Krummacher, Friedrich Wilhelm - Blinder Schrecken.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Blinder Schrecken.

Matthäus 12, 31. 32.
Darum sage ich euch: Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung wider den Geist wird den Menschen nicht vergeben. Und wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet wider den heiligen Geist, dem wird es nicht vergeben, weder in dieser noch in jener Welt.

Wir betreten heute, Geliebte, ein dunkles, ja, ein schauerliches Gebiet. Von allen Gefahren, von denen wir den Pilger Gottes auf seiner Wallfahrt nach der himmlischen Heimath schon bedroht erblickten, war keine furchtbarer, als diejenige, in der wir ihn heute werden schweben sehen. Nicht zwar ist's die Gefahr, in die Sünde zu verfallen, welche wir eben in dem verlesenen erschütternden Worte bezeichnen hörten; aber doch diejenige, von den Geierkrallen des Gedankens erfaßt zu werden, dieselbe begangen zu haben. Wie viele Tausende frommer Seelen haben schon an der düstern Klippe jenes Ausspruchs, für eine Weile wenigstens, mit ihrem ganzen Gottesfrieden Schiffbruch gelitten, und wirklich etwas von der Verzweiflung der Unglückseligen geschmeckt, deren jenseitige Zukunft der Herr mit den Entsetzen erregenden Worten bezeichnet: „Ihr Wurm wird nicht sterben und ihr Feuer nicht verlöschen.“ Unter uns vielleicht noch keine. Ich hätte darum auch an dieser Stätte jenes Wort nicht zum Texte gewählt, ginge meine Absicht lediglich dahin. Solche, die von jenem blinden Schrecken etwa erfaßt worden wären, zu beruhigen. Aber auch warnen will ich, und für meine Warnung werde ich schon Raum unter uns finden und mit ihr nicht in's Blaue fahren, noch in die Luft streichen. Wohlan denn, zwei Fragen werfen wir auf. Die erste heißt: Worin besteht die unvergebliche Sünde, und wer schwebt in Gefahr, sie zu begehen? Die andere: An welchen Merkmalen wird erkannt, daß man sich ohne Grund mit dem Gedanken quäle, sie begangen zu haben?

Leuchte uns der Herr auf unserm Betrachtungsgange mit Seinem Licht voran, und lasse Er uns überall das Rechte treffen.

I.

