Frommel, Max - Am Sonntage Misericordias Domini.
Als einst die Pharisäer und Sadduzäer von Jesu ein Zeichen. vom Himmel forderten, antwortete er ihnen: „Des Abends sprecht ihr: es wird ein schöner Tag werden, denn der Himmel ist rot; und des Morgens sprecht ihr: es wird heute Ungewitter sein; denn der Himmel ist rot und trübe. Ihr Heuchler, des Himmels Gestalt könnt ihr beurteilen; könnt ihr denn auch nicht die Zeichen. dieser Zeit beurteilen?“ Wie das Reich der Natur draußen seine Zeichen und Zeiten hat, so hat auch das Reich Gottes seine Zeichen und Zeiten, auf welche ein Christ merken soll. Der Herr will, dass wir die Geister prüfen und die Zeit beurteilen und einem Jeden gilt wenigstens der Ruf: „Erkenne die Zeit, darin du heimgesucht bist.“ Nun stehen wohl die Menschen dieser Zeit und sprechen: es ist rot am Himmel, aber sie fragen unter einander: wird's Abendrot oder Morgenrot sein? Die Einen sind fröhlich und sagen: es wird ein schöner Tag kommen; die Andern schütteln den Kopf und sprechen: es wird ein Ungewitter sein. Wir aber wollen die Schrift fragen, und Johannes soll als Wächter auf dem Wartturme der Kirche uns die Stunde ansagen an der Weltenuhr Gottes, wenn er schreibt:
1. Joh. 2, 18.
Kinder, es ist die letzte Stunde; und wie ihr gehört habt, dass der Widerchrist kommt und nun sind viele Widerchristen geworden: daher erkennen wir, dass die letzte Stunde ist.
Lasst uns hieraus beurteilen:
Die Zeichen der Zeit.
Das Zifferblatt der Heiligen Schrift,
den Zeiger des wachsenden Antichristentums,
den aufhaltenden Finger des Christentums.
I.
Die große Weltenuhr Gottes ist die Zeit, und ihr Zifferblatt ist die Heilige Schrift. In ihrer Geschichte und Weissagung stehen. die Stunden verzeichnet, wie sie nach einander gekommen sind und noch kommen sollen. Die Zeiger an der Uhr sind die Zeichen der Zeit. Wenn der Zeiger auf die Stundenziffer kommt, so schlägt die Uhr: wenn die Zeichen der Zeit mit der Weissagung der Schrift übereinstimmen, so zeigt der laut hintönende Glockenschlag, dass eine Stunde im Reich Gottes erfüllt ist. Die Weltgeschichte ist das wunderbare Ineinander der vielen Räder, und das Gewicht an der Uhr ist Gottes Allmacht, durch welche er in allen Ereignissen wirkt und zu Stand und Wesen bringt, was er sich vorgenommen hat. Langsam scheint der Pendel zu gehen, weil Gott es Alles fein tut zu seiner Zeit“ und es noch oft, wie zu Kana, heißt: Meine Stunde ist noch nicht gekommen“, aber richtig geht die Uhr: auf die Minute wird sie schlagen, wenn die Zeit erfüllt ist.
