Körber, Emil - Siehe, das ist Gottes Lamm! - Der Täufer und sein Zeugnis von Christus, ein rechter Prediger und eine rechte Predigt.

Körber, Emil - Siehe, das ist Gottes Lamm! - Der Täufer und sein Zeugnis von Christus, ein rechter Prediger und eine rechte Predigt.

(Antrittspredigt in der Spitalkapelle zu Bern, 5. Oktober 1873.)

Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch Allen! Er, der dreieinige Gott, dessen Namen wir anbeten in tiefer Demut und heiliger Ehrfurcht, lege selbst ein kräftiges Amen auf diesen meinen ersten Segenswunsch, dass er nicht nur von meinen schwachen Lippen ausgesprochen sei und in den Lüften verwehe, sondern vielmehr Geist, Kraft und Leben werde in unser Aller Herzen. Ja der Gott der Liebe und des Friedens lasse leuchten sein Angesicht heute über uns lieblich und schön; Er selbst grüße uns aus seinem oberen Heiligtum, mich den Prediger, der ich heute unter euch mein Amt antrete, und dich, liebe teure Spitalgemeinde, in der ich nun arbeiten und wirken soll, so lange es Tag ist und dem Herrn gefällt. Er grüße uns mit Huld und Gnade, mit Friede und Freude im heiligen Geist. Er segne uns heute und alle Tage unsers Lebens mit geistlichen Segnungen in himmlischen Gütern durch Christum Jesum, seinen lieben Sohn unsern Herrn, bis wir zur oberen Gemeinde gelangen, wo Freude, die Fülle ist und lieblich Wesen zur Rechten unsres Gottes ewiglich. Amen.

Text: Joh. 1, 19-34.
Und dies ist das Zeugnis Johannis, da die Juden sandten von Jerusalem Priester und Leviten, dass sie ihn fragten: Wer bist du? Und er bekannte, und leugnete nicht; und er bekannte: Ich bin nicht Christus. Was denn? Bist du Elias? Er sprach: Ich bin es nicht. Und sie fragten ihn: Bist du ein Prophet? Und er antwortete: Nein. Da sprachen sie zu ihm: Was bist du denn? Dass wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst? Er sprach: Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Richtet den Weg des Herrn; wie der Prophet Jesaja gesagt hat. Und die gesandt waren, die waren von den Pharisäern, und fragten ihn, und sprachen zu ihm: Warum taufest du denn, so du nicht Christus bist, noch Elias, noch ein Prophet? Johannes antwortete ihnen, und sprach: Ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennet. Der ists, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist, des ich nicht wert bin, dass ich seine Schuhriemen auflöse. Dies geschah zu Bethabara, jenseits des Jordans, da Johannes taufte. Des andern Tages sieht Johannes Jesum zu ihm kommen, und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt. Dieser ist es, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, welcher vor mir gewesen ist, denn er war eher, denn ich. Und ich kannte ihn nicht; sondern auf dass er offenbar würde in Israel, darum bin ich gekommen zu taufen mit Wasser. Und Johannes zeugte, und sprach: Ich sah, dass der Geist herab fuhr, wie eine Taube vom Himmel, und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht; aber der mich sandte zu taufen mit Wasser, derselbige sprach zu mir: Über welchen du sehen wirst den Geist herabfahren, und auf ihm bleiben, derselbige ist es, der mit dem heiligen Geist tauft. Und ich sah es, und zeugte, dass dieser ist Gottes Sohn.