Indem wir zunächst und vor allem Andern nach der Veranlassung uns umsehn, die jenen Ausspruch des Herrn hervorrief, treten wir schon in eine unheimliche, ja grausige Sphäre ein. Eine jener geheimnißvollen Erscheinungen, die in jenen Tagen des Kampfes um den Besitz der Welt und ihre Zukunft so häufig waren, tritt in unsern Gesichtskreis. Ein Besessener, d. i. ein Mensch in der Gewalt der Dämonen, und in Folge dessen stumm und blind, wird zu Jesu geführt, damit Er ihn heile. Ein Machtwort von Jesu Lippen zerbricht die Fesseln, die den Unglückseligen gebunden halten. Der Stumme redet, der Blinde sieht. Das Volk, in Masse versammelt, wird durch diese That zum feurigsten Enthusiasmus hingerissen, und ruft wie mit einer Stimme: Ist das nicht der Sohn David's, der verheißene Messias? Aber welch' ein gellender Mißklang dies in den Ohren der Pharisäer und Schriftgelehrten, die im Spiegel ihrer düstern Phantasie schon das ganze Volk huldigend zu des Nazareners Füßen liegen und ihren eigenen Stern für immer erbleichen sehen. Was hier beginnen? Leugnen können sie das Wunder nicht. Ist's euch, Geliebte, noch nicht aufgefallen, daß es den Zeitgenossen Jesu, auch den feindseligsten, niemals in den Sinn kam, die Thatsächlichkeit seiner Wunder zu bestreiten, oder auch nur zu verdächtigen? Ich meine, dieser Umstand sei in hohem Grade beachtenswerth. - Um jeden Preis aber müssen die Pharisäer die Begeisterungsflamme der Menge zu dämpfen suchen. Was thun sie? Sie greifen in ihrer Wuth und Verzweiflung zur Waffe der colossalsten Lüge, und sprechen, ihre bessere Ueberzeugung gewaltsam in sich erstickend: „Er treibt die Teufel (buchstäblich: Dämonen) nicht anders aus, denn durch Beelzebub, der Teufel Obersten!“ - „Er steht mit dem Satan im Bunde,“ wollen sie sagen, „daher vermag er das!“ O schrecklich, schrecklich! - Wie verhält sich nun der Herr? Mit bewunderungswürdigster Herablassung, Sanftmuth und Ruhe hört Er diese gottlose Rede an, und enthüllt den Lästerern zuerst das Unwahre darin, das Widersprechende und Widervernünftige. Seine Liebe giebt diese Menschen noch nicht auf. Noch am Rande der Hölle wirft Er das Netz der Barmherzigkeit nach ihnen aus. Er fragt sie, wenn Er den Satan durch den Satan austreibe, ob dann nicht des Satans Reich mit sich selbst zerfallen sein müsse. Sei es ihm aber gegeben, die Teufel auszutreiben durch den Geist Gottes, so möchten sie urtheilen, ob es dann nicht in die Augen springe, daß das Reich Gottes zu ihnen gekommen sei? - Einer, der, wie Er, in eines Starken Haus gehe, und ihm seinen Hausrath raube, müsse doch wohl zuvor den Starken bewältiget und gebunden haben? - Zwei Parteien ständen im Kampfe wider einander: die Partei der Hölle und die des Himmels. Wer unter der Fahne der seinigen nicht stehe, der stehe unter der der andern. Und nun läßt der Herr die centnerschweren Worte folgen, die so tröstlich beginnen und so furchtbar enden. - Ja, zuerst strahlt uns daraus der göttliche Gnadenthron an, wo viel, unendlich viel Vergebung ist. „Vergebung“, sagt der Herr, „für alle Sünde, für alle Lästerung“, nur eine einzige ausgenommen. Welche ist diese eine? Heißt sie Mord, heißt sie Ehebruch, oder Verrath, oder Meineid? - Nein, nein! Ein Manasse mit seinen blutbefleckten Händen, ein David, dieser Frevler an Uria, eine Rah ab, ein Schacher am Kreuz, sie haben alle noch Gnade gefunden, nachdem sie den Weg gründlicher Buße und Bekehrung eingeschlagen. So wird denn wohl das die unbedingt zu verdammende Sünde sein, wenn man denjenigen schmäht, verachtet und verhöhnt, den Gott der Herr der Welt zum Heiland gesandt hat? Man sollte es denken; und doch ist auch dies die schauerliche Sünde noch nicht. - Hört Ihn, den Heiland selbst.

