Valette, Louis - Die Vorschriften des Herrn über die Versöhnlichkeit.

Valette, Louis - Die Vorschriften des Herrn über die Versöhnlichkeit.

Homilie
über Matth. 18, 15 - 17. gehalten
von
Louis Valette,
Königl. Preuss. Gesandtschafts-Prediger und Pfarrer der evangelisch-französischen Gemeinde zu Neapel.

Geliebte Freunde in Christo! Wie viele Aergernisse, Sünden und Verdächtigungen des wahren Christenthums fließen doch aus den Streitigkeiten, gegenseitigen Beschwerden und Partheiungen derjenigen her, die das Evangelium bekennen! Ach wie ist der alte Mensch noch immer nicht ganz ertödtet, und wie bringt er uns, wenn wir ihn nicht mit ganzer Treue und Wachsamkeit und mit ernstlichem Gebete bekämpfen, noch immer so leicht zum Falle! wie macht sich der Hochmuth, auch wenn wir ihn schon überwunden zu haben glauben, immer wieder geltend, oder strebt wenigstens sich unter einer neuen Gestalt geltend zu machen! wie verbergen sich die Eitelkeit und die Eigenliebe in den Falten selbst eines solchen Herzens, in dem man sie schon gänzlich erloschen glaubte! Wie bleiben einige irdische Neigungen selbst noch in dem, der zum Glauben an das Evangelium bekehrt ist, und wie schreitet auch der Gläubige nur allmählig in der Heiligung fort!

Davon ist denn eine natürliche Folge, daß noch immer nicht die wahre und völlige Eintracht, ich will nicht sagen unter den Menschen, - denn so lange als diese noch sich selbst angeboren, darf es uns nicht Wunder nehmen, wenn wir sie wider einander erblicken, da ein jeder die Befriedigung seiner Begierden über Alles sucht, - sondern selbst unter übrigens aufrichtigen Christen, deren Bekenntniß des Glaubens an das Evangelium der Gnade Gottes in Christo Jesu nicht heuchlerisch ist, - selbst unter Brüdern, welche eine und dieselbe himmlische Hoffnung bekennen, - zu finden ist, und daß sich auch unter ihnen noch Streitigkeiten erheben. Aber alle solche mögen erkennen und bedenken, daß sie damit die Lehre Jesu Christi schmähen, und die Kirche entehren, deren Glieder sie sind.

Um solchen traurigen Erscheinungen zuvor zu kommen, oder sie wenigstens bald zu unterdrücken und nicht fortwuchern zu lassen, stellt der Herr, der das menschliche Herz und die Leidenschaften, von denen es bewegt wird, und die es von der Bahn, die das Evangelium verzeichnet, abwendig machen, genau kannte, einige Regeln auf, welche, wenn sie mit einem gelehrigen, einfältigen und rechtschaffenen Herzen aufgenommen und im christlichen Geiste befolgt werden, um vieles die Spaltungen und Uneinigkeiten vermindern, und an Christen gerichtet, wie sie denn wirklich zu ihnen geredet sind, geeignet sein werden, der Lehre des Heils die ihr gebührende Achtung zu verschaffen.

Laßt uns demnach in der Reihenfolge unserer Betrachtungen über das Evangelium Matthäi die Vorschriften des Herrn über die Versöhnlichkeit näher mit einander erwägen. Wir finden sie aufgezeichnet Matth. 18, 15 - 17.

Sündigt aber dein Bruder an dir, so gehe hin, und strafe ihn zwischen dir und ihm allein. Höret er dich so hast du deinen Bruder gewonnen. Höret er dich nicht, so nimm noch einen oder zween zu dir, auf daß alle Sache bestehe auf zweier oder dreier Zeugen Munde. Höret er dich nicht, so sage es der Gemeine. Höret er die Gemeine nicht, so halte ihn als einen einen Heiden und Zöllner.

Wir denken diese Worte unsres Erlösers, eins nach dem andern unserer andächtigen Betrachtung vorzuhalten, und sie zugleich auf uns selbst anzuwenden. Aber m. Th. laßt uns dies mit Gebet thun, denn ohne die Gnade des Herrn ist auch die Betrachtung selbst seines heiligen Wortes unfruchtbar. O Herr, unser Gott, laß uns die Gegenwart deines heiligen Geistes in unsern Herzen spüren, und segne uns diese Stunde der Andacht. Amen.