Was steht nun auf Gottes Uhr zu lesen? Johannes antwortet: „Kinder, es ist die letzte Stunde.“ Das ist aber die Meinung dieses gewaltigen Wächterrufes: Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn; als Christus das Sühnopfer für die Menschheit gebracht hatte, rief er: es ist vollbracht; seit Christus auferstanden und gen Himmel gefahren, sitzt er zur Rechten Gottes und vertritt uns; seit der Heilige Geist ausgegossen ist, geht der Schall der Predigt hinaus in alle Lande und nur Eins ist im Rückstande: die Wiederkunft Christi zum Gericht. Zwischen Pfingsten und dem jüngsten Tage hat nichts zu geschehen von Seiten Gottes, was zu unserm Heile nötig wäre. Darum ist es gleichsam nur Eine Stunde zwischen Pfingsten und dem jüngsten Tag. Dass diese Eine Stunde nun schon 1880 Jahre gedauert hat, ändert nichts an der Wahrheit der Sache. Sind nicht tausend Jahre vor dem Herrn wie Ein Tag und Ein Tag wie tausend Jahre? Wenn Gott diese Eine letzte Stunde so lange dauern lässt, damit Viele durch das Evangelium selig werden, so ist es seine erbarmende Gnade, die gleichsam den Stundenzeiger aufhält, damit sein Haus voll werde. Petrus bezeugt dies ausdrücklich in den Worten: „der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es Etliche für einen Verzug achten, sondern er hat Geduld mit uns und will nicht, dass Jemand verloren werde, sondern dass sich Jedermann zur Buße kehre. Diese Geduld unsers Herrn achtet für eure Seligkeit.“ So sahen die Apostel die Zeit an, und darum ergeht von ihnen allen der Wächterruf: „es ist nahe gekommen das Ende aller Dinge der Richter ist vor der Tür der Herr ist nahe.“
Ehe aber Christus wiederkommt in seiner Herrlichkeit, soll der Antichrist kommen, so steht auf dem Zifferblatt der Schrift, so heißt es auch in unserm Text: „ihr habt gehört, dass der Widerchrist kommt.“ Es ist vor Allen Paulus, der die Stundenziffer klar gezeichnet hat für seine Thessalonicher, welche die Erscheinung Christi als unmittelbar bevorstehend ansahen in schwärmerischer Weise. Er sagt, dass zwar schon in seinen Tagen „das Geheimnis der Bosheit“ sich rege, aber es seien noch aufhaltende Mächte da, welche das volle Offenbarwerden hinderten. Paulus, welcher „das kündlich große Geheimnis der Gerechtigkeit“ kennt: Gott ist offenbart im Fleisch, und das mit Einem Wort Christus heißt, er kennt auch ein Geheimnis der Bosheit, welches mit Einem Wort Antichristus heißt. Vor der Erscheinung Christi zum Gericht sieht er den Abfall kommen, und den Abfall sieht er sich vollenden in dem einen persönlichen Antichristen, den er mit deutlichen Zügen malt. Der Zukunft“ Christi geht die Zukunft“ des Antichrists vorher, in welchem sich die ganze Auflehnung gegen Christus und die ganze Nachäffung Christi persönlich zusammenfassen wird, wie es denn ein Gesetz der Weltgeschichte ist, dass jeder Zeitgeist seinen Fürsten und Propheten hat und in hervorragender Persönlichkeit seinen Ausdruck und Vertreter findet, wie die alten Weltreiche in den persönlichen Weltherrschern ihren Ausdruck fanden. Paulus sieht in der Zukunft den Gegensatz gegen Christus sich vollenden und ausreifen in der dunkelsten Gestalt des persönlichen Antichrists, als dem Endbilde der dunklen Kainsgestalt, die den frommen Bruder erschlug, als dem Endbilde der dunkleren Judasgestalt, die den Herrn der Herrlichkeit verriet, und wie am Anfang der Geschichte der Altar Abels steht, dessen Blut um Rache schrie, und in der Fülle der Zeiten der Altar des Kreuzes steht, von welchem das Blut des Sohnes Gottes um Vergebung schreit für Alle, die sich retten lassen, und nur die, die ihn verwerfen, unstet und flüchtig macht mit dem Kainszeichen, dem Zeichen des Antichristen an der Stirne, so wird auch am Ende der Tage ein Altar stehen, nämlich der Altar der Zeugen Jesu, bespritzt mit ihrem Blute.