„Wer etwas redet wider des Menschen Sohn“, spricht Er, „dem wird es vergeben werden!“ Ja, schlaget die Augen nieder, die ihr je Seine Majestät anzutasten wagtet! Die ihr Ihn geringschätzig einen „jüdischen Rabbi“ nanntet, Ihn herabwürdigend mit heidnischen Weisen, wie Confucius, Sokrates und Selon in eine Reihe stelltet, ja verächtlich Ihn als einen blos vorgeblichen Messias bezeichnen, wo nicht gar zum Gegenstande des Gespöttes machen konntet: zittert; denn die Schuld, die auf euch lastet, ist groß. Aber verzweifelt nicht! - Hört Ihn! „Wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es vergeben werden! O, wie entspricht dieses Wort dem ganzen Wesen des leutseligen Sünderfreundes? Wie besiegelt's wieder Sein Zeugniß: „Ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig!“ Und wie ist's so unaussprechlich tröstlich! Denn wer wäre unter uns, der nicht auch einmal, in dieser Zeit des Unglaubens und großen Abfalls, unwürdig, oder doch geringer, als sich's geziemte, wenigstens von Ihm gedacht hätte, wenn er auch nicht bis zu Spott und Lästerung wider Ihn sich fortreißen ließ. Und wenn selbst auch dies geschehen wäre, so ist auch ein solcher Frevel mit einbegriffen in seinem Spruche: „Alle Lästerung wird vergeben werden.“ Ach, ihr kennt ja jenen Ausruf, der Herzen, härter als Stein, hätte zerschmelzen mögen; ich meine den Ausruf über seine Mörder, die Buben, die unter wilden Verhöhnungen an's Holz ihn nagelten: „Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!“ - Ja, die Gnade hat ein großes Herz, und die Vergebung reicht weit. „Wenn deine Sünden blutroth sind“, spricht Gott der Herr, „so sollen sie doch schneeweiß werden.“

Welche Schuldenmasse sah der Schächer zur Rechten vor dem Gnadenworte Jesu plötzlich von seinem Gewissen in die Tiefe des Meeres sinken! Und allen, allen Sünden ist dies Grab gegraben, das Grab der ewigen Vergessenheit bei Gott, wenn das Herz in aufrichtiger und durchgreifender Buße zerbrochen vor Gott sich offen legt, und um Gnade seufzt; schlechthin allen; doch eine ausgenommen. Diese wird nicht vergeben, weder in dieser, noch in der zukünftigen Welt. Sie verdammt unausbleiblich, unbedingt. „Mein Gott!“ -

Ja billig erschreckt ihr. „Welche ist diese Sünde?“ - Laßt uns sehen!

