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Keller, Samuel - Johannes

Keller, Samuel - Johannes

Kapitel 4

„Wie bittest du von mir zu trinken, so du ein Jude bist und ich ein samaritisch Weib.“
Joh. 4, 9

Falsche Voraussetzungen! Ja, wenn er bloß ein Jude gewesen wäre und sie bloß ein samaritisch Weib - dann wäre seine Bitte unverständlich gewesen und nach damaligem Gefühl unschicklich. Aber er ist Sünderheiland und sie ist Sünderin; der gute Hirte begeht doch keine Unschicklichkeit und verletzt doch nicht den guten Ton, wenn er das verirrte und verlorene Schaf anruft. Es war der erste feine Faden, den Jesus nach ihr herüber wirft. Andere Beziehungen zu Männern hat sie genug gehabt; jetzt sucht jemand ihre verlorene Seele im Staube. Besinne dich darauf, wo Jesus ähnlich gesagt hat: Gib mir zu trinken! Gib mir diesen Eigensinn, dieses Vergnügen, diese Zeit, diese Sünde - du wirst es los, und ich gewinne dadurch dein Herz für immer. Ihn dürstet nach der Labung, daß er uns an sich ziehen, lieben, heilen und segnen kann. Dort war es ein irdisches naheliegendes Bedürfnis - gib mir zu trinken! - heute knüpft Jesus bei uns an Berufs- oder Zeitfragen, Nöte des Leibes oder Familienbeziehungen an; ihm ist alles recht, woran seine suchende Liebe anknüpfen kann.

Nun, dann komm noch einmal, Herr Jesus, und stelle deinen Anspruch an mich auf! Was willst du, daß ich dir tun oder um deinetwillen lassen soll? Zeige mir den Krug, aus dem du trinken willst. Ich möchte dir gern, ganz und für immer zu Willen sein. Amen.

„Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer mit dir redet“
Joh. 4, 10

Ach, was sind uns doch so oft die Augen so gehalten, daß wir den Tag und seine Gelegenheit nicht richtig erkennen! War es Nachwirkung einer Schuld oder natürliche Stumpfheit - aber wir waren nicht am Ausfallstor unseres Interesses, als Jesus oder seine Gabe oder seine Aufgabe und die betreffende Gelegenheit vorüberzog. Bisweilen saß er sogar auf dem Brunnenrand, wie in unserem Text, und wartete auf uns, daß wir ihm zu trinken geben sollten, d. h. in einem dieser Geringsten unter seinen Brüdern. Nie grolle ich mehr mit mir, als wenn ich zu spät erkannte: Das war eine Gelegenheit vom Herrn, und du hast sie verträumt! Wenn wir sie aber zur rechten Zeit erkannt haben, dann müssen wir auch im selben Augenblick zugreifen; so kommt sie nicht wieder. Ein Spaziergang mit einem angefochtenen Menschenkind, ein Briefwechsel, eine Aussprache, eine erwiesene Gefälligkeit - worin kann Jesus nicht gerade seine Hand nach einem Herzen ausstrecken, an das er nur durch uns, nur jetzt und nur durch unsere selbstverleugnende Liebe herankommen kann! Solche Vollmacht, solche Ehrung, solches Vertrauen von oben - soll es uns bereit finden zum Nehmen, Geben, Heilen, Segnen und Helfen?

Vergib, Herr, alle versäumten Gelegenheiten. Gib uns zum Unterpfand der Vergebung neue Winke und neue Gaben, daß wir's besser machen können, und segne uns, wenn wir mit den anderen Seelen reden von dir. Amen.

Kapitel 5

„Ich habe keinen Menschen“
Joh. 5, 7

Was für ein unangenehmer Charakter muß der Gichtbrüchige am Teich Bethesda gewesen sein, daß er in 38 Jahren sich unter all den vielen Menschen keinen Freund erworben hatte, der ihm geholfen hätte, rechtzeitig ins Wasser zu steigen. Wir gedenken aber jetzt an manche bittere Erfahrung, die wir durch unsere Schuld gemacht haben, daß sich jemand für immer von uns abwandte. Wenn es in einem gewissen Hauptpunkt mit uns nicht besser wird, dann geht die Vereinsamung unaufhaltsam weiter. Die Selbstsucht stößt andere zurück und ihr Gericht ist am Schluß völliges Alleinbleiben. Man hat erreicht, was man suchte - sich selbst. Aber in Ewigkeit von Gottes- und Menschenliebe abgetrennt sein, das ist Hölle! Sollten wir da nicht bei den ersten Anzeichen, daß jene Vereinsamung sich zeigt, erschrecken und umkehren? Hin zu Jesus, daß er uns mit seiner selbstlosen Liebe anstecke, mit der er uns sich erworben, daß wir hingehen lernen, um ähnlich wie er, andere Menschen zu gewinnen und zu haben. Hast du andere Menschen? Sind sie auf Grund ihrer Erfahrung von deiner Liebe dir zugeschworen auf alle Fälle? Oder willst du in Ewigkeit mit dem furchtbaren Bekenntnis alleinstehen: „Ich habe keinen Menschen?“

Herr Jesus, du hast mich, und ich habe dich! Und zum Zeichen, daß es wirklich so ist, schenke mir soviel selbstlose Liebe zu andern Menschen, daß ich sie auch habe und sie zu dir bringen kann. Amen.

Kapitel 6

„Wollt ihr auch weggehen?“
Joh. 6, 67

Ist uns Jesus genug, oder bedürfen wir etwas extra außer, neben, über ihm? Das könnte eigentlich nur jemand fragen, der nicht bei Jesus ist, der nicht mit ihm lebt, der ihn gar nicht kennt! Wir, die wir im Verkehr mit ihm stehen, die im Glauben jeden Augenblick uns seiner dauernden Gegenwart versichern können, auch wenn wir nichts fühlen von seiner Süßigkeit und Liebe - wir weisen alles andere ab. Neben ihm verblaßt alles andere, außer ihm freut uns doch nichts mehr, über seine Liebe hinaus gibt's nichts, was uns gefangen nehmen könnte. Sein Benehmen gegen uns in kleinen und großen Erlebnissen, Eindrücken, Wirken und Werken ist dazu angetan, daß die Verbindung mit ihm stärker wird. Einst ein feiner Faden der Freundschaft, ist sie ein starker Treibriemen geworden, der unser ganzes Wesen in Schwingung versetzt. Einst ein Tröpflein Trost für das geängstigte Gewissen, ist sie ein großer Strom geworden, der uns trägt und mit fortführt, wo Jesus hin will. Das Schleppseil hält uns mit ihm verbunden; wir lassen uns ziehen von ihm. Gegen alles menschliche, irrige Meinen aufwärts, seinen Zielen zu!

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat! Und wenn einer alle Habe um die Liebe gäbe, wäre es nichts. Mit solcher starken Liebe ziehst du uns, und wir folgen dir. Halleluja! Amen.

Kapitel 8

„Ihr richtet nach dem Fleische - ich richte niemand.“
Joh. 8, 15

Die Menschen urteilen in doppeltem Sinn nach dem Fleisch: einerseits nach dem Fleisch, d. h. dem, was ihnen vom anderen vor Augen ist, und dabei kennen sie die geheimen Triebkräfte der andern nicht; andererseits nach ihrem eigenen Fleisch, d. h. nach der äußerlichen irdischen Art, nach menschlicher Meinung und Verständnis. Das kann man leider an dem Richtgeist vieler Gläubigen auch noch erkennen: vom Heiligen Geist und dem Maßstab der Ewigkeit ist nichts dabei. - Einer hätte damals sofort richtig und bündig jeden beurteilen können, jedem Gottes Meinung über ihn auf den Kopf sagen können, und dieser eine, Jesus - richtet niemand. Er ist ja gekommen, sie zu retten. Hätte er sie gerichtet, wäre es aus mit ihnen gewesen; dann hätten sie sich der einschneidenden Wucht solcher Enthüllung nicht mehr entziehen können und wären verzweifelt. Aber noch war Gnadenzeit, wo durch Jesus an ihnen etwas anders werden kann. Darum wollen wir uns erst recht hüten (schon um unserer Kurzsichtigkeit willen), einem andern die Gerichtsmarke aufzukleben; auch nicht so schnell bei der Hand zu sein: „Da sieht man Gottes Gericht über ihn.“ Statt dessen für den Unglücklichen hoffen und beten, bis wir vielleicht etwas zu seiner Rettung tun können.

Herr Jesu, halte das Gericht noch auf. Laß noch Gnadenstunden kommen, wo du in Liebe wirbst um die Seelen, ehe das Gericht den endgültigen Abschluß bringt. Hilf uns gegen den fleischlichen Richtgeist und gib uns Liebe zu den Seelen. Amen.

„Und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“
Joh. 8, 32

Jede neue: Wahrheit ruft zuerst einen scharfen Widerstand wach: ohne Kampf mit dem Gegensatz kommt's zu keinem Erkennen der Wahrheit. So geht's im Herzen des einzelnen und so in der Geschichte der Völker. Darum hat es bei mir so lange gedauert, daß ich die Wahrheit des Werkes Jesu an meiner Seele bekämpfte. Mein Stolz und mein Leichtsinn bäumten sich dagegen auf. Dadurch war die Wahrheit gezwungen, sich immer stärker zu entfalten. Plötzlich merkte ich, daß ich keinen vernünftigen Grund, sondern bloß Trotz und Widerstand dagegen aufbot. Wie schämte ich mich meines blinden kindischen Trotzes! Jetzt gab ich nach, und im selben Augenblick erkannte ich erst die ganze Größe und Schönheit der Wahrheit: aus Gnaden selig! Man erkennt sie nur durch völliges Nachgeben. Jetzt erst, wo ich ihr gehorchen wollte, konnte sie meinen gebundenen Willen befreien und mich in den neuen Fesseln ihrer Freiheit gehen lehren. Mit jedem Schritt wurde die befreiende Macht stärker und mein Tritt gewisser. Wohl hat diese Freiheit auch ihre Formen und ihre Art, auf die man selbstverständlich Rücksicht nimmt, aber diese Gebundenheit der Freiheit ist die Macht der neuen Überzeugung, und diese wirkt befreiend bei allem Drang.

Lieber Heiland, ich bitte dich, lehre mich jede neue Wahrheit aus deinem Wort im Zusammenhang mit den früher erfahrenen Gnaden erkennen, damit jeder Widerstand bei mir aufhört und du mich ganz frei machen kannst! Amen.

