem Christus bereits angefangen, eine Gestalt in ihnen zu gewinnen, und Gnade und Offenbarungen ihnen zugefallen waren, der Grund ihrer Zuversicht doch alleine bleiben sollte die von allen Werken und von allem, was in uns ist, unabhängige Erbarmung Gottes, die vor der Welt Grundlegung in Christo zur Kindschaft erwählt hat alle, die da glauben. Wenigstens tritt uns das auch bei dem Manne entgegen, der für die neue Zeit der Herold dieser Wahrheit geworden ist, wie Paulus für die alte, ich meine bei Luther. Tritt der Mann in seinen Schriften als Prediger der Kraft und Macht des Evangeliums über des Menschen Herz auf, welch' eine Rede, als wäre sie von Erz und Eisen! Wie fließt der Mund über von Leben und Kraft, daß man meinen sollte: In der Brust hat Anfechtung, Schwachheit und Aengsten keinen Raum mehr gehabt! Dennoch lehrt uns die Geschichte ganz anders, sie spricht von Anfechtungen und Schwachheiten des großen Mannes, von denen mancher von uns keine Ahnung haben wird, und da die Geschichte überall die nachdrücklichste Predigerin ist, so kann ich es mir nicht versagen, auch euch hier mitzutheilen, was uns von den Anfechtungen und Schwachheiten, von dem Pfahle im Fleische, der auch diesem Helden des Glaubens beigegeben war, berichtet wird. An Melanchthon, seinen Freund, schreibt er: „Bitte herzlich und mit Ernst für mich armen verworfenen Wurm, der so hart geplaget wird mit Traurigkeit und Schwermuth des Geistes; doch nach dem guten und gnädigen Willen des barmherzigen Vaters im Himmel, dem sei Lob, Ehr' und Preis, auch in meiner großen Angst und Noth. Dies ist mein einiger Ruhm, daß ich Gottes Wort lauter und rein gelehret habe, und es, Gott Lob, nicht verfälscht, Ehr' und Gut dadurch zu erlangen. Ich hoffe, der gnädige Gott, der angefangen hat, sich über mich zu erbarmen, der werde fortfahren, bis an mein Ende, weil ich nichts anders suche, noch mit großem Hunger und Durst begehre, denn einen gnädigen Gott zu haben. Grüße alle Brüder, und befiehl mich in ihr Gebet.“ - Eine höchst merkwürdige Nachricht von einer seiner Anfechtungen giebt uns sein Freund Bugenhagen vom Jahre 1527:

„Am Sonntage Maria Heimsuchung, da des folgenden Sonntags die schönen tröstlichen Parabeln vom verlornen Schaf und Sohn, dem christlichen Volke in der Predigt vorgehalten und erklärt werden, hat Dr. Martinus Lutherus, unser lieber Vater, eine sehr schwere geistliche Anfechtung gehabt, denen gleich, welcher oft in den Psalmen gedacht wird. Er hat zwar zuvor wohl mehr solche Anfechtungen erlitten, aber nie so heftig, als auf diesesmal, wie er am folgenden Tage Dr. Jonä, Dr. Christian und mir bekannte, und sagte: sie wäre viel härter und gefährlicher gewesen, denn die leibliche Schwachheit, die ihm desselben Sonnabends auf den Abend um 5 Uhr zustieß (die doch so geschwinde war, daß wir besorgten, er würde darüber bleiben), wiewohl er den Sonntag hernach sich hören ließ, daß auch dieselbe leibliche Schwachheit nicht natürlich wäre gewesen, sondern vielleicht dergleichen Leiden, wie 8. Paulus erlitten hat vom Satan, der ihn mit Fäusten geschlagen :e. Da nun dieselbe geistliche Anfechtung des Sonnabends früh vorüber war, besorgt' der fromme Hiob (Luther), wo die Hand Gottes so stark wieder käme, würde er sie nicht ertragen können; hatte vielleicht auch eine Beisorge, es wäre nun an dem, daß ihn unser Herr Jesus Christus wollte von hinnen rufen, schickt derhalben seinen Diener Wolf zu mir, um 8 Uhr Vormittags, ließ mir durch ihn sagen: ich wollte eilend zu ihm kommen. Da er „eilend“ sagte, entsetzt' ich mich etwas darüber, fand doch den Doctor in gewöhnlicher Gestalt bei seiner Hausfrauen stehen; wie er denn konnte mit stillem eingezogenen Gemüthe Gott alles heimgeben und befehlen. Denn er pflegte seine Anliegen nicht Menschen zu klagen, die ihm nicht helfen könnten, welchen er mit feinen Klagen nicht kann nützlich seyn; sondern er pflegte sich also gegen den Leuten zu stellen, wie die ihn begehren zu haben, die bei ihm Trost suchen. Thut er ihm Unterwelten über Tisch mit Fröhlichkeit zu viel, hat er selbst keinen Gefallen dran, und kann solches keinem gottseligen Menschen übel gefallen, vielweniger ihn ärgern; denn er ist ein leutseliger Mensch, und aller Gleisnern und Heuchelei feind. Aber daß ich fortfahre, fragte ich den Doctor, warum er mich hätte lassen rufen? antwortete er: „Um keiner bösen Sache willen.“ Da wir nun hinauf gegangen waren, und beiseits traten an einen sonderlichen. Ort, befahl er sich und alles, was er hatte, mit großem Ernst Gott, hub an zu beichten und zu bekennen seine Sünde; und der Meister begehrte vom Schüler Trost, aus göttlichem Wort, item eine Absolution und Entbindung von allen seinen Sünden, ermahnet mich auch, ich sollte fleißig für ihn bitten, welches ich desgleichen von ihm begehrte. Weiter begehret er, ich wollt' ihm erlauben, daß er des folgenden Sonntags möchte empfahn das heilige Sacrament des Leibes und Blutes Christi; denn er hoffte, er wollte auf denselben Sonntag predigen, besorgte sich nicht (so viel ich merken konnte) des Unfalls, so ihm Nachmittag, wie gesagt, widerfuhr, und sagt doch gleichwohl: „Will mich der Herr jetzt rufen, so geschehe sein Wille.“ Ueber dieser und anderer Reden entsetzt' ich mich. Da ich aber auf den Abend sahe, daß er so tödtlich krank war, gedacht' ich nicht anders, er würde sterben; denn ich wußte, wie mit großem Ernst er sich des Morgens zum Ende dieses Lebens geschickt hatte. Dieses Stück aber, das wohl werth ist, daß mans wisse, muß ich nicht vergessen. Da er gebeichtet hatte, und hernach geredet von der geistlichen Anfechtung, die er desselben Morgen mit solchen Schrecken und Jagen gefühlt hatte, daß ers nicht ausreden konnte, sprach er weiter: “„Viele denken, weil ich mich unter vielen in meinem äußerlichen Wandel fröhlich stelle, ich gehe auf eitel Rosen, aber Gott weiß, wie es um mich stehet, meines Lebens halben. Ich habe mir oft vorgenommen, ich wollt' der Welt zu Dienst, mich etwas ernstlicher und heiliger (weiß nicht, wie ichs nennen soll) stellen, aber Gott hat mir solches zu thun nicht gegeben. Die Welt findet, Gott Lob, kein Laster an mir, das sie mir mit Wahrheit könnte aufrücken, gleichwohl ärgert sie sich an mir; vielleicht will Gott die blinde, undankbare Welt über mir zur Närrin machen, daß sie durch ihre Verachtung verderbe, und nicht werth fei, daß sie nicht sehe die Gaben, die Er sonst viel tausend Menschen versagt, damit er mich begnadigt hat, daß ich damit dienen soll, die Er wohl kennet; auf daß, weil die Welt nicht groß hält vom Worte des Heils, das ihr Gott durch mich, sein schwach gering Gefäß, anbeut, sie an mir finde, daran sie sich ärgere und falle. Was Gott durch solch ein Gericht meine, stelle ich ihm daheim. Ich bitte und rufe ihn an täglich mit Ernst, daß Er mir Gnade verleihe, daß ich durch meine Sünde niemand Ursach gebe, daß er sich an mir ärgere.“

III.