Wer Dank opfert, der preist Gott; und das ist der Weg, dass der Herr ihm zeigt sein Heil. Unsern Gott loben, das ist ein köstlich Ding; solch Lob ist lieblich und schön. Ich will den Herrn loben, so lange ich lebe; und meinem Gott lobsingen, weil ich hier bin. Ich will dich täglich loben in der Gemeinde, und deinen Namen rühmen immer und ewiglich. Mit solchen Gefühlen des freudigen Dankes gegen meinen Gott und Heiland, der mir das Predigtamt und die Seelsorge in diesem Gotteshaus der barmherzigen Samariterliebe anvertraut hat, betrete ich heute diese Kanzel. Als ich gerade vor fünf Jahren in den ersten Tagen des Oktober nach Bern kam, um an der lieben Jugend der mir nun so teuren Stadt zu arbeiten, da war diese freundliche Spitalkapelle die erste Stätte, in der ich am Gottesdienste der Gemeinde mich erbaute und aus gläubigem Munde das Evangelium hörte. Damals hätte ich nicht im entferntesten daran gedacht, dass einmal diese Kanzel meine Kanzel werden sollte; vielmehr glaubte und wünschte ich, nach wenigen Jahren wieder in die Heimat zurückzukehren. Aber unsere Gedanken sind nicht des Herrn Gedanken, unsere Wege und Pläne sind nicht Gottes Wege und Pläne. Der Herr hat es anders gewollt. Er hat mich in Bern viel Liebe und Vertrauen erfahren lassen und durch meine Arbeit in Schule und Kirche mich also an diese Stadt gefesselt, dass sie meine zweite Heimat geworden ist. Das bekenne ich gerne mit freudigem Dank gegen Gott.

Und nun soll ich dir, liebe Gemeinde, Christum den Heiland der Welt predigen und den Gnadenrat des Gottes, der die Liebe ist, alle Sonntage dir verkündigen. Nun soll ich insonderheit in die Krankensäle dieses Gotteshauses täglich Christum tragen als den Arzt der Seele und des Leibes; ich soll die Armen weisen auf den, der um unsertwillen arm wurde, auf dass wir durch seine Armut reich würden; ich soll die Schwachen, Gebrechlichen, Alternden und Hilfsbedürftigen aller Art führen in die starken Gottesarme unseres Heilandes, der uns Alle tragen will samt unserer Lebenslast und Lebensnot bis ins Alter und bis wir grau werden; ich soll den Sterbenden noch das Kreuz Christi aufs Herz drücken und den Stecken und Stab in die Hand geben, mit dem die vom Erdenleben müde Seele auch durchs dunkle Todestal friedevoll wandert zu den frohen lichten Höhen der seligen Ewigkeit; allen Bewohnern dieses Hauses soll und darf ich reden von dem Einen, das not tut, damit sie glücklich und selig in Zeit und Ewigkeit werden. O das ist ein köstliches, herrliches Amt, das ich mit inniger Liebe umfasse, für das ich gerne meine ganze Kraft einsetzen will, das mein Herz zu freudigem Dank gegen Gott stimmt.

Und will auch in diese Freudigkeit banges Sorgen und Zagen sich einmischen bei dem Gedanken: Bist du auch tüchtig, dieses Amt auszurichten so wie es recht ist? so will ich mich getrösten meines treuen Herrn und Gottes, der zu dem Amt auch die Kraft schenkt, der zu mir gesagt hat: Ich will dich nicht verlassen noch versäumen; ich bin bei dir, fürchte dich nicht! Sei getrost und unverzagt und harre des Herrn! Ja Gott der Herr soll meine Kraft und Zuversicht sein alle Morgen, mein Trost und mein Licht alle Abend.

So will ich denn in diesem Sinn, mit freudigem Dank gegen Gott und mit glaubensvollem Vertrauen auf die gnädige Hilfe meines Herrn, dieses Predigtamt antreten. Und wie ich es führen soll, dazu gibt unser heutiger Text eine treffliche Anweisung, indem er uns vorstellt einen rechtschaffenen Prediger, den Täufer Johannes, mit seinem Zeugnis von Christus. Dies sei heute der Gegenstand unserer Betrachtung:

Der Täufer Johannes und sein Zeugnis von Christus,

oder

ein rechter Prediger und eine rechte Predigt.

Jesu! Seelenfreund der Deinen,
Sonne der Gerechtigkeit,
Wandelnd unter den Gemeinen,
Die zu deinem Dienst bereit,
Komm zu uns, wir sind beisammen,
Gieße deine Geistesflammen,
Gieße Licht und Leben aus
Über dies dein Gotteshaus!

Amen.