I.

„Sündiget aber dein Bruder an dir“ beginnt Christus. Es handelt sich also hier um den Fall, wo wir beleidigt sind, wo man uns auf irgend welche Weise Unrecht gethan hat. Aber vor Allem muß man darüber klar sein, daß uns wirklich eine Beleidigung, ein Unrecht widerfahren sei; diese Thatsache muß gewiß sein; man muß nicht sogleich bereit sein, sich als eine Zielscheibe von Beleidigungen und Ungerechtigkeiten anzusehn. Wie oft bildet man sich nicht ein, ein Bruder habe uns beleidigen wollen, ohne rechten Grund dazu zu haben? Wie oft leiht man sein Ohr den Verläumdungen, falschen Berichten, boßhaften Entstellungen von Leuten, die sich ein Geschäft daraus machen, den Frieden zu stören und die Handlungen des Nächsten in schlechtem Lichte darzustellen? Wie oft machen unser Stolz, unsre Eitelkeit, unsre Eigenliebe, die Anhänglichkeit an die Dinge dieser Welt uns glauben, daß wir Unrecht zu leiden gehabt, während man sich vielmehr über uns zu beklagen hatte! Wie oft ist es nur unsere Einbildung, die uns da Unrecht oder Beleidigung zeigt, wo keins von beiden statt findet! Wie oft sind wir geneigt, anstatt in zweifelhaftem Falle von der Voraussetzung auszugehn, daß die Absicht unsers Bruders gut sei, zu glauben, sie sei böse.

Es muß sich also hier um ein wirkliches Unrecht handeln, um eine Ungerechtigkeit, welche traurige Folgen für unser Verhältniß zu unserm Bruder hat, die der Uebung der brüderlichen Liebe zwischen ihm und uns schädlich sein würde, oder um ein Unrecht, dessen Folgen auf uns zu nehmen wir durch irgend eine Pflicht verhindert werden. „Sündiget dein Bruder an dir“ wenn das ganz unzweifelhaft und gewiß ist, „dann gehe hin, und strafe ihn zwischen dir und ihm allein.“

Gehe zu ihm. Entziehe dich ihm nicht! Laß nicht dein Herz verschlossen bleiben, und voll von Verdruß, oder wenigstens von der immer peinlichen Empfindung die man hat, sei es auch ohne Bitterkeit, wenn man sich von Jemand nicht als Bruder behandelt glaubt. Anstatt dich von ihm entfernt zu halten und so jede Erklärung zu vermeiden, anstatt in der Entfernung, worin sein Vergehn, was er gegen dich begangen hat, ihn schon von dir hält, sich befestigen zu lassen, gehe zu ihm, thue den ersten Schritt. Gehe zu ihm, nicht als Feind, nicht mit bittern Worten, die noch Empfindlichkeit verrathen, sondern gehe als Freund zu ihm, mit Gedanken des Friedens, mit Sanftmuth, mit Liebe. Setze ihm auseinander, worin er dir Unrecht gethan habe; ersuche ihn um eine brüderliche, offne, freundschaftliche Erklärung; so wirst du den Thatbestand aufhellen, du wirst die Absicht deines Bruders erkennen, und wirst erfahren, ob er wirklich, und worin er dir hat Unrecht thun wollen. Um ihn in diesem Falle zu überzeugen, daß er an dir gesündigt hat, und um ihn zu vermögen, das was dir schädlich ist, aufzuheben, so sprich allein mit ihm, stelle ihm mit Liebe, mit Mäßigung, mit Offenheit und ohne Uebertreibung das Uebel vor, das er dir gethan. Deine Gründe seien klar und überzeugend, damit er, wenn sie wirklich vorhanden ist, die Ungerechtigkeit oder Unziemlichkeit seiner Aufführung einsehe, ohne jedoch irgend ein Wort auszusprechen, was ihn selbst beleidigen könnte. Das ist jene sanfte und verständige Verfahrungsweise, die uns auch die göttliche Weisheit in den Sprichwörtern (25, 9. 10.) empfiehlt, um zu demselben Zwecke zu gelangen „handle deine Sache mit deinem Nächsten, und offenbare nicht eines andern Heimlichkeit. Auf daß dirs nicht übel spreche, der es höret und dein böses Gerücht nimmer ablasse.“ Mache nicht alsbald aus deinem Zwiste eine öffentliche Angelegenheit, gehe nicht thöricht, oder übermüthig überall umher, um das Vergehen deines Bruders gegen dich herum zu tragen, verrathe nicht ohne Noth das, was ein Geheimniß bleiben muß, wenn noch ein Weg zur Versöhnung offen bleiben soll.