Nicht wahr, ein reicher Trost quillt auf uns hernieder, wenn wir sehen, daß auch solche Cedern im Garten Gottes also vom Sturme geschüttelt worden sind und doch Cedern blieben! Auch unter uns sieht wohl mancher kräftig und heiter aus, der eine geheime Zucht des Herrn, einen Pfahl im Fleische mit sich herumträgt, oder mit Luther zu reden, irgend ein Hauskreuzlein. Ihr habt das bisher auch für einen Satansengel gehalten, wohlan! betrachtet es nun vielmehr als einen lieben Himmelsboden, der euch predigen soll: „Daß wir allein der Gnad', die über uns, vertrauen.“ - Ihr seht, niederschlagend ist dieser Glaube nicht, er ist aber auch nicht erschlaffend. Des Geistes Bau soll Im uns vollendet werden, es soll der Christus wieder herrschend werden, bis daß jeder Odemzug und jeder Pulsschlag von ihm durchdrungen ist, der Pfahl aber im Fleische ist den Heiligen Gottes mitgegeben, damit des Geistes Bau nur Gnade möge bauen.

Das ist es, was das andere Wort des Herrn zu Paulus sagt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig,“ oder: „wird erst in der Schwachheit vollendet.“ Der Apostel spricht in einer Stelle seiner Briefe von einer Kraft des Kreuzes Christi, und es liegt eine Kraft, eine überschwengliche Kraft in dem Glauben an einen ewigen, vor der Welt Grundlegung gefaßten Gnadenrathschluß, der dem Gläubigen die Kindschaft zusichert, was auch irgend in seinem eigenen Herzen ihn anklage und verdamme. Die Kraft nun dieses Gnadenrathschlusses, wie mag sie sich entfalten, so lange der Mensch noch in sich selber die Stützen seines Vertrauens und seiner ewigen Hoffnung findet. Nur wo alle Stützen in uns gebrochen sind, kann die Stütze, welche unsere Zuversicht hoch über uns in dem Herzen Gottes findet, ihre Kraft entfalten, und darum kann auch die Kraft Christi nur da sich vollenden, wo das Bewußtseyn der Schwachheit in uns sich vollendet hat.

Leer' dich aus, ich will dich füllen,
Setze dich, ich will dich stillen,
Werde arm, so wirst du reich!

Wahrlich, Freunde, das ist keine erschlaffende Predigt; wollt ihr zunächst den Thatbeweis dafür, wer ist unter euch, der diese Predigt von dem freien Erbarmen Gottes in Christo als eine Predigt der Trägheit anklagen will, und der sich neben jene zwei Hauptherolde dieser Predigt, neben die Männer der That, einen Paulus und Luther, hinstellen mag und zu ihnen sprechen: Ich habe mehr gearbeitet, denn ihr? Erschlaffend ist vielmehr jene Predigt, die auf das eigene Werk bauen lehrt, denn wenn der nüchterne Blick in uns selbst uns immer aus„ Neue sagt, daß unsere Reinheit und unsere Tugend uns doch nicht rechtfertigen möge, und wir daher immer wieder zerknickt und zu Boden geworfen werden, wie mag es da zu einem Leben in freudiger That kommen! Nein, freudige That beginnt erst, wo von aller Ebbe und Fluth in uns selber hinweg der Blick, auf den in alle Ewigkeit unerschütterlichen Grund der Zuversicht im Herzen Gottes gerichtet ist. Gehet sie alle durch, die Helden solches Glaubens, ob ihr nicht gerade in ihnen jene Männlichkeit und Unerschütterlichkeit des Charakters findet, die überall da fehlen muß, wo der Mensch auf das ewig von Ebbe und Fluth bewegte eigene Herz seine Zuversicht setzt.

Hat nun die Kraft Gottes, die in der Lehre von der freien Gnade liegt, das Werk der Heiligung vollendet, dann mag auch in Wahrheit der Lobgesang ertönen: „Allein Gott in der Höh' sei Ehre!“ Und das ist das Ziel, nur Gnade soll des Geistes Bau bauen, nur der Gnade soll am letzten Ende der Lobgesang erschallen. Als im prophetischen Buche des Neuen Testaments der Jünger den aufgeschlossenen Himmel sieht, da erblickt er das Lamm am Throne Gottes, und die Engel zu tausend mal Tausenden lobsingen: „Dem Lamme, das erwürget ist, sei Kraft und Ehre und Reichthum und Stärke und Lob und Preis.“ „Du hast uns, so heißt es ferner, zu Priestern und Königen gemacht,“ du hast uns zu Priestern gemacht und nicht wir selbst. So verstumme denn am letzten Ende aller Lobgesang auf das, was unser eigen ist, und ein einziges Hallelujah töne in Ewigkeit der Gnade des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Amen.

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