1. Wie soll ein rechter Prediger beschaffen sein?

Darauf geben wir im Blick auf das Vorbild des Täufers fürs erste die Antwort: ein rechter Prediger weiß nichts von Menschenfurcht und Menschengefälligkeit. Versetzen wir uns einen kleinen Augenblick an die Ufer des Jordans nach Bethabara, da Johannes taufte. Eine ernste Stunde der Prüfung hatte für den Täufer geschlagen. Das Volk umringt ihn in dichten Haufen. Siehe, da bewegt sich durch die Massen des Volkes, das ehrerbietig Platz macht, eine Schar Priester und Leviten. Sie sind abgesandt vom hohen Rate und kommen von Jerusalem. Ernst ist ihre Miene, feierlich der Gang, festlich der Anzug. Sie treten vor den Täufer und fragen: Wer bist du? Nichts wäre ihnen lieber als die Antwort: Ich bin Christus! Johannes weiß das wohl, aber als treuer Zeuge der Wahrheit überwindet er die Versuchung und kümmert sich nichts um die Wünsche und Ansichten der Priester und Leviten samt dem hohen Rate zu Jerusalem, sondern in treuem, edlem Mannesmut ohne Menschenfurcht und Menschengefälligkeit sagt er die Wahrheit gerade wie sie ist frei heraus, er bekannte und leugnete nicht, und er bekannte: Ich bin nicht Christus! Und das ist nicht das einzige Beispiel, da Johannes in edlem Freimut der Wahrheit vor uns steht. Denken wir an den Vierfürsten Herodes, dem der heldenmütige Mann ins Angesicht sagte: Es ist nicht recht, dass du deines Bruders Weib habest. Denken wir an jenes Mark und Bein durchdringende Wort, das er dem ganzen Volk entgegenschleuderte: Ihr Otterngezüchte, wer hat denn euch gewiesen, dass ihr dem zukünftigen Zorn entrinnen werdet. Seht zu, tut rechtschaffene Früchte der Buße. Fürwahr, Johannes ist das Vorbild eines rechten Predigers, der nichts weiß von Menschenfurcht und Menschengefälligkeit. Aber so soll und muss ein jeder Prediger und Diener des Wortes beschaffen sein; er muss offen und mutig die Schäden und Sünden seines Volkes und seiner Gemeinde aufdecken, und die ganze Wahrheit des Evangeliums bekennen. Nicht der Menschen Gunst und Liebe, nicht Verehrung von den Leuten, sondern die Wahrheit, die frei und selig macht, das Heil der Seelen muss mir das Höchste sein; ich muss die Wahrheit des göttlichen Wortes, auch wo es straft und züchtigt oder mit dem herrschenden Zeitgeist nicht übereinstimmt, sondern in Gegensatz gegen denselben sich stellt, ehrlich und redlich bekennen. Das will ich denn auch mit Gottes Hilfe tun und dabei stets gedenken an das Wort meines Herrn: Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater; wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater. O wie selig ist es, einst bekannt und anerkannt zu werden von Jesu vor dem Angesicht des Vaters im Himmel; dagegen wie schrecklich und entsetzlich muss es sein, von Jesu verleugnet und verworfen zu werden vor dem himmlischen Vater. Damit wir aber diesem Gericht der Verwerfung entgehen, müssen wir Prediger auf Erden bekennen und nicht leugnen und verleugnen auch das Kleinste nicht! Denn es ist im Grunde nichts klein und unwichtig bei der Wahrheit; alle Punkte sind von Wert und wirken zusammen, uns frei und selig zu machen. Der kleinste Vorposten bei einer Festung hat seine Bedeutung. Ich kann die Prediger nicht begreifen, die mit leichtem Herzen und fast mit lachendem Munde nicht nur diese und jene untergeordneten, nebensächlichen Wahrheiten, sondern Hauptpunkte und Kernwahrheiten der Heiligen Schrift preisgeben und umdeuten, um das alte Bibelbuch für die moderne Zeit mundgerecht zu machen. O das wird einmal ein schweres Gericht geben, wenn Gott der Herr Rechenschaft verlangt. Nein, meine Lieben, ihr müsset es fordern als ein heiliges und unveräußerliches Recht der Gemeinde, dass eure Prediger bekennen und nicht verleugnen, und abermals bekennen. Aber dann nehmt auch das Wort der Predigt auf mit Sanftmut und Beugung des Herzens, nicht von Menschen, sondern von Gott, als ein Wort der Liebe, die bei aller Schärfe der Wahrheit nur heilen, retten, selig machen will. Um Zion willen, so will ich nicht schweigen, und um Jerusalem willen, so will ich nicht innehalten, bis dass ihre Gerechtigkeit aufgehe wie ein Licht und ihr Heil entbrenne wie eine Flamme.