Wie oft, m. Br., würde ein solches Verfahren mehr Erfolg haben, als in eigensinnigem Stillschweigen das Unrecht, was man uns gethan, in sich zu verschließen, ohne durch irgend ein Mittel die Verständigung und in Folge derselben die Vereinigung darüber zu erleichtern! Wie viel größern Erfolg würde es haben als die Gewohnheit ohne irgend welchen Nutzen allen von dem Unrecht zu erzählen, was man uns angethan, sich darüber bitterlich zu beklagen, und bei jeder Gelegenheit und gegen jeden, der es nur hören will, dem gereizten Gefühle Luft zu machen, das wir im Herzen tragen; - als sich in Folge dessen verletzender oder bitterer Ausdrücke bedienen, die dann wieder dem Beleidiger hinterbracht werden, und nun ihn beleidigen, und ihn so von jedem liebevollen Schritte abbringen, zu dem er vielleicht von selbst gebracht wäre, um sein Unrecht wieder gut zu machen; - wie viel besser ist es, als das Betragen derer, die sich öffentlich und mit Uebertreibung beklagen, so daß sie dem guten Rufe ihres Bruders schaden, und ihm ein größeres Uebel zufügen, als er ihnen angethan, und ihn wohl dahin bringen, eine Sache auf eine Aufsehen und Aergerniß erregende Weise selbst vor die Gerichte zu bringen, welche die Liebe und christliche Verträglichkeit selbst noch zum Vortheil der brüderlichen Bande, welche die Jünger Jesu Christi vereinigen sollten, hätten benutzen können.

Dagegen wird die Verfahrungsweise, welche Jesus anbefiehlt, wenn sie in seinem Geiste angewendet wird, auf keine Weise eine Aufregung hervorbringen, sondern sie kann im Gegentheil den, der wider seinen Bruder gesündigt hat, dahin bringen, sein Unrecht anzuerkennen, es freimüthig einzugestehen, und demzufolge es wieder gut zu machen, und jede Maßregel, die seinem Bruder schädlich ist, abzustellen. Dieser Erfolg wird mehr oder weniger sich immer zeigen, wenn der Beleidiger ein Christ ist. Ein solches Verfahren wird ihn rühren, wird ihn auf eine heilsame Weise demüthigen, indem es ihn in sich selbst hineinführt; - man wird ihn gewonnen haben. Er wird den Netzen des Versuchers entrinnen, der ihn den Grundsätzen, welche er bekennt, untreu machen wollte. Auf die Entzweiung wird die Vereinigung, auf die Beleidigung die Versöhnung, auf die Verwirrung der Friede, auf die Unordnung die Ordnung und der Geist des Evangeliums folgen, zur Freude und zum Glücke dessen, der mit Unterwürfigkeit und Treue den Befehl seines Herrn und Meisters angehört hat.

Glückselige Früchte, erfreuliche Erfolge eines christlichen Verfahrens! Tröstlicher Beweis der Gewalt, welche die Lehre des Friedens, der Vergebung, der Versöhnung, der Geduld und der Selbstverleugnung über die Herzen zweier Brüder ausgeübt hat! Quelle der süßesten Freuden für jene beiden gehorsamen Herzen, für alle die, welche brüderliche Liebe und Eintracht lieben, und für die Kirche, deren Glieder sie sind, und die sie dadurch stärker und geehrter machen! -

II.