„Ich kenne ihn und halte sein Wort.“
Joh. 8, 55

Gotteserkenntnis durch Studium oder durch Gehorsam? Das sind zwei verschiedene Wege, zwischen denen du zu wählen hast. Beim Studium kann die Seele falsche Menschenwege gehen und innerlich in Rechthaberei verknöchern; wenn man aber Gottes Wort hält, d. h. seinen Winken im Gewissen treu gehorcht, bekommt man Erfahrungen des Wirkens Gottes und lernt ihn kennen aus seinem Tun und an seinem Segen. Jesus ist für den zweiten Weg. Wirklichkeit predigt lauter als Wissenschaft. Wenn wir auf dem Gebiet, wo wir Gottes Willen klar erkannt haben, ihn auch wirklich tun, fällt uns neues Licht auf jene Gebiete, die uns vorher dunkel waren. Ein Wort Gottes, das wir getan haben, erschließt uns zehn andere, die uns vorher unerreichbar und unverständlich waren. Nichts macht so blind als Ungehorsam und ein schlechtes Gewissen. Das Volk aber, das seinen Gott erkennt, wird sich aufmachen und es ausrichten. Das treibt uns vorwärts, daß er schon solchen reichen Segen auf den kleinsten Gehorsam gelegt hat, und jeder neue Gehorsam bringt uns wie das Aufwärtssteigen am Berge neue Blicke, neue ungeahnte Seligkeiten.

Darum gib mir, lieber Vater, ein gehorsames Herz, daß ich keine Ruhe mehr finde auf meinen selbstgewählten Wegen, sondern dir täglich und freudig diene. Strafe meine Trägheit nicht durch Blindheit über deinen Willen, sondern vergib mir meine alte Schuld und gib mir neue Winke und neue Kraft. Amen.

Kapitel 9

„Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“
Joh. 9, 4

So merkwürdig solch ein Wort klingt, wenn Jesus es auf sich selbst anwendet - es hat doch auch dann einen Sinn. Sein Tagewerk auf Erden mußte er vollenden. Nachher hätte er nichts mehr von dieser Art nachholen können. Was seither der Heilige Geist an Jesu Gemeinde wirkt, entnimmt er dem Stoff von Jesu Erdenarbeit. Das ist auch eine Predigt an uns! Leben wir immer unsere Arbeitstage und Arbeitsgelegenheiten mit dem Bewußtsein, daß sie so nie ganz wiederkehren? Solange es Tag ist, gilt es, die Tagesleistung zu vollenden, und dazu gibt es Hilfe: wie deine Tage sein werden, wird deine Kraft sein! Nicht mehr und nicht weniger. Ach, daß wir von Jesu nicht nur den Stoff und die Anregung, sondern auch die Treue nähmen, daß uns doch keine verträumte Gelegenheit einst mit hohlen, leeren Augen anzusehen braucht: An mich hast du nichts von deiner Teilnahme und deinem Herzblut gewandt! Dazu kommt noch das eine, daß wir nicht wissen, wie lange unser Tag noch dauert und wann der Tag anderer anbricht, und daß wir gar nicht absehen können, wie groß das Tagewerk ist, das wir hätten leisten sollen.

O Herr Jesu, mach mich treu in Kleinigkeiten von Zeit und Kraft, und öffne mir die Augen zu sehen, was ich soll! Das Wissen soll mich dann treiben zum Tun! Ein Tagewerk für den Heiland! Herr Jesu, segne mir Arbeit und Gelegenheit um deinetwillen! Amen.

Kapitel 10

„Ich bin die Tür.“
Joh. 10, 7

Das Wort „Tür“ allein würde die Vorstellung in uns erwecken, daß sich etwas vor uns öffnet, ein Eingang, eine Aussicht. Türen allein gibt es nicht; es müssen Zimmer, Räume dahinter sein. Aber wenn Jesus sich selbst die Tür nennt, wird noch eine andere Vorstellung damit verknüpft: Die Möglichkeit des Eingehens ist an seine Person geknüpft; die Aussicht der Zukunft hängt von ihm ab. Immer wieder dreht sich das Seeleninteresse, das Gottes Wort geweckt hat, um die innigste, intimste, innerlichste Stellung, die wir zu seiner Person einnehmen. Von hier aus öffnen sich die Türen des Verständnisses, der Offenbarung, der Gebetserhörung, des Liebesumgangs und einst der Ewigkeit. Die Eingangstür zu des Vaters Haus, in dem viele Wohnungen sind, die jeder passieren muß, ist keine Sache, keine Zeremonie, keine Lehre, sondern eine Person! Was für ein Aufgeben unserer Selbständigkeit, unseres Eigendünkels, unserer Selbstsucht muß wohl vor sich gehen, bis wir unpersönlich genug geworden sind, durch diese Tür einzugehen. Jesus wird uns von Tag zu Tag mehr das, was er uns beim wirklichen Anfang unseres Erlebens mit ihm schon sein mußte: die Tür, der Eingang, der Anbruch der Ewigkeit.

Wir danken dir, Vater, daß du deinem Hause solch eine Tür gabst und daß du uns gezogen hast zu Jesus. Laß uns in die Offenbarung seines Wesens immer besser eindringen, damit wir weiter dringen ins Licht. Amen.

Kapitel 11

„Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“
Joh. 11, 21

Wie groß und wie klein! Wie groß, daß Martha geglaubt, in Jesu Gegenwart könne kein Mensch sterben, und wie klein, daß die bloße räumliche Entfernung seine Kraft sollte ausgeschaltet haben. Wäre er nicht gestorben, hätte Jesus ihn nicht auferwecken können. Und wie viel größer als eine Bewahrung eines Kranken war die Auferweckung eines Toten! So ähnlich gehen wir auch hin mit unserm Glauben zwischen groß und klein. Da trauen wir dem Herrn die Umwandlung der ganzen Welt zu, und im selben Augenblick zweifeln wir an der Erhörung von kleinen Alltagsgebeten. Da trauen wir ihm die herrliche Auferweckung unseres Leibes für die ewige Herrlichkeit zu und zweifeln, ob er heute die Kraft darreicht zum Überwinden einer Versuchung oder einer Schwäche. Da trauen wir ihm die Bekehrung der Millionen von Heiden zu, und im selben Augenblick zweifeln wir, ob er das trotzige Kind herumholen kann, das uns gerade Not macht! Wann werden wir lernen glauben, daß ihm kein Ding unmöglich ist, es sei groß oder klein, wenn er es will und wenn er es jetzt und hier durch uns will geschehen lassen. Mehr Liebesumgang muß in das Verhältnis unseres Herzens zu Jesu hinein, damit wir erraten, welches Ziel er jetzt gerade mit dieser Sache verfolgt.

Herr Jesu, wir wollen dir nichts vorschreiben, aber alles zutrauen. Öffne uns die Augen unseres Herzens, daß wir mit Liebesaugen sehen, wohin du siehst und was du vorhast. Amen.

„Hab ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen?“
Joh. 11, 40

Ja, das hat er uns auch oft genug gesagt, aber wenn es so gegen allen Augenschein geht, wie dort bei Martha in Bethanien, dann bricht der Glaube wie ein schwacher Keim nicht durch die gefrorene Erdkruste hindurch. Wir mögen sogar schon verschiedene kleinere und größere Proben seiner wunderbaren Hilfe erlebt haben, und wenn die neue Angst wieder da ist, haben wir alles vergessen. Da hilft nichts, er muß hienieden uns wieder und wieder „Toren und trägen Herzens“ schelten, was den Glauben an sein Wort anlangt. Außerdem erschweren wir dem Heiland sein Hilfswerk durch solchen Mangel an Vertrauen in einer Weise, die uns selbst Schaden tut. Es ist nachgerade zum Niederfallen und Anbeten, daß er mit solchen Leuten, wie wir sind, noch Geduld hat und sie immer wieder der gnädigen Hilfe würdigt. Wenn er nur zuletzt den ganzen Prozeß gewinnt und den Sieg behält und die letzte Decke kann von unsern Augen genommen werden und wir sehen buchstäblich die Herrlichkeit Gottes in vollkommener Schöne. Bis das geschehen kann, was muß da doch aus uns werden, die ihm soviel Mühe gemacht haben mit ihrem Kleinglauben und soviel Schwierigkeiten mit ihrer Kurzsichtigkeit!

Vergib uns, Herr, den mangelhaften Glauben und das Auf und Niederschwanken zwischen Zutrauen und Zweifel. So es möglich ist, mach unsere Herzen fest und still im Glauben an dein Wort und dein Herz voll Liebe. Amen.

Kapitel 12

„Wir möchten Jesum gerne sehen.“
Joh. 12, 21

Das waren fremde Griechen, die so sprachen. Es sind heute mehr, viel mehr Fremde, die dasselbe Sehnen in der Seele bergen, aber sie sprechen es nicht aus. Nur, wenn irgendein wirklich gläubiger Christ, der des Heilands Art mit Takt und Liebe zu tragen und zu zeigen weiß, ihnen menschlich näher tritt, dann kommen die feinen Fühlfäden jener Seelen hervor und tasten zitternd und scheu nach dem Geheimnis des neuen Bekannten, als wollten sie fragen: Ist das „Jesus“? Wir möchten ihn so gerne sehen! Der Ernst der Verantwortung, daß der unsichtbare Jesus keine anderen Darsteller hat als uns, seine schwachen Schüler, kann uns in gewissen Stunden den Atem versetzen. Mach ich's recht, wenn ich diesem die große weltweite Sünderliebe Jesu zeige? Oder muß jener leichtsinnige Frevler sich nicht an meinem scharfen Bußernst das Gewissen erst blutig stoßen, damit er überhaupt Gnade suchen lernt? Es ist nichts so schwer, als mit Seelen zu tun zu haben! Lauter offene Seelenfenster um mich her, und jetzt kann eine ewige Geschichte oder eine wichtige Epoche derselben davon abhängig sein, was von Jesus durch mein Benehmen und meine Worte in jene offenen Fenster fällt. Wie oft habe ich's verfehlt.

Herr Jesus, du mußt ziehen. Mein Bemühen ist zu mangelhaft. Vergib mir alle meine Fehler, die ich in Seelenbehandlung gemacht habe. Mach mich geschickter, treuer, grader, heller, reiner, damit ich dich besser zeigen kann. Amen.

“Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt's allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte.“
Joh. 12, 24

Möchten wir viele Früchte bringen oder unser Leben so halbwegs behaglich für uns genießen? Ist das letztere unser heißester Wunsch, so kann, wenn er erfüllt wird, unser Weg ums Sterben, das hier gemeint ist, herumkommen; aber dann geht es uns mit seinem Ertrage für die Ewigkeit verloren. Im andern Falle gilt nur der Todesweg. Nicht immer so massiv wie bei Jesus, aber dafür ist das Sterben über viele Tage und Stunden unseres Lebens verteilt. Wir werden stückweise unsere Aussichten und Hoffnungen auf Erdenglück in den Tod geben müssen. Früchte gibt es nur in dem Maße, wie wir unserm eigenen Ich abgestorben sind. Und das ist ein zähes, langlebiges Ding! Das ist schon längst zum Tod verurteilt und hat schon manchen starken Stoß erhalten, und es ist doch nicht tot. Man spürt sein empfindungsreiches Leben deutlich, wenn wir verkleinert oder verkannt werden. Dann bäumt es sich gekränkt empor. Anstatt, daß wir uns freuen sollten, daß unsre Gegner uns wieder ein Stück Tod des alten Menschen bereitet haben, begehren wir auf, als widerführe uns etwas Seltsames. Die Freiwilligkeit zum Sterben findet sich sogar bei denen, die sich gern „Gestorbene“ nennen, oft in sehr winzigem Grade.

Herr Jesu! Zieh uns in dein Sterben. Laß mit dir gekreuzigt sein, was doch zu dir nicht paßt und dir nur im Wege steht. Lehre uns dein Leben besser erkennen und verspüren, damit uns unser Sterben leichter fällt. Amen.

„Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, dieweil ihr das Licht habt, daß euch die Finsternis nicht überfalle.“
Joh. 12, 35

Zunächst bezieht sich dieses Wort auf die Zeit, da Jesus, „das Licht“ während seines Erdenlebens seinen Zeitgenossen leuchtete. Es ist aber kein Unrecht, wenn wir die darin enthaltene Mahnung auf unser Leben anwenden. Auch wir können solche besonderen Lichtzeiten haben, in denen eine Veranstaltung Gottes durch Menschen oder Verhältnisse und Entscheidungen nahe legt, die in dieser scharfen Beleuchtung vielleicht nur eine kurze Dauer haben und ähnlich nicht wiederkehren. Wenn wir solchen Gnadenstunden gegenüber, wo uns das Heil oder eine besondere Stufe des Wachstums näher ist als sonst jemals, nicht treu sind und sie nicht benutzen, wandert dieses Licht wieder weiter und kann uns ganz entzogen werden. Welch ein lebhafter Akzent liegt dann auf dem Ausdruck „noch eine kleine Zeit“! Gewisse Fortschritte werden jetzt von uns erwartet. Wer seine Heimsuchung nicht merkt oder vernachlässigt, kann später vielleicht vergeblich das Licht zurückersehnen; seine Gelegenheit war schön und reich angelegt, aber er hat sie verpaßt. Wie schmerzlich und demütigend, wenn wir nachher so etwas erkennen, wo es zu spät ist. Darum: wandelt, dieweil ihr das Licht habet!

Du bist unser Licht, Herr Jesu! Mach uns die Gelegenheiten wichtig, wo wir dir dienen oder uns besser für dich entscheiden können. Hilf uns gegen den drohenden Überfall der Finsternis. Herr, erbarme dich unser und laß uns leuchten dein Angesicht. Amen.

„Glaubt an das Licht, dieweil ihr's habt, auf daß ihr des Lichtes Kinder seid.“
Joh. 12, 36

Aus dem Zusammenhang gerissen, dürfte dieser Spruch sehr befremdlich klingen: wie kann man an etwas glauben, was man hat, und wie kann man ein Kind dessen werden, was man schon hat? Aber dort, wo Jesus die Worte sagt, meint er mit dem Lichte sich selbst und ermahnt seine Hörer, an ihn zu glauben, wodurch sie erst zur Gotteskindschaft kämen. Unglaube wäre im Sinn dieser Stelle der geheime Widerspruch gegen Jesus, die Trägheit, einen starken Schritt auf ihn hin zu machen, die dreiste Energie, mit dem alten Glauben zu brechen. Dergleichen Anwandlungen kommen auch an solche heran, die längst Gotteskinder sind. Innere Verstimmungen, Unzufriedenheit mit seinen Wegen, Kreuzesscheu und Trägheit belasten in solchen Augenblicken unsern Glauben, daß der Versucher Gehör findet für die Einflüsterung: Ist Jesus dir wirklich genug? Ist der Glaube ein entsprechendes Entgelt für aufgegebene Weltfreude? Man braucht nur noch seelisch müde oder körperlich krank zu sein, so wird solche Versuchung gefährlich. Glauben ist dann ein Entschluß, ein Ruck des Willens, ein die Augenschließen für alles andere. Dennoch! Wie auf dem Absatz herumgedreht und allen jenen Stimmen und Stimmungen den Rücken gekehrt!

Herr Jesus, du bist mir genug. Ich will nichts weiter als dich. Aber auch wirklich dich. Mein angefochtener Glaube windet sich wie eine Ranke um dein Wort und deine Hilfe und deine Liebe. Halte selbst dein schwaches Kind! Amen.

„Und ich weiß, daß sein Gebot ist das ewige Leben.“
Joh. 12, 50

Das Gebot, das der Vater dem Sohne gegeben hat, daß er es ausrichte und davon zeuge, ist das ewige Leben für die Menschheit. Damit diese ganze wertvolle Gottesschöpfung nicht dem ewigen Tode verfalle, sondern herausgerettet Anteil am Leben Gottes und Christi bekomme - dazu kam Jesus, dazu lehrte, litt und starb er. Merkwürdig, daß solch ein Gebot nicht brausende, jauchzende Zustimmung aus jeder Menschenseele bekommt! Warum verhalten sich die Leute gegen dieses großartige Gottes-Gebot: „Ihr sollt ewig leben!“ so teilnahmslos? Weil es von der Sünde scheidet, weil es uns auf Gottes Seite ruft, weil es aus der Selbstverliebtheit herausreißt und uns binden will an Gott mit Seilen der Liebe - darum überlegt sich die Menschheit immer noch, ob sie sich rücksichtslos seinem Gebote fügen soll. - Es kommt nun noch der Irrwahn hinzu, als ob man ohne Christum auch schon im Besitz von ewigem Leben sei. Nein, außer Christus ist nur Tod! Ach, daß die Decke von euren Augen genommen würde und ihr erkennt, ehe es zu spät ist, wie nahe euch die selige Gottesgabe ist: Leben und volles Genüge! Ach, daß wir bessere Verkündiger dieses Lebens wurden im Lande der Sterbenden!

Du weißt, Herr Jesu, daß der Vater ewiges Leben geben will, wie einen Strom! Wir glauben es auch; dann lege deine Worte in unsern Mund, daß wir besser davon zeugen können und ziehe die Herzen zu deiner heilsamen Gnade. Amen.

„Und ich weiß, daß sein Gebot ist das ewige Leben.“
Joh. 12, 50

Sein Gebot? Wie soll man das verstehen: gebietet er, daß wir das ewige Leben annehmen sollen, oder liegt in Gottes Gebot, wenn man es erfüllt, das ewige Leben drin? Es mögen beide Gedanken zusammenfließen, wenn Jesus so spricht. In ihm war das Leben erschienen, und nun gebot Gott allen, die Jesu Wort hörten, daß sie es annahmen und darinnen wandelten. Über solchem Gehorsam gegen des Vaters Willen würden sie das ewige Leben erhalten und verspüren. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Einen Augenblick stillen Sinnens zeigt mir, daß fast alle die Unruhe meiner Seele am heutigen Tage nicht als Gottes klarer Wille an mich heran kam, sondern aus menschlichen Schwächen gegen andere Menschen oder menschliche Verhältnisse herstammte. Das Wenige, was ich heute ganz klar nach Gottes Willen tat, sagte, schrieb, las, entschied - hat Ruhe und Kraft, Stille und Leben an sich und für mich. Immer wieder muß ich mich aus allerlei Netzen der Menschengefälligkeit, der Eitelkeit, der Selbstsucht herausziehen lassen, damit Gottes klares, festes Gebot mich leitet. Auf dieser Bahn begegnet mir Friede und Leben.

Ich weiß das längst, mein Herr und Gott, erinnere mich täglich daran! Hilf mir deinen Willen erkennen und kindlich freudig ihn tun, damit deine Luft mich umfängt und dein Leben über meinen Tag und seine Arbeit komme. Überlaß mich nicht mir selbst! Amen.

Kapitel 13

„so liebte er sie bis ans Ende.“
Joh. 13, 1

Eine verzweifelte Mutter aus vornehmer Familie erklärte, nachdem sie die fast zwanzigjährige Leidensgeschichte erzählt hatte, die sie mit ihrem ungeratenen Sohn durchgemacht, daß sie jetzt mit ihrer Liebe zu ihm fertig sei. Ähnliches kann man beobachten, wenn ein Mann jahrelang sein siechendes Weib pflegen soll, oder eine erwachsene Tochter die fast blödsinnige Mutter: ihre Liebe verliert zuletzt die Spannkraft. So sind wir eigentlich von Natur alle - was uns zu lang dauert, wo wir kein nahes Ende absehen, da versagt zuletzt unsere Liebe. Jesus liebte die Seinen bis ans Ende! Obschon dieses furchtbare Ende erst seine ganze Liebeskraft herausforderte, sich für diese gleichmütigen, unverständigen Jünger ebenso wie für seine Feinde in Marter und Tod zu geben - er liebte sie bis ans Ende! Er wird uns im Sterben nicht verlassen und uns hindurchlieben, „bis am goldenen Ufer leuchtend der Tag erwacht.“ Sollen wir uns nicht solcher treuen Liebe gänzlich, täglich, freudig ausliefern! Müssen wir nicht von solcher ewig währenden Liebe endlich mit angesteckt werden, ihr ähnlich zu werden?

Ach, Herr Jesu, schärfe die Sinne unserer Seele, daß wir deine Liebe feuriger empfinden und treuer ausstrahlen auf andere, die du doch alle ebenso liebst wie uns. Segne unser Lieben nach deinem Reichtum! Amen.

„Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.“
Joh. 13, 35

Einander kritisieren und richten, das kann die Welt auch. Übereinander klatschen und klagen, verleumden und verdammen, das kann die Welt auch. Aber tragende, duldende, selbstlose Liebe, das hat sie nicht und kennt sie nicht. Wo sie dergleichen sieht, wird sie staunen müssen über dem Unverstandenen. Wenn sie sich Mühe geben will, dergleichen näher kennenzulernen, muß sie den Motiven nachforschen, und dann stößt sie auf die Liebe Christi, die solches schafft. Dann bleibt ihr nur die Wahl zwischen Haß oder rückhaltloser Anerkennung, daß so etwas über ihre Kraft geht. Daher ist diese selbstlose Liebe der Kinder Gottes untereinander einer der stärksten Beweise für das Christentum, stärker als alle logischen, wissenschaftlichen Verteidigungen. Eigentlich könnten wir uns die Hälfte aller Kongresse, Konferenzen und äußerlichen Anstrengungen schenken, wenn die Sprache dieser Liebe laut genug erschallte. Was kann man dazu tun, daß sie in unserem Leben lauter und deutlicher tönt? Sie haben! Wo sie ist, wird sie schon von sich zeugen. Wem viel vergeben ist, der liebt viel. Jesus ist reich genug, daß jeder von uns gerade so viel Liebe aus ihm schöpfen kann, als in unser kleines Herz geht.

O Herr Jesu, erbarme dich über uns. Wir sind arm an Liebe! Vergib uns unsere selbstsüchtigen, empfindlichen Regungen und pflanze statt dessen starke, treue, reine Liebe in unseren Seelen. Wir möchten dich haben. Amen.

„Herr, warum kann ich dir nicht folgen?“
Joh. 13, 37

Diese Frage sieht nicht nur dem lebhaften Petrus sehr ähnlich - sondern sie ist sogar recht menschlich, ordentlich bezeichnend für unsere Stimmung vor dem Vorhang. Haben wir hin und her etwas Kraft und Hilfe aus der unsichtbaren Welt genommen, dann schwillt unser Mut, und wir überschätzen unsere geistliche Stellung. Was sollte uns in solchen Augenblicken eigentlich unmöglich sein? Wofür sind wir noch nicht reif? Worauf wartet der Herr denn noch mit uns? Gott sei Dank, daß man sich aus solchen Stimmungen im himmlischen Hauptquartier nichts macht, daß man uns nicht beim Wort nimmt, daß man die Arbeits- und Leidensaufträge nicht danach bemißt, sondern auf unser echt menschliches „Warum nicht jetzt?“ mit dem echt göttlichen „Jetzt noch nicht!“ antwortet. „Es wird schon noch kommen, es geht aufwärts, es soll noch innerlich mehr Spannkraft, mehr Treue, mehr Zuverlässigkeit herausgebildet werden - dann wirst du mir auch in dieser Ähnlichkeit des Kreuzes folgen können.“ Wir sollen an dem „Jetzt noch nicht!“ uns bescheiden lernen, unsere Grenzen erkennen und doch eine große Zusage des Herrn heraushören: Also später einmal doch! Bis dahin stille, gehorsam, den Winken des Heute getreu!

Herr Jesu, wir danken dir, daß es nicht beim Stückwerk bleiben soll, sondern daß du uns, wenn deine Stunde gekommen ist, willst zu deiner Vollendung führen. Mach uns bereit zum Warten oder Vorwärtsdringen, wie du willst. Amen.

Kapitel 14

„Es kommt der Fürst dieser Welt und hat nichts an mir.“
Joh. 14, 30

Wie oft kommt Gott in Erweisung seiner Freundlichkeit an Menschenseelen heran - aber er hat nichts an ihnen! Da ist kein Verständnis, kein Dank, kein seliges Klingen: „Wie soll ich dich empfangen !“ Wenn aber der Fürst dieser Welt die Erlaubnis bekäme, in schwerer Stunde der Versuchung dir zu nahen, wieviel Ungehorsam gegen den Herrn, wieviel Auflehnung gegen den guten Gotteswillen, wieviel Kreuzesflucht und Leidensscheu, wieviel Träumen von Fleischesherrlichkeit! Für solchen Besuch sind wir nur dann gewappnet und können ihn an der Schwelle des Bewußtseins abfertigen, wenn Jesus seine Flügel über uns breiten kann. Die echte, reine gottvertrauende Jesusart konnte Satan damals schon auf Erden nicht vertragen. Auch als die Stunden der Finsternis in Jesu Leiden kamen und die Gotteswächter stumm von ihm zurücktreten mußten, auf daß er versucht würde bis zu dem dunkelsten Schatten der Gottverlassenheit - der Satan fand keine Stelle, hinter der er auch nur mit einem Schein des Rechts hätte fassen können. Seither hat Jesus es an sich, wo er geliebt wird, muß Satan fliehen. Darum falte ich meine Hände und bete voll Vertrauen, wie einst als Kind:

Breit' aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Küchlein ein. Will Satan mich verschlingen, dann laß die Engel singen: dies Kind soll unverletzt sein. Amen.

Kapitel 15

„Bleibet in mir und ich in euch.“
Joh. 15, 4

Wenn ich doch den ganzen Tag über so gewesen wäre, wie ich abends bei meinem Abendsegen bin! In der Arbeit hitzig, in der Not kleinmütig, im Glück übermütig, im Reden voreilig - und abends sieht man das alles so klar ein und sitzt und überschlägt seine geistlichen Einnahmen und Ausgaben, und schämt sich. Bisweilen fällt mir am Tage der Abend ein, und das Schämen macht mich plötzlich am fremden, fröhlichen Kaffeetisch einsilbig und gedrückt. Ist da unser Textwort nicht eine wichtige Hilfe? Für uns ist's eine Mahnung, daß wir im Herrn bleiben sollen, und was ihn betrifft, ist es eine Zusage, daß er schon bleiben will. Wenn ihn nur unsere Untreue und Unachtsamkeit nicht so leicht vertriebe! Die beiden Linien müssen eben dicht zusammenbleiben: sein Bleibenwollen und unser Bleibenwollen. Je häufiger im Laufe des Tages wir seiner gedenken, je ernstlicher unser Gebetsverkehr bleibt, je besser wir an seine bewahrende Gegenwart glauben, desto weniger Ausnahmen von der Regel wird's geben. Die Lücken müssen seltener werden, die Gedankenwelt muß von ihm erfüllt werden. Darum beten wir:

O Herr Jesus, daß dein Name bliebe im Herz mir tief gepräget ein. Bleib du so stark und lieb bei uns, daß wir keine Stunde es mehr aushalten ohne dich. Unsere Seele sehnet sich nach deiner dauernden Gegenwart. Amen.

„Denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“
Joh. 15, 5

Warum verachten wir die einfachsten, natürlichsten Wahrheiten, sobald es geistliche Arbeit gilt? Ohne Jesus und den Zufluß von ihm wird unser vieles Reden von ihm so leer und unnütz. Ehe ich merke, daß mein Reden kein Echo in den Herzen der Hörer weckt, wird mir innerlich schwach zumute. Ich habe alle meine Reserven an Kraft verbraucht, den letzten Kredit erschöpft, und die Pumpe heult, aber schafft kein Wasser an die Oberfläche. Seelisch, geistlich, gibt es kaum etwas Elenderes als dieses Weiterreden, wenn der Zufluß aufgehört hat. Von der Direktion wird hergeschickt: das Wasser wird heute wegen Reparatur des Hauptrohres von drei bis acht Uhr abgestellt. Was für eine törichte Sache ist dann der Eigensinn, in dieser Zeit krampfhaft den Hahn zu drehen und doch etwas Wasser erzwingen zu wollen. Das nennen die Leute Eifer für den Herrn und großen Glauben! Nein, sowie statt Wasser jenes heulende Pfeifen des leeren Rohres ertönt, setze lieber das Reden aus, gehe in die Stille, schweig vor Gott und Menschen und warte, bis die Reparatur beendigt ist. Kommt wieder Wasser aus dem Heiligtum, so wird in wenig Tagen alles ersetzt, was gefehlt hat, und das Glück ist groß, viel geben zu können, ohne arm zu werden.

Lehre mich, Herr Jesus, auf deine heimlichen Winke achten, daß ich deine Sache nicht durch mein leeres Gerede in Verruf bringe. Fülle mich erst, und dann gib mir das Zeichen, daß ich für dich da sein soll. Amen.

„Solches rede ich zu euch, auf daß meine Freude in euch sei.“
Joh. 15, 11

Ob wir solche Worte Jesu hienieden ganz ausschöpfen können? Seine Freude? Das ist nicht die Freude, die wir an ihm haben - und das ist auch schon eine große Sache und ein köstliches Gut - sondern seine Freude, die er hatte. Das sagt einer in dem Augenblick, wo ein Kilometer davon die Fackeln seiner Häscher schon angezündet werden und er weiß, was für Qualen seiner warten. Was muß das für eine Freude gewesen sein! Freude in Gott, Freude über den Glauben der Jünger, über sein gleich beendetes Erdenwerk, Freude über die Erlösung der Welt - ich weiß nicht, was da alles hineingehört. Genug, daß er die Absicht hat, seine Jünger durch sein Wort mit wunderbarer Freude zu erfüllen. Wie wenig gelang es ihm damals! Gelingt es ihm bei uns? Wieviel günstiger liegen heute die Aussichten, wo eine ganze Geschichte seiner Kraftwirkungen hinter uns liegt, und er aus der Harmonie beim Vater heraus uns seine Freude übermitteln kann. Und doch, wie bruchstückartig pflegt diese Jesusfreude bei uns zu sein! Als ob wir es nicht vertrügen, uns lange nur in ihm und an ihm zu freuen! Als müßten noch Erdendinge dabei sein, die uns törichte Menschen mithelfen zur Freude zu stimmen. Darum freue ich mich auf die Ewigkeit!

Was wir von deiner Freude hier geschmeckt, Herr Jesus, das hat uns den Sinn geschärft, zu unterscheiden zwischen echter und wahrer, zwischen reiner und gefärbter Freude. Hilf uns hindurch! Amen.