„Die Lästerung wider den Geist wird dem Menschen nicht vergeben.“ - „Wer etwas redet wider den Geist, dem wird es nicht vergeben, weder in dieser, noch in jener Welt.“ - Hier habt ihr die Sünde; aber freilich nur erst ihren Namen, noch nicht ihren Begriff. - Der „Geist“ ist, wie sich von selbst versteht, hier nicht der Menschengeist, sondern der Geist Gottes, den der Herr als den „Geist der Wahrheit“ ankündigte, der in alle Wahrheit führen werde, und dem Er unter andern Verrichtungen vorzugsweise auch diejenige zuschreibt, den Menschen innerlich von der Thatsächlichkeit der göttlichen Offenbarung zu überführen. Dieser Geist wirkte im Reiche der Menschengeister schon lange, bevor er am großen Pfingsttage mit der ganzen Fülle seiner Gaben gleichsam bleibende Wohnung auf Erden nahm. Um nun dem Begriff der Sünde wider den heiligen Geist auf die Spur zu kommen, haben wir natürlich vor Allem das Verhalten der Pharisäer bei dem an dem Besessenen verrichteten Rettungswunder des Herrn in's Auge zu fassen; dies ihr Verhalten war es ja, das dem Herrn den Anlaß zu Seinem erschütternden Ausspruch gab. Es ist zwar nicht gesagt, daß die Pharisäer diese Sünde wirklich begangen hätten. Aber gewiß ist, daß sie nahe daran waren, sie zu begehen; ja, daß wir nach dem Willen des Herrn ihr innerliches Verhalten als die nächste und letzte Vorstufe zur unvergeblichen Sünde betrachten sollen. Worin bestand denn ihr schwerer Frevel? Er bestand in einem bewußten, vorsätzlichen Mord, welchen sie an einem Eindruck in ihrem Innern verübten, zu dessen Entkräftung ihnen auch nicht einmal Scheingründe mehr zu Gebote standen. Das Wunder, dessen sie eben Zeugen waren, hatte ihnen, wie dem ganzen Volke, unter Mitwirkung des Heiligen Geistes die unabweisliche Ueberzeugung aufgedrängt, Jesus sei wahrhaftig von Gott gesandt, und handele im Namen Gottes. Aber dieser Ueberzeugung Raum geben, hieß ja, die Verpflichtung anerkennen, Ihm zu huldigen; und Ihm huldigen hieß ihre ganze hierarchische Herrlichkeit, ihr Prälatenansehn, ihre Priesterherrschaft über die Gewissen des Volkes und ihr Bauchpfaffenthum in die Schanze schlagen. Aber davor graulte sie, und so beeilten sie sich, den Lichtstrahl, der in ihr Inneres hereingefallen, alsobald wieder zu löschen. Gewaltsam belogen sie sich selbst, redeten sich böswillig ein, Er stehe mit dem Satan im Bunde, und sprachen wider besseres Wissen und Gewissen, mit einem Feuer in ihren Gebeinen: „Er treibt die Teufel aus durch Beelzebub, der Teufel Obersten.“ - Freunde, die unvergebliche Sünde kann nur da begangen werden, wo das Evangelium, das ist der Rathschluß Gottes zu unserer Seligkeit, deutlich, unverkürzt und klar verkündet wird; und in solchen Gemeinden wird sie noch heute je und dann begangen. - Hüte dich! - Siehe, es widerfuhr dir manchmal schon, daß dir über die Glaubenswelt, in welcher Christus Herr ist und angebetet wird, ein dämmernd Licht hinzuckte, und du dir sagen mußtest: „Es ist die Welt der Wahrheit, des Lebens und des Friedens!“ - Aber die Welt, in der du dein eigener Herr bist, und nach deinen Lüsten wandelst, hatte mehr Reiz für dich. Mit Ungestüm logst du dir vor: „Die Christuswelt ist doch nur eine Fabelwelt!“ Du warfst eine Decke drüber, und wandtest ihr den Rücken. Freund, ein gefahrvoller Pfad, welchen du eingeschlagen! - Hüte dich! - Schon manchmal leuchtete Dir mit Entschiedenheit ein, dein Leben sei ein Gott entfremdetes, du, ganz unter den Dienst des Zeitlichen und Vergänglichen verkauft, verfehlest deines Daseins Zweck, und Umkehr heiße, was dir Noth. Aber - „Umkehr, Umkehr?“ dachtest du. Dies Wort klang dich zu unerfreulich an; ja als gleichbedeutend erschien es dir mit entschiedener Lossagung von deinen Götzen: Augenlust, Fleischeslust, hoffärthiges Leben. Und denen entsagen? Du überredetest dich mit großer Mühe, „Umkehr, Bekehrung sei Pietismus, Mysticismus, Kopfhängern“, und warfst dich mit erneuter Inbrunst deinen Götzen in die Arme. - Freund, eine abschüssige Straße, auf die du deinen Fuß gesetzt! - Siehe dich vor! Wie oft schon trat dir Jesus in so Heller Beleuchtung vor dein inneres Auge, daß der letzte Zweifel in dir zerstob, Er sei der König aller Könige; Er sei's wahrhaftig, und du schuldest Ihm dein ganzes Leben. - Ach, warum gabst du Ihm nicht dein Herz, das so tief gerührte, das so mächtig angefaßte? Du besannst dich. Aber es gefiel dir nicht die enge Pforte, noch der schmale Weg, noch das Wort in Jesu Fahne: „Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, kann nicht mein Jünger sein!“ - Es wollte der breite Weg dir lieblicher und schöner dünken. Deiner Seele, die schon im Begriffe war, zu sprechen: „Herr, was willst du, daß ich thun soll?“ zwängtest du einen Knebel in den Mund, und casteitest sie, daß sie schreien mußte: „Nein, nein, du bist der König vom Himmel nicht; ein Jude bist du, von Betrügern und Betrogenen zum Messias ausstaffirt und ausgerufen!“ und schleudertest Ihm auf's neue, - freilich mit einem Bann im Gewissen, - den Scheidebrief vor die Füße. - O Freund, du schwebst in großer, dringlicher Gefahr. - Ich hoffe, dein Zustand ist nur adamitisch noch; möglicherweise ist er auch schon kainitisch; aber dämonisch wird er ja noch nicht sein. Indeß, hüte dich! Nur einen Schritt noch weiter, und - du bist verloren! Laß nur die Wahrheit der göttlichen Offenbarung noch Heller dein Herz durchblitzen, und empfange noch tiefere, noch mächtigere Eindrücke davon, daß Christus der Herr sei, und sein Evangelium das Licht aus Gott; und doch gerathe dir's auch dann, das Zeugniß des Geistes zur Lüge in dir zu stempeln, und stoße abermals, damit du nur dich selbst und deine Welt behaltest, die Retterhand des Friedensfürsten mit Unmuth und glühndem Ingrimm von dir, und - es ist vorbei mit dir! Dein Sieg über die vom heiligen Geist in dir gewirkte Ueberzeugung ward vollkommen. Unglückseliger, es gelang dir endlich, dein Herz zu verstecken, und auch auf dir lastet die Sünde, die Johannes die „Sünde zum Tode“ nennt, von welcher er nicht will, daß Jemand für sie bete, und von der der Herr so schrecklich und geheimnißvoll bezeugt, sie werde „weder in dieser, noch in der zukünftigen Welt vergeben werden.“