Keine Menschenfurcht und Menschengefälligkeit! das ist der erste Zug im Bild eines rechten Predigers. Als zweiten lernen wir an dem Täufer Johannes kennen: ein rechter Prediger denkt klein von sich und groß von seinem Gott und Heiland. Wer bist du? fragen die Priester und Leviten. Und er bekannte und leugnete nicht, und er bekannte: Ich bin nicht Christus! Da fragten sie: was denn? bist du Elias? Er sprach: Ich bin‘s nicht. Bist du ein Prophet? Und er antwortete: Nein! Wir sehen, Johannes wird immer kürzer in seinen Antworten; zuletzt sagt er nur noch „Nein,“ ein Nein, dem man so recht den Unwillen und Unmut abfühlt. Was macht ihr da an meiner Person herum? will Johannes sagen. Was sucht, forscht und fragt ihr? Ich bin ja nur ein Knecht, gering und klein! Der Herr selbst, groß, anbetungswürdig groß, ist erschienen und mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt. Aber die Priester und Leviten waren damit nicht zufrieden. Sollten sie darum die Festgewänder angelegt haben, darum in feierlichem Aufzug erschienen sein, um nur Nein und abermals Nein zu hören und mit einem kalten, dreifachen Nein in der Tasche nach Jerusalem zurückzukehren? So rücken sie denn dem Täufer hart zu Leibe, sie wollen eine bestimmte, irgend bejahende Antwort. „Was bist du denn? Dass wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben? was sagst du von dir selbst?“ Da bekommen sie eine Antwort, eine köstliche, herrliche Antwort, eine Antwort der Demut, die zeigt, wie klein Johannes als rechter Prediger von sich denkt: „Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: richtet den Weg des Herrn, wie der Prophet Jesaja gesagt hat.“ O welche Demut! nicht ein Prediger, nur eine Stimme eines Predigers will Johannes sein. Eine Stimme ist für sich selbst nichts; sie muss benützt und gesprochen werden, sie muss nehmen aus Fülle des Geistes die Gedanken und Worte, die auszusprechen und zu predigen sind. Ich bin für mich selbst nichts, sagt der Täufer; ich kann und will aus mir selbst nichts denken und reden; der eigentliche Prediger ist Gott, dem ich nur meine arme Stimme leihe, ich bin gleichsam nur der Kanal, durch welchen das Wort Gottes, das lebendige Wasser des Geistes fließt. meine Lieben, ein rechter Prediger denkt klein von sich selbst und groß von seinem Gott und Heiland. Wir sind nur Stimmen, arme, schwache, geringe Stimmen, auf die kein Mensch in der Welt hören und achten würde, wenn nicht Gott der Herr hinter uns stünde. Wir sind Stimmen, und nicht tüchtig von uns selbst etwas zu denken und zu reden als von uns selbst; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, welcher uns auch tüchtig gemacht hat und täglich tüchtig macht, das Amt zu führen des Neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Alle heilsamen Worte, Gedanken und Wahrheiten schöpfen wir nicht aus uns selbst; denn wir sind löchrige Brunnen, die kein Wasser geben. Nein, wir setzen uns hin an den ewig frisch sprudelnden Quell des göttlichen Wortes und trinken da Wasser des Lebens; und dann erst können von uns Bächlein, und wenn es dem Herrn gefällt, Ströme des lebendigen Wassers fließen. Wir beugen unsere Knie und beten und bitten um die Gabe des Heiligen Geistes, dass er uns erleuchte und mitteile, was wir der Gemeinde zu sagen haben. Wenn wir nicht zuerst selbst aus Jesu Fülle nehmen würden Gnade um Gnade, so hätten wir rein nichts zu sagen und zu geben. Und auch so ist unsre Kraft und unser Vermögen nicht weit her.