Ist man aber durch ein solches Verfahren nicht zum Ziele gekommen, hat man auf ein Herz gestoßen, das so sehr in den Stricken des Versuchers gefangen war, daß es der brüderlichen Liebe Widerstand leisten, und das, was Recht und Billigkeit erfordert, verweigern konnte, - meint ihr wohl, m. Br., nun das Recht zu haben, die Verhärtung und den Trotz eures Bruders zu veröffentlichen? Glaubt ihr etwa nun von der Verpflichtung zur Sanftmuth, zur Mäßigung, zur möglichsten Geheimhaltung des Fehlers eures Nächsten entbunden zu sein? Meint ihr, jetzt sei es zu entschuldigen, wenn ihr euch euern bittern Empfindungen überließet und so das Unrecht, was euch ein anderer gethan, aller Welt erzähltet? Glaubt ihr wirklich, nun ohne Sünde den Ruf eures Bruders in Gefahr bringen zu dürfen? O m. Br., wie arg würden sich die betrügen, welche solche Gedanken in ihre Seele dringen ließen, und die schwach genug wären, danach zu verfahren! Wisset ihr nicht, ihr die ihr so aller Geduld und Langmuth entbehrt, - so müßte man ihnen sagen, - wes Geistes Kinder ihr seid? Haltet ein, dämpft dieses sträfliche Feuer, hemmt diese Ausbrüche, legt eurem Munde einen Zügel an; das ist nicht die Weise, in der ein Christ zu verfahren hat; — oder, wenn ein solcher Mensch an die Heilsbotschaft des Evangelii glaubt, wenn Jesu Wort, dessen, der selbst das ewig Fleisch gewordene Wort ist, noch einiges Ansehn über ihn ausübt, so wollen wir zu ihm sagen: „Jünger Jesu Christi, erkenne deine Verwirrung und die Sünde, die schon in deiner Seele lebendiger zu werden begann.“ Dein Bruder hat nicht auf deine brüderlichen Vorstellungen hören, er hat nicht die Maßregeln einstellen wollen, die dir schädlich sind, er ist nicht in sich eingekehrt, deine Gründe haben ihn nicht überzeugt; - deßungeachtet, beruhige dich. Wenn du nun gereizt bist, und Gefahr läufst ihn in diesem Zustande mit Worten oder mit Thaten zu beleidigen, so berechtigt das schon zu der Vermuthung, daß du auch den ersten Schritt nicht in recht christlicher Weise gethan hast; daher mäßige dich und hüte dich, deine Bitterkeit gegen ihn auszulassen. Aber hast du auch mit Aufrichtigkeit, Mäßigung und Weisheit den ersten Rath oder vielmehr Befehl deines Erlösers befolgt, so befolge nun auch den zweiten. Denn also spricht der Herr: „Höret dich dein Bruder nicht, so nimm noch einen oder zween zu dir, auf daß alle Sache bestehe auf zweier oder dreier Zeugen Munde.“ Sprich dich nur gegen ein oder zwei Freunde aus, die dein Vertrauen verdienen, die Christen sind, die in allgemeiner Achtung stehn, selbst in den Augen deines Beleidigers, die auf ihn von Einfluß sein können, deren Urtheil, Talenten, Rechtschaffenheit und Frömmigkeit er Gerechtigkeit widerfahren läßt und auf deren Umsicht und Zartheit du rechnen kannst. Mit solchen gehe hin zu deinem Bruder. Dort in Gegenwart dieser christlichen Freunde setze den Gegenstand deiner Beschwerden auseinander, mit derselben Sanftmuth, mit derselben Mäßigung, mit derselben Liebe, mit der du es das erstemal zu thun verpflichtet warst; mache ihnen den Streitpunkt klar, belehre sie über die dabei obwaltenden Umstände; jeder von euch führe leine Gründe an; diese Freunde werden dann Mittel zur Verständigung und die zur Versöhnung geeigneten Ausdrücke vorschlagen, und während sie mit Freimüthigkeit und Sanftmuth ihre Ansicht über die Lage der Sache, die zu dem Zwiste Veranlassung gegeben, darlegen, so werden sie zugleich durch Beweggründe, die aus der christlichen Frömmigkeit herfließen, zum Frieden ermahnen. Da wirst du sehen können, ob ihr Unheil dem Deinigen entspricht; du wirst dich überzeugen können, ob deine Ansprüche begründet sind, du wirst dich verpflichtet fühlen auch deinerseits der Eintracht zu Liebe einige Opfer zu bringen. Wenn dies Verfahren den Beleidiger rührt, wenn er den Ermahnungen dieser Freunde nachgiebt, - dann ist das Aergerniß vermieden. Man hat der Welt das traurige Schauspiel zweier sich streitender Brüder nicht gegönnt, man hat von der heiligen Religion, die man bekennt, keine schlechte Meinung erweckt, man hat sie nicht der Verachtung ausgesetzt. Und was noch mehr ist, man hat seinen Bruder gewonnen; ja man hat ihn wahrhaft gewonnen; es ist ein wahrhaftiger Gewinn, er ist dem Geiste des Trotzes und der Ungerechtigkeit entrissen, in dem er einen Augenblick verharret hatte; sein Herz hat sich aufs Neue den Beweggründen christlicher Frömmigkeit, der Liebe die aus dem Glauben an Jesum Christum kommt, zugänglich für die Liebe zum Frieden und die zarte Wege des Gewissens empfänglich gezeigt. Man hat seinen Bruder gewonnen; man hat ihn der Kirche wieder gegeben, welche mit Schmerz diejenigen als für sie Verlorne ansieht, welche die Lehren und Grundsätze auf denen sie ruht, der Verlästerung aussetzen, welche durch ihr Betragen die heiligen Gesetze der christlichen Liebe entehren. -