„Und ihr werdet auch zeugen.“
Joh. 15, 27

Nämlich von ihm, ihrem erhöhten Meister, werden diese bangen, unklaren, unfertigen Menschen zeugen. Und zwar wie! Was hat doch Jesu Tod und Auferstehen, Himmelfahrt und Pfingsten aus diesen Jüngern gemacht! Erfahrungen machen eben mehr aus als Bücher und Predigten, und erst recht Erfahrungen von Gott her: solche Erlebnisse, da der Lebendige sich selbst bezeugt durch ein Geschehen, das unserem Leben die Richtung und den Reichtum gibt. Dann bekommt unser Zeugnis einen eigentümlichen Silberklang der Wirklichkeit und wird ein Wärmeleiter für andere. Geschehen weckt neues Geschehen. Was Gott in unserem Leben tat, weckte in uns ein Echo, und als wir ordentlich gedrängt wurden, es weiter zu geben, riefen wir ein vielstimmiges Echo bei andern wach. Aber nicht nur ein Echo von Worten oder Tönen, sondern das Zeugnis löste bei denen, die sich ihm hingaben, ein neues Geschehen aus: auf ihren Wortglauben folgte eine Erfahrung um die andere, bis sie selbst solch eine Überzeugung bekamen, daß sie weiter Lebensträger für andere wurden. Dann aber brandet solche Wirkung unseres Zeugnisses auf uns selbst zurück als Segen und Kraft und Freude: darum ist's eine selige Sache, ein Zeuge Jesu zu sein.

Behalte mich in der Bereitung des Heiligen Geistes für und für, Herr Jesu! Es würde ohne deine Leitung ein unfruchtbarer Baum aus mir. Und ich sehne mich nach dem Echo des Zeugnisses. Stärke mir den Glauben und die Liebe. Amen.

Kapitel 16

„Es ist euch gut, daß ich hingehe“
Joh. 16, 7

Drei lang dauerte die wunderbare Zeit, wo Jesus in Fleisch und Blut den Jüngern sich gezeigt hatte. Sie hatten ihn lieb und lernten alles Mögliche bei ihm, und doch konnte diese Art der Offenbarung nicht so weitergehen. Weder erlangten die Jünger unter dem mächtigen Einfluß seiner nahen Persönlichkeit die Selbständigkeit, die sie für ihren Weltberuf doch nötig hatten, noch auch ging ihnen das rechte Verständnis für das Geheimnis seiner Person auf. Und wenn er noch dreißig Jahre in Fleisch und Blut bei ihnen geweilt hätte, wären sie nicht viel weiter gekommen. Die Distanz fehlte. Erst in gewissem Abstand erkennt man die Größe eines Berges und genießt den Segen eines Lichts. Außerdem mußte die Offenbarung durch den Geist ihrem Geist mitteilen, Jesus mußte in ihnen Gestalt gewinnen, statt daß außer ihnen eine Gestalt stehen blieb, auf die sich ihre Gedanken hinwandten. Der Schauplatz der Offenbarung wurde aus Galiläa und Judäa in ihren eigenen Geist verlegt. - Im gewissen Sinn müssen wir auch dergleichen durchmachen; die Offenbarungen durch Eltern, Lehrer, Freunde, geistliche Führer, Bücher, müssen doch zuletzt alle weichen, wenn der Geist Christi die Führung in unserem Herzen selbst übernimmt.

Herr Jesus, du bist fortgegangen, um ewig bei den Deinen zu bleiben. Hebe uns auch auf eine solche Stufe, daß wir dich im Geiste recht verstehen und uns durch deinen Geist treiben und führen lassen. Offenbare dich, wie du willst; wenn wir dich nur mehr lieben und dich besser verstehen. Amen.

„Es ist euch gut, daß ich hingehe“
Joh. 16, 7

Bisweilen liegt im Abstand die rechte Beurteilung und die rechte Kraft. In dem Fall, von dem unser Text handelt, ist es zu bekannt, als daß ich darüber ein Wort zu sagen brauche: durch Jesu Weggang ging er in den Tod und kam wieder als Lebensfürst, und als er seine Jünger zu Himmelfahrt verließ, kam er wieder durch die Innewohnung des Geistes. Da war es freilich gut für sie, daß er hinging. Es kann aber auch heute gut sein, wenn nach der ersten Glaubensstufe, wo das selige Gefühl leicht in Fleischesbegeisterung ausartet, ein Weggehen Jesu stattfindet. Durch den Abstand wächst das Verständnis für das, was man an ihm hat und wie es ohne ihn ist. Auf der zweiten Stufe ist der Glaube stärker und die Liebe treuer; nur haben Gefühle und Stimmungen weniger zu bedeuten. Der Gehorsam, seinen Willen tun, bekommt die Oberhand über gerührte Andacht. Gotteskinder lernen in dunklen Stunden, wo sie meinen, Jesus wäre fortgegangen, mehr von seiner Kraft und Liebe kennen, als wenn alles glatt und leicht geht. Jedesmal, wenn er in diesem Sinn weggeht, schafft uns der Schrecken besser voran als alle süßen Stunden. Wir lernen ihn behalten, auch wenn wir gar nichts fühlen von seiner Macht!

Wie du uns gerade erziehen willst, Herr Jesus Christus, das können wir dir nicht vorschreiben. Aber auf alle Fälle stärke uns den Glauben an deinen Liebeswillen. Mögen die Zwischenräume größer oder kleiner sein, wo wir dich nahe fühlen du bleibst doch bei uns und wir bei dir in Ewigkeit! Amen.

„Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnet es jetzt nicht tragen.“
Joh. 16, 12

Wenn Jesus uns ein Wort sagt, dann gibt's daran etwas zu tragen. An manchen geheimnisvollen Worten tragen wir lebenslang. Den Jüngern hat er wohl das, was er jetzt in weiser Schonung und Zurückhaltung noch nicht sagte, zwischen Ostern und Himmelfahrt mitgeteilt, und manches andere hat ihnen nach Pfingsten der Geist unter der Entwicklung der Gemeinde und unter dem Gang der Ereignisse klar gemacht. Man kann aber auch von unserem Leben mit Jesus sagen: es gab Stufen, auf deren tiefster wir nicht hätten tragen können, was die höchste uns selbstverständlich macht. Denke nur an die Stellung zum Leiden und zur Selbsthingabe! Was haben wir da im Lauf der Jahre für eine Wandlung durchgemacht. Nur sei ebenso zurückhaltend in der Art, wie du deinen Wahrheitsbesitz Kindern und unreifen Christen offenbarst. Sie können auch nicht alles tragen, was dir langsam wertvoll und groß geworden ist. - Aber es ist noch ein Gedanke in unserem Text: er hat auch uns alten Christen noch viel zu sagen, wofür wir jetzt nicht reif sind. Darauf freuen wir uns, daß die Ewigkeit dafür lang genug, und wir dann stark genug zum Tragen sein werden.

Wir danken dir, Herr Jesus, für alles, was du uns jetzt sagst und für alles, was du uns jetzt verschweigst. Wir können über dem, was wir haben, warten in Geduld auf das, was du uns später geben kannst und willst. Gelobt seist du, O Christus! Amen.

„Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frieden habet.“
Joh. 16, 33

Je älter einer in seinem Christenleben wird, desto mehr weiß er von dem Frieden in Jesu zu sagen. Dieser im Glauben alle Tage beanspruchte Friede wird ein Kennzeichen für die Ausreifung des Verhältnisses zu Gott. Nur aus solchem Frieden heraus' kann man freudig und gelassen leben, wenn auch genug Tage im äußerlichen Leben kommen, von denen wir sagen müssen, sie gefallen uns nicht. Wie es im Herbst bisweilen nach Regen tagen einen klaren Sonnentag gibt, wo die Luft besonders rein und die Fernsicht besonders deutlich ist - so wirkt der Friede Jesu auf die von Kampf und Tränen müde gewordene Seele. Aber das ist nicht nur Stimmung, das ist bleibender, selten nur gestörter Besitz. - Wer davon hört und nichts davon erlebt hat, der fragt vielleicht: Was soll ich tun, daß ich das auch bekomme? „Solches habe ich mit euch geredet“, sagte Jesus zu seinen Jüngern, „daß ihr in mir Frieden habet.“ Das soll die naturgemäße Wirkung seiner Worte sein, wenn man sie richtig auffaßt und im Glauben sich aneignet. Übergib all das schmerzende, stechende Sorgen Jesus; trau seinem Wort wirklich die Wunderwirkung zu und blick nicht mehr auf dich, sondern auf ihn, und du wirst von Tag zu Tag mehr erfahren von der Wirklichkeit des Friedens, den er uns zugesagt hat.

Lieber Herr Jesus, hülle mich in diesen Frieden ein, wie durch Panzer und Schild. Laß ihn in mir quellen und wachsen, daß ich gar nicht mehr aus seiner dauernden Gegenwart herausgeworfen werde. Du bist mein Friede. Amen.

Kapitel 17

„Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen.“
Joh. 17, 3

Gott und Jesum erkennen - das ist ewiges Leben. Dann kann damit aber nicht ein Aufmarsch von Begriffen und ein Lehrgebäude gemeint sein, sondern man muß an die biblische Sprache denken, die „erkennen“ von der innigsten Liebesgemeinschaft braucht. Gott und Jesus werden nur so weit erkannt, als man sie liebt, und man kann sie nur so echt und wahr lieben, wenn man sie am inneren Menschen erfährt. Es steht nicht so, als ob die Lehre über Gott zuerst an einen Menschen herangebracht werden müßte, um Ehrfurcht und Liebe zu wecken, sondern umgekehrt ist's gegangen: Die erfahrene Liebe von oben rief unsere Liebe wach und nachher suchte diese dankbare Rührung nach Begriffen, Namen, Lehren, die hoch genug für Gott und Jesus wären. Der goldene Faden im Gewebe unseres Erdenlebens ist, was wir in heiligem Schauer und süßer Bewegung vom Unsichtbaren erlebten: Scheidung von der Sünde, Gebetserhörungen, Tröstungen, die wir nicht in Worten weitersagen konnten. Schließ die Augen, wenn du allein dich müde geweint im Leid, oder müde gelesen in der Bibel und schicke deine Seele, daß sie Gott, dem nahen, gegenwärtigen, begegne.

Hier bin ich, Herr, mein Vater und Erlöser! Höre mich, sieh mich freundlich an, reiche mir deine durchgrabene Hand, zieh mich an dein Herz und laß mich eine kleine Weile Heimatglück in der Fremde genießen. Amen.

„Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen.“
Joh. 17, 3

Was muß das für eine Erkenntnis sein, daß Johannes sie ewigem Leben gleichsetzt? Solche Erkenntnis muß erfahrene Erlösung sein, muß eine solche Wirklichkeit sein, daß der arme Sünder, der mit uns zusammentrifft, innerlich überzeugt wird: das ist es, was ich suche. Das gerade brauche ich, um aus meinem Elend herauszukommen. - Dann ist schon klar, daß das nicht in Begriffen und Worten stehen kann, sondern in einer Erfahrung, die neue Kraft und neues Leben mit sich bringt. Davon war im Alten Testament geweissagt: ein Volk, das seinen Gott erkennt, wird sich aufmachen und es ausrichten. Nun muß sich das erfüllen, wenn man die Offenbarung Gottes in Christo an sich gerissen hat, diesen Gottesstrom in sich hinein hat fluten lassen. Das gibt dann den Sinn des Lebens auf Erden; sein Mark, seine Seele, seine treibende Kraft: das ewige Leben. Weil aber durch Liebe und Erfahrung die Erkenntnis Gottes und Christi wächst, wächst auch die Wirkung dieses ewigen Lebens hienieden. Wenn wir einst Gott so erkennen werden, wie er jetzt uns, dann werden wir das Vollmaß des ewigen Lebens erlangt haben. Hier ist beides - Erkenntnis und Leben - nur Stückwerk.

Wir danken dir, Herr, daß du beides in der Hand hast, den Abbruch des alten und den Aufbau des neuen Lebens. Wir wollen in deiner Hand bleiben. Wirke deine Werke, wenn unsere Werke welken. Führ uns hindurch! Amen.

„ich habe vollendet das Werk, das du mir gegeben hast, daß ich es tun sollte.“
Joh. 17, 4

Wie viele unter uns werden an ihrem Lebensabend dieses große Wort ihrem Meister nachsprechen können? Um so etwas sagen zu können, dazu gehört auch ein völliges Erkennen des aufgetragenen Werkes, das uns irrenden, kurzsichtigen Menschen fehlt. Nichts macht mich so klein und traurig, als wenn ich die Wirklichkeit meines Lebenswerkes mit dem vergleiche, was ich hätte leisten sollen. Es wäre zum Verzweifeln, wenn nicht in unserem Textwort ein starker Trost für solche traurige Arbeiter enthalten wäre. Jesu vollkommenes Werk ist nicht nur eine Sühne für unsere Sünden, sondern es deckt auch die Mängel und Unvollkommenheiten unseres Werkes. Er kann aus kleinen, schier vergessenen Abfällen unserer Arbeit noch etwas Wertvolles für die Ewigkeit schaffen, wenn er seinen Stempel darauf druckt: das habt ihr mir getan! Wir wollen uns nicht selbst entschuldigen, nicht geringer von unserer Verantwortlichkeit denken, nichts aufschieben oder unterlassen, was wir tun können - aber nervös brauchen wir uns nicht machen zu lassen! Jesus Christ ist Priester und Versühner aller seiner Diener. Sein Werk heiligt und verklärt unser Werk.

So, Herr Jesus, dann bringe ich dir alle meine Unvollkommenheiten und Unterlassungen. Erbarme dich meines Lebenswerkes und laß den Goldglanz deines Werkes darauf fallen, daß man meiner Schuld nicht mehr gedenke. Amen.

„Ich habe deinen Namen offenbart den Menschen, die du mir von der Welt gegeben hast. Sie waren dein und du hast sie mir gegeben und sie haben dein Wort behalten.“
Joh. 17, 6

Eine wundersame Stufenfolge: sie waren dein - erste Stufe. Nicht kraft der Schöpfung; denn sonst wären alle sein, sondern weil sie aus der Wahrheit waren und auf dieser untersten Stufe sich ehrlich von ihrem Gewissen strafen ließen. Dann hat der Vater sie dem Sohne gegeben, zugeführt, daß er sie „finden“ und nehmen konnte - zweite Stufe. Dann kommt des Sohnes Arbeit an ihnen: des Vaters Namen ihnen zu offenbaren, d. h. sein Wesen ihnen in Heiligkeit und Liebe zu zeigen - dritte Stufe. Und diese Arbeit ist nicht vergeblich gewesen; das Wort hat in den Herzen gehaftet, der Same ist aufgegangen. Denn Jesus irrt sich nicht, wenn er von ihnen sagt: „Sie haben's angenommen und erkannt wahrhaftig (V. 8), daß ich von dir ausgegangen bin“ - vierte Stufe. Nun, setze dich in die Stille und überlege, wieviel Stufen dieser Leiter du unter Jesu Führung schon hinangekommen bist. Wenn dich dieses Gedenken nicht rührt und dankbar macht, dann tust du mir leid. An wem sollte das wohl liegen? An seiner Führung gewiß nicht. Dann beuge dich über den versäumten Gnadenstunden und bitte ihn, daß er nochmals die Türen aufschließe und Gelegenheit schenke zum Wachsen und Werden im Licht.

Herr, wir danken dir für dein Tun an uns und bitten dich, fördere unser Werden. Du hast es verdient, daß wir ein vollkommenes Echo werden des Wortes, das du uns gabst. Mach unsere Herzen brennen in deiner Liebe. Amen.

„Und alles, was mein ist, das ist dein, und was dein ist, das ist mein.“
Joh. 17, 10

Nach dem Vorausgehenden und Nachfolgenden bezieht sich diese Aussage auf den Besitz von Menschen. Was Jesus gewonnen hat an Persönlichkeiten, ist gerade dadurch, daß sie an ihn gläubig wurden, auch unlöslich mit dem Vater verbunden. Was dem Vater gehorcht und gehört, wird dem Sohne zugeführt. Vater und Sohn sind so eins, daß, wer einen von ihnen liebt, auch den andern liebt. In Gott ist kein Gegensatz durch die Spaltung in Personen (wenn dieser Ausdruck überhaupt paßt), sondern eine Mannigfaltigkeit der Offenbarung. Dieser reiche Gott neigt sich durch Jesus freundlich zu dir und spricht: „Was mein ist, ist dein.“ Das können wir kurzsichtigen, schwachmütigen Menschen jetzt auf Erden ebensowenig begreifen, wie ein zweijähriges Kind etwas davon hat, wenn es eine Million erbt. Ein Gummiball oder eine Leckerei für wenig Geld erscheinen ihm mehr wert. Aber wie im Lauf der Erziehung dem heranwachsenden Knaben und Jüngling der Wert des Geldes aufgeht, so werden wir Christen für unsern Reichtum erzogen, daß wir mehr und mehr verstehen lernen, was für eine Herrlichkeit unser wartet.

Das soll heute Abend nach dem schweren Tagwerk voll Enttäuschungen und Verdrießlichkeiten mein Trost sein, daß du, Herr Jesus, mir die Bilder zeigst von dem Vaterhaus mit den vielen Wohnungen, und leise flüsterst: Was mein ist, das ist dein. Ich danke dir dafür. Amen.

„Erhalte sie in deinem Namen, die du mir gegeben hast, daß sie eines seien, gleich wie wir.“
Joh. 17, 11

Was muß das für ein Geheimnis um Gottes Namen sein, daß die darin Geborgenen nicht nur darin erhalten werden können, sondern daß das noch die Wirkung hat, sie auf die wunderbarste Weise zu vereinigen. Dieser Gottesname ist die Offenbarung Jesu. Nichts bewahrt sie nach außen so mächtig als Jesus, und nichts kittet sie nach innen so fest zusammen als Jesus. Dadurch, daß jeder von ihnen für seine Person das rechte Verhältnis zu Jesu Person bekam (Pfingsten!), dadurch war die goldene Fassung um sie gelegt, daß sie erhalten wurden. Aber zugleich machte Jesus in ihnen sie untereinander verwandt, daß, was einer von ihnen von Jesu Art an sich trug, ihn den anderen liebenswert erscheinen ließ. Warum sollte dasselbe nicht auch bei uns möglich sein? Nur unsere Sünde und unsere persönliche ungebrochene Eigenart stört solche Zusammengebundenheit. Wenn aber die Welt zu einem scharfen Angriff auf uns losstürmt, nicht wahr, dann lassen wir alles, was uns trennt, fallen und schließen uns fest zusammen gegen den gemeinsamen Feind. Je näher dem Ende und der Wiederkunft Jesu, desto besser muß das werden.

Der du einst so für deine Jünger gebetet hast, Herr Jesu, decke auch uns mit dem Schild deiner Fürbitte. Reinige deine Kinder und schließ du sie zusammen, daß die Welt erkenne, du habest heute noch die Deinen in deiner Hand. Amen.

„Ich bitte nicht, daß du sie von der Welt nehmest, sondern daß du sie bewahrest vor dem Übel.“
Joh. 17, 1:

Unser leidensscheues Herz hätte es freilich lieber gehabt, daß der Herr den Vater gebeten hätte: Nimm meine Jünger von der Welt weg, wo sie doch nur Angst und Anfechtung haben! Aber was wäre dann aus der inneren Entwicklung der Jünger selbst geworden und was aus ihrem Lebenszweck, der Weltmission? Darum ist es nötig, daß sie in der Welt bleiben. Als Trost waltet Jesu Fürbitte über ihnen: „Daß du sie bewahrest vor dem Übel.“ Vergleichen wir das Kleinste mit dem Größten! Auch unser Leben hat diese zwei Linien einzuschlagen, seit wir lebendig im Glauben wurden: es muß aus jedem doch noch etwas werden, damit das Bild Jesu an ihm offenbar werden könne, und es muß doch jeder sein noch so bescheidenes Stückchen Arbeit fürs Reich Gottes tun. Darum nimmt der Herr nicht jeden gestern gläubig gewordenen flugs in die Seligkeit hinein, sondern läßt ihn hier auf Erden sein Brot noch manchmal mit Tränen und Seufzen essen. Vor seelenmörderischem Übel will er uns bewahren, vor der geistigen Pest, die im Finstern schleicht - aber das Weltleid kriegen wir alle ebensogut wie die Arbeit an dieser Welt. Was sollte sonst aus uns beiden werden, der Welt und uns?