Wir können wohl vom Geiste Gottes erleuchtet Buße und Bekehrung predigen, aber nimmermehr schaffen; wir können wohl Vergebung der Sünden im Blute des Lammes verkündigen, aber nimmermehr geben. Wir sind schwache Menschen. Das Alles schafft und wirkt Gott der Herr, der Heiland aller Welt, der Stärkere, der mit dem heiligen Geist und mit Feuer tauft. Er gibt Buße, er gibt Glauben, hilft den Lahmen, Blinden, Tauben. Wir aber sind nur Stimmen, die ohne Gottes Geist in den Wind reden und gleich einem leeren Schall in den Lüften verhallen. O ein rechter Prediger denkt klein von sich und groß von seinem Gott und Heiland!

Was er aber predigt, das predigt er aus Erfahrung und Überzeugung: das ist der dritte Zug im Bilde des Täufers. „Und Johannes zeugte und sprach: Ich sah, dass der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht; aber der mich sandte zu taufen mit Wasser, derselbige sprach zu mir: über welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, derselbige ists, der mit dem heiligen Geist tauft. Und ich sah es und zeugte, dass dieser ist Gottes Sohn.“ Da sehen wir, was für einen rechten Prediger unumgänglich nötig ist die eigene Erfahrung und Überzeugung. Es genügt nicht, drei oder vier Jahre Theologie zu studieren, wissenschaftliche Kollegien zu besuchen, gute Bücher zu lesen und so eine gute christliche Erkenntnis zu gewinnen. Das Alles ist nicht zu verachten oder gering anzuschlagen; aber das Beste muss noch hinzukommen, die Erfahrung der Heilswahrheit am eigenen Herzen, aus welcher allein eine fester männliche Überzeugung entsteht, so dass es nicht mehr heißt: „ich kannte ihn nicht,“ sondern vielmehr: „ich sah und zeugte, dass dieser ist Gottes Sohn.“ Da ist es nun wohl am Platze und geziemend, dass ich dir, liebe Gemeinde, in meiner Antrittspredigt offen und ehrlich vor dem Angesicht Gottes sage: Was ich dir predige, das predige ich aus Erfahrung und innerster Überzeugung. Freilich hatte ich eine Zeit, da es auch bei mir hieß: ich kannte ihn nicht; trotz aller christlichen Erkenntnis war mir sein Herz voll Huld und Gnade, Liebe und Erbarmen verborgen. Und wiederum hatte ich eine Zeit, wo in Folge von schweren dunklen Zweifeln, die durch das Studium der Theologie und Philosophie wachgerufen wurden, das ganze Gebäude der christlichen Heilswahrheit über meinem Haupte zusammenzustürzen drohte. Aber mein Gott und Heiland hat sich meiner im Zweifel trauernden Seele erbarmt; und nun stehe ich durch seine Gnade im Glauben an Ihn und bin von der Wahrheit der Heiligen Schrift und des teuren Evangeliums fest überzeugt. Nun kenne ich Ihn und habe Ihm ins Herz gesehen, und die Wahrheit seines Evangeliums hundertfach im Leben, auch in schweren und dunklen Führungen erprobt; darum was ich euch sage, das sage ich aus innerster Überzeugung und Erfahrung. Wahrlich ich würde mich schämen, an dieser heiligen Stätte zu reden und zu predigen, wenn ich nicht im Grund meiner Seele überzeugt wäre, dass die Lehre der Heiligen Schrift und unserer evangelischen Kirche wirklich Wahrheit ist. Ja ich bin von der Wahrheit des Christentums, wie es in dem alten teuren Bibelbuch geoffenbart ist, überzeugt wie von meinem eigenen Leben. Wenn der Christus, wie ihn die Evangelien schildern, nicht Wahrheit wäre, so bliebe uns nichts übrig als Verzweiflung oder die elende Lehre des Materialismus: Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot. Aber Gottlob, Christus und sein Wort ist unumstößliche Wahrheit; daran kann uns das seichte Geschwätz der modernen Aufklärung nicht im mindesten irre machen. Ja, meine Lieben, wir dürfen uns auf das alte Evangelium ruhig verlassen; wir dürfen darauf leben und sterben, und werden in unsrer Hoffnung sicherlich nicht getäuscht werden, sondern einmal schauen, was wir geglaubt haben, und eingehen in des Herrn Freude. Alle Wahrheiten in Natur, Kunst und Wissenschaft müssen uns nicht so gewiss sein als die Wahrheit des Evangeliums. Himmel und Erde werden vergehen, aber Gottes Worte werden nicht vergehen!

