Gerhard, Johann - Tägliche Uebung der Gottseligkeit – Das zweite Capitel.

Gerhard, Johann - Tägliche Uebung der Gottseligkeit – Das zweite Capitel.

Erinnerung an die Sünden der Jugend.

Heiliger Gott, gerechter Richter, gedenke nicht der Fehltritte meiner Jugend, und sey nicht mehr eingedenk meiner vergangenen Sünden. Wie viele vergiftete Früchte hat die böse Wurzel der Lust, die an mir klebet, in meiner Kindheit hervorgebracht! Wie vielfältige wirkliche Sünden hat das Uebel der Erbsünde ausgeboren! Die Gedanken meines Herzens sind vom ersten Knabenalter, ja, von zarter Kindheit an böse und verkehrt. Denn da ich einen Tag alt war, war ich vor dir keineswegs unschuldig. So viel Tage ich gelebt habe, so viel Schulden lasten auf mir, ja noch weit mehr und zahlreichere, da selbst der Gerechte an einem Tage siebenmal fällt. Wenn aber der Gerechte des Tages siebenmal fällt, so bin ich Verlorner und Ungerechter ohne Zweifel siebenzigmal siebenmal gefallen. Ich nahm an Alter zu: es wuchs das Gewebe der Sünden. So viel dem Leben durch deine Wohlthat zugelegt wurde, so viel vermehrte sich die Last der Sünden durch die Lasterhaftigkeit meiner verderbten Natur. Ich prüfe mein vergangenes Leben, und was habe ich anders vor Augen, als ein ganz schändliches und häßliches Sündenkleid? Ich richte meine Augen nach dem Lichte deiner Gebote, und was finde ich anders im Verlauf meiner Jahre, als Finsterniß und Blindheit? Jene zarte Blüthe meiner Jugend sollte mit Tugenden gekrönt und Gott zum süßen Geruch dargebracht werden. Das Beste von meiner Lebenszeit gebührte ja dem besten Schöpfer der Natur. Aber die abscheuliche Häßlichkeit der Sünden hat jene meine Lebensblüthe auf's Schändlichste besudelt; der stinkende Koth der Uebertretungen hat sie auf wunderbare und jämmerliche Weise befleckt. Das erste Lebensalter des Menschen ist unter allen übrigen am geschicktesten zum Dienste Gottes; aber einen guten Theil desselben habe ich zum Dienste des Teufels verwendet. Viele Sünden sind mir im Gedächtniß, die ich in der zügellosen Frechheit meiner Jugend begangen habe, aber noch weit mehr sind meinem Gedächtniß entschwunden. Wer kennt seine Fehler? Reinige deinen Knecht von den verborgenen Fehlern! Für diese Fehltritte meiner Jugend biete ich dir, heiliger Vater, den allerheiligsten Gehorsam deines Sohnes dar, und seine vollkommenste Unschuld, der dir gehorsam ward bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Als zwölfjähriger Knabe hat er dir einen heiligen Gehorsam geleistet, und deinen Willen mit der größten Bereitwilligkeit zu thun begonnen. Diesen Gehorsam, gerechter Richter, biete ich dir dar als Preis und Genugthuung für den vielfältigen Ungehorsam meiner Jugend! Amen.

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