Ach, Herr Jesus, laß uns nicht allein in dem täglichen Arbeiten und Seufzen. Sei du die Sonne unserer Tage, der Trost in unserer Traurigkeit und der Friede unseres Abends. Wir schauen auf dich. Gib uns deine Freundlichkeit zu spüren! Amen.

„Sie sind nicht von der Welt, gleich wie ich auch nicht von der Welt bin.“
Joh. 17, 16

Daß Jesus nicht von der Welt war, steht außer allem Zweifel. Was aber sollen wir zu der Gleichung sagen, die er zieht, daß seine Jünger in diesem Punkt auch ihm gleichen? Das kann nur bedeuten, daß das eine Stück neuen Lebens, das sie durch seinen Geist empfangen haben, nicht von der Welt stammt, sondern aus ihm. Sonst ist ihr äußeres Leben nicht viel anders, als ordentliche, ehrbare Weltmenschen es auch unter dem Einfluß christlicher Zucht und Sitte haben können. Der Hauptunterschied, das total Neue, steckt unsichtbar (unser Leben ist verborgen mit Christo) in ihrem Herzen und Willen, in ihrer Gesinnung und ihren Trieben, in ihrem Hassen und Lieben. Jeder muß wohl für sich selbst ganz überzeugt sein, daß er diesen wesentlichen Unterschied von der Welt in sich trage, aber über andere erlaube er sich nicht schnell ein Urteil. Mancher ist in christlicher Luft erwachsen und hat sich so die Formen der Gläubigen angewöhnt, daß man ihn auf den ersten Blick für „nicht von der Welt“ halten muß. Wenn man aber seine Stellung zum Geld, sein Benehmen gegen die Nächsten, seine Gesinnung betreffs Eitelkeit und Empfindlichkeit kennen lernt, wird man sagen müssen, es sei doch Welt - nur an manchen Stellen fromm angestrichene Welt!

Herr, erlöse uns von allem frommen Scheine, dem das innere Wesen und die Wahrheit der Gesinnung nicht entspricht. Hilf uns zum vollen Siege der Wahrheit in allen Stücken, damit man an uns sehe, was wir sind, nämlich dein Eigentum. Amen.

„Heilige sie in deiner Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit.“
Joh. 17, 17

Heiligen heißt nicht nur reinigen von dem Bösen, sondern auch aussondern und bestimmen zum Dienst Gottes. Offenbar ist in unserem Text als Mittel, wodurch der Vater Jesu Jünger zu seinem Dienste reinigen und aussondern möchte, das Wort der Wahrheit gemeint. Gottes Wort unterscheidet deutlich zwischen Recht und Unrecht, Rein und Unrein und bezeugt sich am Gewissen als ein unbestechlicher Richter der Gedanken und Triebe des Herzens. Das kann unserer Trägheit und Selbstsucht, unsern unedlen Unterströmungen und eigensinnigen Nebentönen sehr unbequem werden. Aber der wirkliche Dienst Gottes verträgt keine innere Halbheit und Gebundenheit an andere Zwecke. Entweder muß man dem haarscharfen Zeugnis des Wortes im Gewissen nachgeben und jede Verbindung mit solchen Gedanken und Wünschen fahren lassen, oder man muß sich aussperren lassen vom himmlischen Arbeitgeber. Das ist ein Fluch in manchen christlichen Arbeiten, daß die Leute, die der Herr eigentlich als untreu beiseite geschoben hat, so daß er nichts mehr durch sie wirkt, ruhig in ihrem Getue fortfahren! Mit solchen innerlich unwahrhaftigen Arbeitern kann aber der Wahrhaftige sein Werk nicht treiben; sie lärmen weiter, aber es geschieht nichts.

Davor behüte uns, lieber himmlischer Vater! Lehre uns auf das Zeugnis deines Geistes im Gewissen achten, damit wir innerlich deinem Wort gehorsam werden, ehe wir Hand anlegen, um andere zu bessern. Amen.

„Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden.“
Joh. 17, 20

Da haben wir eine Fürbitte Jesu für uns, weil wir ja auch zu denen gehören, die durch das Wort der Apostel an ihn gläubig geworden sind. Wenn ein Mensch, den wir lieben und von dessen Glaubensstellung wir überzeugt sind, uns versichert, daß er für uns betet, so kann in dunklen Stunden und schweren Versuchungen die bloße Erinnerung an solche Fürbitte uns eine gewaltige Stütze und Hilfe sein. Oder man könnte auch sagen, daß in solcher Erinnerung uns die Kraft und die Erhörung der Fürbitte spürbar wird. Sollte das nicht in noch ganz anderer Weise der Fall sein, wenn wir uns des Fürsprechers beim Vater erinnern, der uns vertritt mit unaussprechlichem Seufzen! Mir ist wiederholt in besonderen Zeiten geistlicher Not diese Steigerung lebendig geworden; zuerst fiel mir ein, wie dieser und jener meiner Freunde für mich bete, und das fing an, mich aus meiner verzagten Stimmung herauszuheben; im nächsten Augenblick dachte ich an Jesu Fürbitte, und da war das stärkende Vertrauen wieder hergestellt, und der nächste und letzte Absatz war dann das Bewußtsein seiner Nähe. Die Dankbarkeit für das neue Erfahren der alten Treue Gottes strahlte über meinem Erdentag.

Herr Jesus, ich danke dir, daß du mich nicht hast versinken lassen, wenn ich in der größten Schwachheit meines Glaubens steckte. Stärke mir durch solche Erfahrungen den Glauben und bringe mich endlich heim ins Land ohne Versuchungen. Amen.

„auf daß sie alle eins seien“
Joh. 17, 21

Wenn der Herr im hohenpriesterlichen Gebet fünfmal diese Bitte seinem Vater vorträgt, und das laut vor seinen Jüngern, dann ist's klar, daß es ihm ein wichtiges Anliegen war und eine ernste Mahnung an die Jünger. Das spüren wir alle, so wahr wir seines Leibes Glieder sind, und wir kennen auch in der Vorstellung eine allgemeine christliche Kirche. Wir sind auch, wenn es gilt, gegen das freche Antichristentum unserer Tage einig, die Hauptsätze unseres christlichen Glaubens zu verteidigen. Das ist aber auch alles. Weiter kommen wir jetzt eben noch nicht. Bildung, theologische, kirchliche, persönliche Auffassung, sowie die praktischen Folgen beim Zusammenkommen mit Brüdern anderer Konfessionen schaffen für ein wahres, christliches Gewissen so verschiedene Sehfelder, daß ein jeder ehrlich sagen muß: Bis hierher kann ich nachgeben, aber jedes Wort weiter ist mir Sünde. Das soll uns aber in der persönlichen Bruderliebe und der gegenseitigen Achtung und geeintem Kampf gegen den gemeinsamen Feind nicht stören. Der Herr Jesu wird durch die Entwicklung der Geschichte in der Endzeit selbst die Einigung machen. Dann wird sie echt und haltbar sein für die Ewigkeit.

Herr, tue aus unsern brüderlichen Beziehungen alle Sünde fort, allen Neid, alle Mißachtung, alle Lieblosigkeit, alle Rechthaberei. Lehre uns lieben, wie du geliebt hast und deinen Sinn pflegen untereinander. Amen.

„Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, daß sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast.“
Joh. 17, 24

Hat uns der Heilige Geist innerlich das Zeugnis gegeben, daß das wirklich uns gilt: „die du mir gegeben hast“, dann soll das „Wo“ des Heilands auch unser „Wo“ werden. Seine Bitte klingt an dieser Stelle so eigentümlich befehlend: „Ich will“, daß wir den Eindruck bekommen, als bitte er jetzt nicht mehr, sondern zeige nur an, was er beschlossen hat. Und diese feste Tatsache bezieht sich auf unser Glück, daß wir nahen, lebendigen Anteil bekommen sollen an Jesu ewiger Herrlichkeit. Wir können uns das nicht vorstellen, unsere stärkste Phantasie hat keine Farben, das Bild zu malen, und doch können wir uns darauf freuen, weil wir Zutrauen zu Jesus haben und wissen, was wir an ihm haben. Der uns hier auf Erden so ob über Bitten und Verstehen geholfen und bisweilen so unsäglich wohlgetan hat - der kann sicherlich uns in einem andern Leibe, einer andern Umgebung, wo wir selbst ohne Sünde sein werden, noch ganz unaussprechliche Freuden bereiten. Hier auf Erden seine Schmach mit ihm geteilt - einst seine Herrlichkeit mit ihm zusammen genossen! Das eine ist kurz und zeitlich, und wenn man's recht bedenkt, gar nicht so schlimm, und das andere ist ewig und über alles Träumen hinaus herrlich!

Auch wenn du, Herr Jesus, uns keine solche Herrlichkeit verheißen hättest - wir können von dir nicht lassen. Und wenn es nur dein Wohlgefallen wäre, das ewig auf uns ruht, dann folgten wir dir unser Leben lang. Gelobt sei dein Name! Amen.

Kapitel 18

„Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?“
Joh. 18, 11

Das war keine Frage Jesu, die Petrus ihm beantworten helfen sollte, sondern ein Vorwurf; er hatte ja schon längst den Entschluß gefaßt und soeben erst den letzten Kampf darüber mit der Angst bestanden. Es hatte sein Gehorsam gegen den Vater über die stärksten menschlichen Triebe gesiegt. Dieser Gehorsam soll aber nun nicht nur als ein starkes Vorbild auf uns wirken: nein, er hat Kräfte ausgelöst, die uns angeboten werden, wenn wir mit zitternder Hand den Kelch nehmen, den uns Gottes Führung hinhält. Bei dem einen kann es auch eine Leidensaufgabe sein; beim andern ein Verhältnis voller Last und Not, das jeder andere, der nicht Gottes gehorsames Kind ist, von sich geworfen hätte; oder aber es ist eine schwere Arbeitsstellung, zu der uns weder Geldgewinn noch Ehrgeiz treibt, sondern die innere Überzeugung, nur darin Gottes Willen ganz zu tun. Wappne dich da gegen das falsche Mitleid deiner Freunde. Er beschwört die Gefahr herauf, daß du anfängst, Mitleid mit dir selbst zu haben und dich wegen deiner Treue bewunderst. Dann hast du deinen Lohn dahin! Weil ich aus Liebe sein Kind bleiben muß, und er mein Vater, darum her mit dem Kelch. Kein Wort weiter! Wer mich darin stören will, ist mein schlimmster Feind.