Herr, dein Wort, die edle Gabe,
Diesen Schatz erhalte mir;
Denn ich zieh es aller Habe
Und dem größten Reichtum für.

Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten,
Worauf soll der Glaube ruhn?
Mir ist nicht um tausend Welten,
Aber um dein Wort zu tun.

Johannes der Täufer hat uns in drei charakteristischen Zügen das Bild eines rechtschaffenen Predigers gezeigt.

II. Wie soll nun die rechte Predigt beschaffen sein? Was ist ihr Inhalt?

Darauf antworten wir in Kürze.

Nicht dieses und jenes Gute und Schöne, Heilige und Wahre in und an dem göttlichen Wort müssen wir, wenn unsre Predigt eine rechte sein soll, in erster Linie treiben; vielmehr ist und bleibt unsre Hauptaufgabe, Jesum Christum den Herrn, den Seligmacher, den Heiland der Welt, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, den Seelen nahe zu bringen als den einzigen Grund unsrer Erlösung und die alleinige Ursache unsrer Seligkeit und Herrlichkeit. Diese Hauptaufgabe eines evangelischen Predigers hat schon der Täufer Johannes gar trefflich erfasst, wenn er mit Fingern auf den Heiland deutet, und anbetend und frohlockend ausruft: Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt. Und auch in der Predigt und Lehre aller Apostel ist das der durchschlagende und durchtönende Grundton, der allen andern Tönen und Melodien erst die rechte Kraft und Weihe gibt. So kommt ein Paulus nicht mit hohen Worten menschlicher Weisheit, uns zu verkündigen die göttliche Predigt, sondern er weiß nichts als Jesum Christum, den Gekreuzigten. Und aus diesem göttlichen Inhalt seiner Predigt macht er für sich selbst den seligen Schluss: Was ich noch lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben. Auch ein Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, weiß nichts Höheres zu rühmen als das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, das uns rein macht von aller Sünde. Wir haben einen Fürsprecher beim Vater schreibt er Jesum Christ, der gerecht ist; und derselbe ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unsern, sondern auch für die Sünden der ganzen Welt. Und selbst der energische, feurige Petrus, jener Felsenmann, beugt so gerne seine Knie am Kreuz auf Golgatha und spricht in tiefer Demut: Er hat unsre Sünden selbst geopfert an seinem Leibe auf dem Holz, auf dass wir der Sünde abgestorben der Gerechtigkeit leben, durch dessen Wunden wir sind heil geworden. Da seht ihr, im Herrn Geliebte, was der Grundtext und Grundton einer rechten Predigt ist. Zu diesem bekenne auch ich mich mit Freuden. Jesus Christus, der gekreuzigte Heiland, ist mein Kleinod, mein Stern, meine Krone, die Sonne meines Lebens. Von ihm zu euch zu reden soll mir Lust und Wonne sein; da soll mein Herz hoch schlagen, mein Auge leuchten und mein Mund mir überströmen. Ja ein Prediger der freien Gnade Gottes in Christo Jesu will ich unter euch sein; dazu bin ich berufen und gesandt. Euch auf Den hinzuweisen, der für uns gestorben und auferstanden ist, der eine ewige, vollgültige Erlösung erfunden hat durch Leiden, Sterben und Auferstehen, und die Gottlosen gerecht und selig macht durch Buße und Glauben an Ihn ohn' all unser Verdienst und Würdigkeit: das sei bei aller Mannigfaltigkeit der evangelischen Predigt mein Lieblingsthema bis zum letzten Atemzug, bis mein Auge bricht und mein Mund im Tode sich schließt.