Auf diese Weissagung bezieht sich Johannes, wenn er sagt: „ihr habt gehört, dass der Widerchrist kommt.“ Aber wie Paulus bereits sieht, wie das Geheimnis der Bosheit sich regt zu seiner Zeit, so sieht Johannes bereits jene Weissagung sich erfüllen, weil er wahrnimmt, „dass viele Widerchristen geworden sind.“ So stimmen Paulus und Johannes trefflich zusammen. Paulus wendet sich gegen eine schwärmerische Überspannung der nahen Wiederkunft Christi und weissagt, dass zuvor der persönliche Antichrist erscheinen. müsse; Johannes wendet sich gegen die träge Abspannung, wie der Herr sie geißelt in dem Gleichnis jenes Knechts, der da spricht: mein Herr verzieht und kommt noch lange nicht.“ Johannes sieht die Anfänge und Gestalten des Antichristentums bereits vorhanden. in den vielen Widerchristen, so dass Christus zu jeder Zeit kommen kann, weil der Antichrist zu jeder Zeit ihm vorangehen kann. So sagt derselbe Johannes von den Leugnern der Gottheit Christi: „das ist der Geist des Antichrists, von welchem ihr gehört habt, dass er kommen werde, und ist jetzt schon in der Welt.“ Darum kann er sagen: Kinder, es ist die letzte Stunde auf dem Zifferblatt der Zeit.
II.
Der Zeiger an der Uhr Gottes, haben wir gesagt, sind die Begebenheiten, die der Schrift nachrücken, die Zeichen der Zeit, die die Weissagung erfüllen. Messen wir denn unsre Zeit an dem Maßstabe des Heiligtums. Denn nicht von Gestalten der Zukunft wollen wir weissagen einem Geschlecht, das wenig von der Sehnsucht der Thessalonicher kennt, sondern die Gegenwart wollen wir beurteilen und die Zeichen unsrer Zeit verstehen. Es sind aber besonders zwei Gestaltungen in unsrer Zeit, welche, scheinbar noch im Kampfe mit einander, doch beide das dunkle Gepräge des Antichristentums tragen: es ist der Überglaube und der Unglaube, das Papsttum und das Menschentum. Ihr wisst, dass unsre Väter in der Zeit der Reformation das Papsttum für das Antichristentum hielten und dass unsre Bekenntnisse geradezu den Papst zu Rom den von der Schrift geweissagten Antichrist nennen. Es ist viel gelächelt worden über diese altertümliche Vorstellung, und viele Christen hatten angefangen, sich ein ganz andres Bild vom Antichrist zu machen, neben welchem der Papst sich fast wie ein frommer Heiliger ausnahm. Und doch ist es denn nicht wahr, dass das Papsttum antichristliches Gepräge und Züge des Bildes an sich trägt, das Paulus entwirft? Lehnt sich der Papst doch auf wider die Schrift und behauptet, er allein sei der rechtmäßige Ausleger! Er erhebt sich über das, was Gott heißt“, indem er den Herrn Christus in seiner Stiftung korrigiert, also dass, wenn Christus bei der Einsetzung des Abendmahles sagt: „Trinket alle daraus“, der Papst dagegen spricht: Trinket ja nicht alle daraus. Er erhöht sich über „Alles, was anbetungswürdig heißt“, wenn er sich als der allerheiligste Vater die Füße küssen lässt. Er hat sich hineingesetzt in den Tempel Gottes als dessen Stellvertreter auf Erden und gibt vor, er sei unfehlbar. Wenn er redet, so schreien seine Bischöfe, Priester und Anhänger: „das ist nicht eines Menschen Stimme, sondern die Stimme Gottes.“ Und dieser Kaiphas, der sich an die Stelle Christi und den falschen Glauben, den Überglauben an die Stelle des schriftgemäßen Glaubens setzt, hat die Stirn, Flüche um Flüche über alle Christen zu schleudern, die diesen reißenden Wolf im heiligen Schafpelz nicht für den guten Hirten der ganzen Christenheit erkennen wollen. Das ist Gräuel an heiliger Stätte!“