Lieber Vater im Himmel. Ich traue dir zu, daß du mir nicht mehr auflegst als ich brauche. Stärke mich, dein schwaches Kind, daß ich in den schweren Tagen einen Blick in dein Herz voll Liebe tun darf. Dann geht's. Amen.

Kapitel 20

„schneller denn Petrus“
Joh. 20, 4

Das Johannesevangelium enthält eine Menge solcher kleinen, anscheinend nebensächlichen Striche, die für die Abfassung eines Augenzeugen sprechen. Schneller als Petrus lief Johannes zum Grabe. Warum? Petrus trug die Last eines wehen, wunden Gewissens, und Johannes beflügelte die reine Liebe den Fuß. Ähnlich dürfte es bei Jesu Wiederkunft wieder werden. Wer unter seinen Gläubigen ein von Sorgen oder Weltgeist beschwertes Herz hat, dürfte an der Engbrüstigkeit des Petrus leiden, wenn es gilt, dem entgegenzueilen, der in strahlender Herrlichkeit wiederkommt. Die geheimste Untreue dürfte dann böse weh tun. Wer dagegen nach diesem Jesus schon mit der ganzen Kraft seiner Seele sich gesehnt und für solches Wiedersehen gerüstet hat, dürfte schneller als Petrus laufen! Wollen wir keinen Tag abschließen, ohne den Bücherabschluß zu machen: wie stehe ich zu Jesu? Wenn heute nacht die himmlischen Alarmsignale tönen und alle Welt aufstehen muß, um ihm entgegenzugehen, wie wird's dann mit meiner Freudigkeit bestellt sein? Herz, mein Herz, erkenne dich selbst und halte deine Lampe bereit, damit dich die Zukunft Jesu nicht erschrecke!

Rüste du selbst, heiliger, kommender Heiland, deine Brautgemeinde, daß sie ohne Schwärmerei und Schuld sich freudig bereit halte auf die Stunde, die jetzt noch niemand kennt als der Vater. Herr, hilf uns zum schnellen Laufen! Amen.

„Friede sei mit euch!“
Joh. 20, 21

Frieden ist eigentlich erst da, wo die Harmonie eines Wesens sowohl mit seiner Idee, als seiner Umgebung vollkommen eingetreten ist. „Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll, und bis er's nicht erreicht, wird nicht sein Friede voll.“ Als Jesus nach seiner Auferstehung zu seinen Jüngern kam, war sein Friede voll, oder er war so voll von diesem neuen, dauernden Friedenszustand, daß von ihm nur Friede ausgehen konnte. - Das macht uns oft den Abendsegen aus, daß er ähnlich zu uns tritt und Frieden spendet. Was Jesus bringt, ist Harmonie mit unserer Bestimmung. Es ist, als ob er sagte: was dir heute gefehlt hat an der Erreichung deines Zieles - ich will es vergeben und dich in meine Gnade gehüllt hintragen ans Ziel. Wenn du nur rückhaltlos mit mir zusammenstimmst in Gericht und Gnade, dann decke ich den Zipfel meines Friedensmantels über dich. Dann kannst du ruhig schlafen und ruhig am nächsten Morgen zu neuer Arbeit erwachen. Ich bin dir nah, ich bin dein Friede, und du sollst das glauben und haben und dessen froh sein.

Auf solche, deine Zusage, Herr Jesu, will ich trauen. Es soll mir heute Abend ganz gewiß sein, daß du mich birgst in deinem Gezelt und daß ich unter dem Schatten deiner Flügel ganz in Frieden ruhen kann. Denn die mir zugekehrte Seite deiner Flügel trieft von Gnade, erquickend wie der Nachttau auf dem Rasen. Amen.

„Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“
Joh. 20, 23

Welch ein herrliches Vorrecht, wenn man's kindlich-unmittelbar versteht und ausübt. Seit wir selbst Vergebung unserer Sünden erfahren, stehen wir in einem himmlischen Versöhnungsstrom drin. Jetzt wissen wir, daß wir es ringsum nur mit Leuten zu tun haben, denen eigentlich ihre Sünden durch Jesu Werk schon gesühnt sind: sie wissen es nur nicht. Da sollen wir ihnen durch die Art, wie wir ihnen vergeben, was sie uns angetan haben, Lust machen, sich auch das Größere, was sie Gott schuldig sind, vergeben zu lassen. An uns sollen sie die priesterliche Vermittlung spüren: diese Menschen können wahrhaft verzeihen. Lassen sich die Leute aber durch uns nicht helfen, so gibt's keine andere Hilfe für sie. Unvergeben - d. h. weil sie die Vergebung nicht nehmen - bleiben ihre Sünden hier auf Erden und droben vor Gott als ihr Ankläger stehen. Das wird zu einem furchtbaren Ernst für sie und, weil sie das jetzt gar nicht glauben und begreifen, für uns, daß wir unsere Beziehungen zu ihnen in solchem Licht der Ewigkeit ansehen. Wie muß da alles unpriesterliche Kleinliche, alle persönliche Empfindlichkeit, alles alberne Gekränktsein verwehen, wenn wir als Gottes Botschafter mit ihnen zu handeln haben in Gottes Namen.

Herr Jesu, da bitten wir dich, leg uns deine Priesterbinde täglich um die Stirne; fülle uns mit Weisheit und Liebe im Umgang mit den Ungläubigen und segne jedes Wort von Gnade, das wir in deinem Auftrag sagen. Amen.

Kapitel 21

„Als sie nun austraten auf das Land, sahen sie Kohlen gelegt“
Joh. 21, 9

Wie war dir da zumute, lieber Petrus? Zwischen zwei Kohlenfeuern! Das eine im Palasthof zu Jerusalem vor wenig Wochen, wo er dreimal seinen Herrn verleugnet hatte - das andere am See Genezareth, wo er im Anblick dieses Kohlenfeuers dreimal gefragt wird: „Simon, Jona, hast du mich lieb?“ Gottes Größe in Kleinigkeiten unseres Lebens! Kleine begleitende Umstände können Gottes Winke sein, die uns bei ihrer Wiederholung auf einmal im innersten Herzen erschüttern. Hast du auch solche Kohlenfeuer-Erinnerungen, an denen dein Herz schmilzt, daß du weich und beschämt sagen mußt: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, daß ich dich lieb habe? Die andern wärmten am kalten Morgen die vom Fischen nassen Hände am Kohlenfeuer; nur Petrus gingen die Augen über. Andern sagt ein Name, ein Ort, eine Gelegenheit nichts; uns schwillt die Bewegung aus dem Herzen herauf: Herr, du hast an diese Kleinigkeiten gedacht - wie groß bist du! - Dann denke weiter: So ihr nicht im Geringsten treu seid, wie soll man euch Größeres anvertrauen?

Herr Jesu, meine Seele lebt von deinem Anrühren. Ich denke mancher kleinen und doch so großen Stunden, da du dich mühtest, mir deine Herrlichkeit zu offenbaren. Wer bin ich, daß du dir solche Mühe gibst um mich? Ich will dich lieben, meine Stärke! Amen.

„Hast du mich lieber, denn mich diese haben ?“
Joh. 21, 15

Wer aus diesem Wort Jesu an Petrus die Berechtigung ableiten will, seinen religiösen Besitzstand mit dem der Brüder zu vergleichen, um herauszufinden, wer mehr Frömmigkeit, mehr Jesusliebe, mehr Nähe zum Heiland hat, der irrt sehr und hat Jesu Frage nicht verstanden. Das war ja vor dem Fall Petri Fehler gewesen, daß er sich über alle andern erhoben hatte; darum lag jetzt in Jesu Wort eine Strafe, eine Beschämung: „Jetzt wirst du wohl nicht mehr so denken!“ Darum kann der Jünger auch nicht auf diese Frage antworten, sondern sagt ganz bescheiden: „Du weißt, daß ich dich lieb habe.“ Ach, wenn wir doch das ungeistliche Vergleichen und Messen der andern ohne eine so tiefe Demütigung wie Petrus aufgeben wollten! Wir sind keine Herzenskündiger; wir sehen beim andern auch in geistlichen Dingen nur das, was vor Augen ist und kennen die geheimen Zuflüsse und die verborgenen Antriebe des andern nicht. Der Herr allein weiß, wie er seine Leute einzuschätzen hat. Der Hauptunterschied zwischen uns ist nicht das Maß unserer Liebe, sondern die Völligkeit der Hingabe und die Energie, damit uns Christus ergreifen kann.

Darum, Herr Jesus, ziehe meinen Blick von den andern ab auf dich. Von dir kann ich nehmen, was mir not tut. An dir kann ich lernen, wie ich sein soll. An dir kann ich mich nicht satt sehen. Erquicke meine Seele durch dich selbst! Amen.

„wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein andrer wird dich gürten und führen, wo du nicht hin willst.“
Joh. 21,18

Die Selbständigkeit der Jugend - was war das für ein zweifelhaftes Glück! Wie stark kamen wir uns vor und wie frei. Wie wollten wir mit dem Kopf durch die Wand Und wie viel törichte, vergebliche Anstrengung und wie viel Herzeleid und wie viel Enttäuschungen trug das alles ein. Nachher tratst du, Jesus, in unser Leben ein, und nun gab es noch lange keine völlige Aufgabe der falschen Selbständigkeit. Stückweise ließen wir uns von dir leiten und wurden dabei gesegnet, und dann brachten wir es doch wieder fertig, deinen Armen zu entschlüpfen und auf eigene Faust Törichtes zu unternehmen. Du aber hattest Geduld und vergabst einmal über das andere und zogst dann die Seile fester und führtest uns sicher. Je älter wir werden, desto ängstlicher werden wir gegen alle Abenteuer, auch fromm scheinende, die hin und her Mode sind, und desto sorgsamer achten wir auf deine Winke.

Behalte uns in deiner Pflege, behalt uns, Herr, in deiner Zucht. Kommt es jetzt auch vor, daß du die Seile ganz fallen lässest und keine Gewalt bei der Führung anwendest, wir bleiben doch an dir hängen und wollen keinen Schritt in eigner Weisheit tun. Laß die geheime Anziehungskraft deiner Liebe den Gürtel sein, damit du uns alte, unselbständige Leute leise, lose führst, wir wollen uns von deinen Augen leiten lassen, bis wir nichts mehr können, als uns von deinen Armen tragen lassen. Amen.

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