Dass ich einen Heiland habe,
Bleibt mein Alles bis zum Grabe;
Und ich mag nichts Andres wissen,
Als sein Leiden zu genießen.

Teure Gemeinde! willst du solche Predigt des Evangeliums gern und willig aufnehmen? Willst du also dich erbauen, gründen und wurzeln lassen in dem allerheiligsten Christenglauben? so lerne vor allem und immer wieder aufs Neue, was es heißt: Buße tun und sich bekehren; lerne, was es heißt die Sünde erkennen, bereuen, Leid darüber tragen und an Jesum Christum glauben; lerne, was es heißt der Sünde absterben, sich reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes und fortfahren mit der Heiligung in der Furcht Gottes; richte den Weg des Herrn und mach eine ebene Bahn deinem Gott. Johannes sagt von Christus: er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt. Ach dies Wort gilt noch heutigen Tags auch von der Christenheit. Viele kennen den Mensch gewordenen Sohn Gottes und Heiland der Welt nicht, obwohl sie schon in der Wiege ihm ans Herz gelegt worden sind, und er immer noch in seinem Wort und Sakrament mitten unter uns ist und wandelt unter den sieben goldenen Leuchtern seiner Kirche. Man hat wohl Kunde von ihm, aber man kennt sein Herz nicht, hat ihm nicht ins treue Auge geschaut, nicht die Hand in seine Hand gelegt im Glauben und in der Liebe. Nun, meine Freunde, um Ihn den Schönsten unter den Menschenkindern, den eingebornen Sohn des Vaters voller Gnade und Wahrheit, den Heiland aller Welt kennen zu lernen, und durch diese Erkenntnis glückliche und selige Christen zu werden, die auf dem schmalen Pfad wandeln, der zum Leben führt: dazu kommen wir zusammen in dieser Kapelle. Mögen alle unsere Gottesdienste reich gesegnet sein und wir alle Sonntage spüren: hier ist wahrhaftig Gottes Haus, hier ist die Pforte des Himmels. O öffnet eure Herzen und lasst den Samen des göttlichen Wortes auf guten Boden fallen. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt und Gott vermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Macht die Tore weit, und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe. Wer ist derselbe König der Ehren? Es ist der Herr Zebaoth, der dreieinige Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist, Er ist der König der Ehren!

O großer Gott, dir sei Lob, Preis und Ehre in alle Ewigkeit! Habe Dank, dass du mich zum Prediger und Seelsorger in dieser Gemeinde eingesetzt hast. Lass mein Wirken an dieser Stätte von dir gesegnet, ja reich gesegnet sein. Erhalte mir allezeit den Glauben, den Freimut der Wahrheit und die Freudigkeit des Herzens. Lass mich allezeit ein Bote der Liebe, des Friedens und der Versöhnung sein, dein Evangelium recht austeilen und die himmlischen Tröstungen deines Wortes zu den Schwachen, Kranken und Sterbenden tragen, also dass sie wahrhaft getröstet werden. Herr, lass durch meinen geringen Dienst das hohe und edle Ziel erreicht werden, dass du, o Gott der Liebe und des Friedens, mehr und mehr erkannt und offenbar werdest in dieser Gemeinde, in diesem Gotteshaus und in manchen Herzen und Häusern unsrer lieben Stadt Bern. O Gott, segne dieses Haus der barmherzigen Liebe mit allen seinen Bewohnern, Beamten und Vorstehern; segne die ganze Stadt, segne das ganze Volk, segne alle Völker auf Erden und lass dein Reich kommen! Amen.

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