Wie nun das Papsttum die antichristische Gestalt des Aberglaubens, des falschen Glaubens ist, so ist das Menschentum die antichristische Gestalt des Unglaubens. Der Mensch ist Gott, die Welt ist Gott“, das ist das Bekenntnis des Unglaubens, darin die Lüge der Schlange neu wird: „ihr werdet sein wie Gott.“ Den Menschen abzulösen von dem persönlichen, lebendigen Gott und ihn ganz auf sich selbst zu stellen, das ist so recht eigentlich der himmelstürmende Versuch unsrer Zeit. Wir wollen nicht, dass Dieser über uns herrsche“, das ist der Ruf, der in unsern Tagen laut wird auf allen Gassen, in der Kirche, im Staat und in der Schule. Diese Weisheit langt aber schließlich bei der Entmenschung des Menschen an, und all dies Rühmen von Humanität und Bildung endet mit der gemeinverständlichen Übersetzung: „Lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot.“ Darum beschreibt auch Christus die Zeit vor seiner Wiederkunft als eine Zeit wie in den Tagen der Sündflut und Sodoms: „sie aßen und tranken, sie bauten und pflanzten, sie kauften und verkauften, sie freiten und ließen sich freien. Also wird es auch sein in den Tagen des Menschensohnes.“ Die Heilige Schrift in ihrer tiefsinnigen Bildersprache zeichnet den Antichristen, den Gegensatz gegen Christum in der Welt, an mehr als Einem Orte unter dem Bilde des Tiers. Tier das ist der entgöttlichte, der entgeistete, der entmenschte Mensch, Tier das ist das Menschentum ohne Christentum, das Menschentum im Gegensatz zum Christentum! Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden“ und sind bereits angelangt bei jenem Pavianismus, der den Menschen zum Sprössling des Affen macht. Die große Revolution vor hundert Jahren begann mit der Proklamierung des Menschentums und der Menschenrechte, sie fuhr fort mit der Abschaffung der Obrigkeit und des Gottesdienstes, sie stieg bis zur öffentlichen Absetzung und Verwerfung Christi und Gottes und endete mit den Strömen Bluts, nach welchen das entfesselte Tier im Menschen lechzte. Denn wer dem Menschen den lebendigen, persönlichen Gott nimmt, der nimmt ihm seine Krone, setzt ihn herunter zum Naturprodukt und macht ihn schließlich zum Tier, und wer den Menschen zum Gott macht, der macht ihn schließlich zu einem Teufel, der im Hass gegen das Licht die Kinder des Lichts verfolgt.
Papsttum und Menschentum, Überglaube und Unglaube, das sind die zwei großen dunklen Gestalten des Antichristentums in unsrer Zeit. Sind die beiden Mächte auch heute noch einander feind, so bürgt uns nichts dafür, dass sie nicht auf Einen Tag Freund werden“ gegen den Glauben. Herodes und Pilatus verständigen sich noch immer in der Verachtung Christi. Ja, auch Kaiphas, der den Römer, den Vertreter der Weltmacht hasste, und Pilatus, der den Hohenpriester, den Vertreter der Kirchengewalt so tief verachtete, schließlich wirken sie beide zusammen zur Kreuzigung Christi. Und der machtlose, aller irdischen Gewalt zuletzt beraubte Hohepriester, der aber unbeugsam sein Ziel verfolgt und kein Mittel scheut, nötigt doch zuletzt den machtvollen, stolzen Landpfleger, der so gern neutral geblieben wäre, zur Entscheidung gegen Christus und für Befestigung seiner gehassten Priesterherrschaft. Gabbatha, die Richtstätte, auf welcher das jüdische Papsttum Sieger bleibt und das heidnische Menschentum in seinen Dienst zwingt gegen Christus, bleibt eine düstre Weissagung der Zukunft. Darum lasst uns die Augen offen und die Herzen wach halten, dass wir die Zeichen der Zeit beurteilen und im Sinne des Apostels Johannes die letzte Stunde erkennen, weil viele Widerchristen geworden sind. Es bleibt von Bedeutung, dass auf dem letzten Blatt der Bibel steht gleichsam als Zeichen des radikalen Charakters der letzten Zeit: „Wer böse ist, der sei immerhin böse, wer unrein ist, der sei immerhin unrein; wer aber fromm ist, der sei immerhin fromm, und wer heilig ist, der sei immerhin heilig.“ Darum erneut sich doppelt in unseren Tagen die ernste Mahnung des Herrn: „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich.“
III.