2.

„Mein Gott!“ - Ja, Freunde, wohl ist es zum Erschrecken. Ach, manchen treuen Gottespilger schon habe ich vor Angst, er möchte die unvergebliche Sünde begangen haben, die Hände ringen und an allen Gliedern zittern sehen. Aber blinder Schrecken! Entsetzen ohne Noth und Ursach! - So schnell wird jene Sünde nicht begangen. Vielmehr bezeichnet sie einen Zustand, in den man erst, nachdem man eine Reihe von Vorstufen überschritten, hineingeräth. Den heiligen Geist „dämpfen“, „betrüben“, seine Warnungen einmal überhören, ja wider dieselben etwas thun, das man schwer zu bereuen hat: dieses Alles, wie strafbar und beklagenswerth es ist, heißt noch nicht die Ueberzeugung von der göttlichen Wahrheit, die der Heilige Geist in uns wirkte, geflissentlich und böswillig als Lug, Trug und Phantasterei bezeichnen, und die Lüge, die man ihr entgegen setzt, wider besseres Wissen und Gewissen zur Wahrheit stempeln. Dies halte man den angefochtenen Seelen vor; und wenn sie dann fragen sollten, welches das sichere Merkmal sei, daß man die unvergebliche Sünde nicht begangen habe, so antworte man, das sei das Merkmal, daß man in aufrichtiger und herzlicher Buße Gott seine Sünde bekenne und bei Ihm um Jesu Christi willen Vergebung und Gnade suche. Und wenn sie Beweis hiefür verlangen, so erinnere man sie an Worte wie das: „Wer sich selber richtet, der wird nicht gerichtet“; oder wie das: „Kommet her zu mir, Alle, die ihr mühselig und beladen seid: Ich erquicke euch“; oder wie das: „Wer zu mir kommt, den stoße ich nicht hinaus“, und an wie manches andere gleichen Inhalts! Freilich wird dann wohl mit zitternder Lippe erwiedert, Hebräer 12, 17. stehe ja geschrieben, Esau habe keinen Raum mehr zur Buße gefunden, wiewohl er sie mit Thränen gesucht habe. Aber das ist ein Mißverstand, den allerdings unsere theuere lutherische Bibelliebersetzung ein wenig mit verschuldet hat. Die Worte des Apostels besagen nichts Anderes, als: Esau habe bei seinem Vater Isaak trotz seines thränenreichen Andringens keinen Raum zur Buße gewinnen, d. h. ihn nicht bewegen können, die Uebertragung des Erstgeburtsrechts auf Jakob zu bereuen, und reuig zurückzunehmen. - Ach, wie Mancher schon hat, nachdem ihm der wirkliche Sinn jener vermeintlichen Schreckensworte kund geworden, von Stund' an wieder frei aufgeathmet, was freilich diejenigen nicht begreifen werden, die nicht gewohnt sind, es mit Gottes Wort so genau zu nehmen. - So ängstiget euch denn nicht ohne Noth, lieben Brüder!