Wohlan, wir sehen, es ist Abendrot in der Welt, aber im zuversichtlichen Glauben wollen wir sprechen: es wird ein schöner Tag werden.“ Den Weltabend lang währt das Weinen, aber am Morgen des jüngsten Tages die Freude. Ein Christ schaut gen Osten durch alle Weltbegebenheiten und Stürme, durch alles Dunkel des Antichristentums, durch Nacht und Grauen des eignen Sterbens schimmern ihm die heraufzitternden Strahlen des anbrechenden Morgens, und auf den Bergspitzen der Ewigkeit glänzt ihm das Glührot der aufgehenden Sonne, die da heißt Jesus Christus. Die Welt vergeht mit ihrer Lust, wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.
Dies Bewusstsein um den endlichen ewigen Sieg gibt dem Christen hier schon Freudigkeit und stillen Frieden inwendig. „Dem Gerechten muss das Licht immer wieder aufgehen und Freude den frommen Herzen.“ „Wenn ich mitten im Finstern sitze, so ist doch der Herr mein Licht.“ Wenn es im Ägyptenland dieser Welt, in ihren Tempeln und Palästen, dicke Finsternis ist, so soll es doch im Lande Gosen in Israels Hütten licht sein. Denn es brennt darin das Licht und Feuer Gottes, und auch in dem Christenherzen, das sich selbst gar arm und schwach weiß, brennt doch wie in einer armen Hütte der glimmende Docht, welchen der Herr nicht auslöschen will. Dieses ihr Licht sollen Christen leuchten lassen auch in der hereinbrechenden Finsternis des Antichristentums. Denn dazu sind wir berufen, und davon steht auch bei Paulus ein Wort des tiefen Ernstes, wenn er von dem aufhaltenden Finger an der Weltenuhr redet in den Worten: Was es noch aufhält, das wisst ihr, bis der Antichrist offenbart werde. Denn es regt sich schon die Bosheit heimlich, ohne dass, der es jetzt aufhält, muss hinweg getan werden.“
Da der Apostel nicht sagt, was diese aufhaltende Macht sei, so sind wir von dieser dunklen Stelle an die übrigen klaren Stellen gewiesen, um daraus die Erklärung zu entnehmen. Etliche Ausleger verstehen darunter die Obrigkeit, als Gottesordnung gesetzt zu einer Rächerin über das Böse. Das ist eine große Wahrheit, dass Gesetz und Strafe, durch die Obrigkeit gehandhabt, ein mächtiger Damm sind gegen das überflutende Verderben. Gott hat diesen Damm gebaut und seit Jahrtausenden erhalten gegen die Wogen der Revolutionen. Wir sehen's auch klar, dass die Obrigkeit eine aufhaltende Macht ist: wo sie ihr Amt tut, da bleibt noch Sitte und Ordnung; wenn aber die Geister aus der Tiefe ihr Werk durchsetzen wollen, wie in der Revolution vor hundert Jahren, so müssen sie erst die Obrigkeit aus dem Mittel tun, ehe sie siegen können. Wer daher ein obrigkeitlich Amt bekleidet, der soll wissen, dass er das Schwert“, d. h. die Gewalt zu strafen bis ans Leben, nicht umsonst trägt, sondern dass er dazu von Gott gesetzt ist, um das Verderben, das in der Welt, in jedem Volk, in jeder Stadt und Ortschaft vorhanden ist, einzudämmen. Wer aber zu den Untertanen gehört, der gehorche der Obrigkeit um Gottes und um des Gewissens willen, und wer ein Christ ist, der räsoniere nicht über die Obrigkeit, sondern bete für sie, wie wir alle Sonntage mit der ganzen Christenheit tun. Denn die Obrigkeit ist die aufhaltende Macht im Staate.
Dennoch reicht diese Erklärung nicht aus. Paulus nennt nicht allein „das, was es aufhält“, sondern auch „den, der es aufhält.“ Es geht aber nicht wohl an, hierbei an den damaligen römischen Kaiser Nero zu denken. Dazu kommt aber der viel wichtigere Grund, dass die Obrigkeit allein nicht im Stande ist, das Verderben aufzuhalten, wie die Geschichte aller Staaten zeigt. Sie kann nur von außen her schirmen und strafen, sie kann aber nicht von innen her die Gewissen verpflichten und wahre Sittlichkeit herstellen durch eine neue Gesinnung. Alle Versuche unserer Zeit, dies durch Unterricht und Bildung des Verstandes zu ersehen, müssen fehlschlagen, weil alles Wissen nur dann wohltätig wirkt, wenn es im Dienst eines geheiligten Willens steht, während ein gebildeter Schurke gefährlicher ist, als ein ungebildeter. Zur Herstellung wahrer Sittlichkeit bedarf es einer andern Lebensmacht von oben, und sie ist in der Kirche tätig.
„Der, der das Verderben aufhält“, ist Christus, wie der „Sohn des Verderbens“ der Antichrist ist. Aber nicht bloß der Christus zur Rechten Gottes, der wie im rührenden Gleichnis vom Feigenbaum noch um ein Jahr um Aufschub bittet, sondern der Christus in den Christen, der durch seinen Geist in ihnen wohnt. Denn wie der Antichrist bereits tätig und wirksam ist in den vielen Widerchristen, so ist Christus tätig und wirksam in den Christen, in seinen Zeugen. Ich spreche damit nur aus, was oft in der Schrift ausgesprochen ist. Auf dem Weg nach Damaskus ruft der Herr vom Thron: „Saul, Saul, was verfolgst du nicht meine Jünger, sondern: mich?“ Es fiel dem Saulus nicht ein, den, wie er meinte, toten Nazarener zu verfolgen, sondern etliche abgefallene Männer und Weiber wollte er gen Jerusalem schleppen; dennoch ist es der Christus in diesen Christen, den er verfolgt, und nach der Sprache des Himmels lautet es: „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Und Paulus hat diese Sprache so tief empfunden, dass sie in allen Briefen bei ihm wiederkehrt und er die Jünger den Leib Christi auf Erden nennt, dessen Haupt im Himmel ist. Diese Zeugen Christi sind's, die das Verderben aufhalten. So war der eine Lot, die gerechte Seele, in Sodom die aufhaltende Macht. Nicht nur im Zwiegespräch Gottes mit Abraham sagt der Herr, dass wenn zehn Gerechte in Sodom seien, so wolle er der Stadt verschonen, sondern als sich nur der eine Lot fand, da musste erst Lot aus Sodom heraus und ins stille Zoar gerettet werden, ehe das Gericht über Sodom hereinbrechen konnte. Ebenso erzählt die Legende, dass Jerusalem erst von den Römern zerstört werden konnte, als die Christenschar aus der Stadt heraus und nach Pella geflohen war. Am Klarsten aber sagt es Christus selbst, wenn er zu seinen Jüngern spricht: „Ihr seid das Salz der Erde.“ Denn er erkennt sie hiermit für die Macht an, welche der Fäulnis des Weltverderbens wehrt.