So lange noch angeklopft wird an eure Herzensthür, so lange noch das Gewissen euer Leben verklagt, so lange noch der Name „Christus“ wie ein beunruhigender Wächterruf euch antönt, und ein dunkles Gefühl, daß es auch mit euch noch zu einer Umkehr kommen müsse, eure Seele in Spannung hält: so lange steht auch euch die Pforte des Himmelreichs noch offen. Um diejenigen, für welche sie sich schließlich unter Schloß und Riegel legte, wird es ganz stille. Kein Klang der Bußposaune schreckt mehr sie auf. Keine Ahnung von der Glaubensseligkeit bewegt mehr ihr Herz. Das Wohl wie das Wehe der Ewigkeit läßt sie gleichgültig, läßt sie kalt. Zur fixen Idee ward's in ihnen, zum „kräftigen Irrthum“, daß das Christenthum nichts sei, als eine große Fabel. - Ich vertraue, daß bis zu dieser Stufe innern Verderbens unter euch noch Niemand herabsank. Aber sehet euch wohl vor, daß ihr dem heiligen Geiste nicht widerstrebet, wenn er anhub, euerm Geiste von der Wahrheit zu zeugen, und eure Schritte dem Wege des Friedens zuzulenken. Der erste Abweis seiner Bethätigungen an unsrer Seele ist ein Ring, in welchen eine Kette fassen kann, deren letztes Glied die unvergebliche Sünde ist. - Ihr Gottespilger aber, mit denen der Herr seinen Friedensbund schon aufgerichtet, mögt völlig außer Sorge sein. Ihr zittert bei dem Gedanken, daß ihr die Sünde zum Tode begehen könntet; aber dieses Erzittern leistet euch schon Gewähr, daß ihr vor derselben gesichert seid. Nichtsdestoweniger aber, weil der Teufel einen großen Zorn hat, und seine List unergründlich und unermeßlich ist, schmiegt euch immer inniger und fester an Jesum an, täglich auf's neue seiner bewahrenden Gnade euch empfehlend, und dann triumphirt in eures großen Bürgen Namen herzhaft und kühn mit dem Apostel: „Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel, noch Fürstenthum, noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die da ist in Christo Jesu, unserm Herrn!“ Bei aller Glaubensfreudigkeit indeß, die euch beseelt, werdet ihr es nicht verschmähen, auch in die Worte des betenden Sängers einzustimmen:

Pforte eng, und schmal der Pfad,
Schlucht bei Schlucht zur Seite:
O, mein Jesu, früh und spat
Gib mir das Geleite!
Unheilsmächte rechts und links:
Sünde, Welt und Hölle;
Gaukelnd Irrwischflimmern rings!
Hüter, sei zur Stelle!

Jägerstricke ohne Zahl,
Wo ich wall' und weile.
Auf der Höhe, im Gethal
Satans Feuerpfeile!
David, Demas, Kephas gar,
Ach, sie fielen alle!
Wie entrinn' ich der Gefahr?
Wie dem tiefern Falle? -

Herr mein Gott, ich traue Dir,
Der Du laut verheißen:
„Niemand soll die Meinen mir
Aus den Händen reißen!“
Du bist meine Burg. O laß
In Dich mich verschließen,
Und zertritt den Satanas
Unter meinen Füßen! - Amen.

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