Ist Christus in den Christen der, der es aufhält, so ist Sein Wort in ihrem Zeugnis das, was es aufhält. Denn wie der Überglaube und der Unglaube die Zeichen des Antichristentums sind, so ist der Glaube das Zeichen des Christentums. Aber der Glaube des Herzens nicht ohne das Glaubensbekenntnis des Mundes, wie es im Siegesgesang beides bei einander steht: „sie haben den Satan überwunden durch des Lammes Blut und durch das Wort ihres Zeugnisses und haben ihr Leben nicht lieb gehabt bis in den Tod.“ Darum gilt's zeugen und bekennen, nicht Mum Mum sagen und sein Christentum im Hinterstübchen behalten wollen, sondern laut und deutlich die Wahrheit bekennen. Solch Wort seiner Kinder, solch Zeugnis seiner Knechte ist das Salz gewesen, welches die alternde Welt vor der Fäulnis bewahrt hat bis auf den heutigen Tag, weil in diesem Worte Lebensmächte von oben, weil darin Odem Gottes und Sieg über Sünde, Tod und Teufel ist. Dies zweischneidige Schwert ist schärfer als das Schwert der Obrigkeit und ist ein Richter der verborgenen Gedanken und Sinne des Herzens, wohin kein menschliches Gericht zu dringen vermag. Hier liegt die heilige Pflicht für die Christen unserer Tage, wenn sie die Zeichen der Zeit verstehen wollen. Schenkel hat gesagt: „wenn zehn Leute reden, so gibt es mehr Lärm, als wenn 10.000 schweigen.“ Das ist ein ernstes Wort, und die Kinder der Welt sind hierin klüger als die Kinder des Lichts. Dennoch sagt der Herr: „wo diese meine Jünger schwiegen, so müssten die Steine schreien.“ Dennoch bleibt das Feldgeschrei eines Christen: „ich glaube, darum rede ich;“ wenn auch der Nachsatz folgt: „ich werde aber sehr geplagt.“ Und dieser Nachsatz bleibt nicht aus; denn zeugen vom Licht, zeugen gegen die Finsternis, das kann die Welt und ihr Fürst nicht leiden, weil das Wort Gottes im Herzen und im Munde seiner Zeugen die wahrhaft aufhaltende Großmacht in der Welt ist, welche erst aus dem Mittel getan sein muss, ehe das Antichristentum sich in seiner letzten Größe offenbaren kann. Und die Welt ist mehr als je an der Arbeit, „den, der es aufhält“, Christus in seinem Wort, Christus in seinen Christen aus dem Mittel zu tun und aus dem Wege zu schaffen, aus der Kirche, aus dem Staate, aus der Schule. Umso größer ist darum die Aufgabe der Christen, der aufhaltende Finger durch ihr Zeugnis zu sein. In den großartigen Bildern. der Offenbarung Johannis treten dem Antichristen unter dem Bilde des Tieres gegenüber die Christen unter dem Bilde der zwei Zeugen (Kap. 13), dargestellt nach den Gestalten des Moses und Elias, des Josua und Serubabels. Der Antichrist wird die Zeugen. töten und ihre Leichen verhöhnen, aber sie werden in der Ähnlichkeit ihres Herrn nach drei Tagen auferstehen und ihre Himmelfahrt halten.
Um zeugen zu können, muss man leiden können; um leiden zu können, muss man sein Leben nicht lieb haben bis in den Tod, und um sterben zu können, muss man im Abendrot des Weltendes wissen: es wird ein schöner Tag werden;“ denn ich glaube eine Vergebung der Sünden, eine Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Mag's dann rot und trübe am Himmel sein und die Wolken sich lagern, mögen die Menschen sprechen: es wird ein Ungewitter sein. Wir schauen getrost in die untergehende Sonne, falten die Hände und beten: „bleibe bei uns, Herr, denn es will Abend werden und der Welten Tag hat sich geneiget“, und heben die Hände empor und sprechen mit dem Geist und mit der Braut: ach, komm, Herr Jesu, komme bald.“ Amen.