III.

Von einem solchen kann man freilich wenig mehr hoffen, der diesen zweifachen Versuchen, welche der Herr seinen Schülern anbefiehlt, um einen Bruder, der gegen seinen Nächsten gesündigt hat, wieder zu gewinnen, Widerstand leistet, der es verweigert sich zu versöhnen, oder fortfährt das zu thun, was dem augenscheinlich schädlich ist, der ihn zu einem gerechten und liebevollen Betragen auffordert, und nicht nachläßt ihn dadurch mit zeitlichen oder geistigen Verlusten zu bedrohen, die er abzuwehren verpflichtet ist. Ja ein solcher, der nicht auf die gerechten Vorstellungen hört, die ihm mit Liebe, mit Sanftmuth und Mäßigung im christlichen Geiste gemacht wurden, - er flößt den Jüngern Christi gerechte Furcht ein, daß sein Herz dem Evangelio des Heils noch nicht unterworfen, daß es durch dasselbe noch nicht bezähmt worden ist, daß er das Bedürfniß der Versöhnung mit seinem Gott den er so oft beleidigt hat, und gerade jetzt durch seinen Widerstand in die Bahn der Gerechtigkeit und des Friedens wieder einzulenken, beleidigt, - noch nicht gefühlt habe. - Indessen, was ist nun zu thun? Soll man ihn jetzt vor den weltlichen Gerichten verfolgen? Soll man jetzt der Welt ein solches ärgerliches Schauspiel geben? Der Christ bebt davor zurück. Er gedenkt an das Wort des Apostel Paulus (1. Cor. 6, 6 - 8.): „Ein Bruder hadert mit dem andern, dazu vor den Ungläubigen, (das hieß damals freilich vor den heidnischen Gerichten). Es ist schon ein Fehler unter euch, daß ihr mit einander rechtet. Warum lasset ihr euch nicht viel lieber Unrecht thun? Warum lasset ihr euch nicht lieber vervortheilen?“ Er gedenkt besonders an das Wort des Herrn selber (Matth. 5, 40. 41.) „so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und so dich jemand nöthiget eine Meile, so gehe mit ihm zwo.“ Er sehnt sich von ganzem Herzen danach den Frieden zu erhalten; er ist bereit Opfer zu bringen, um jeden Bruch und jedes Aufsehn zu vermeiden, um dem Bekenntniß seines Glaubens nicht Geringschätzung zuzuziehen. Wenn aber dringende Umstände, wenn wichtige Pflichten es gebieterisch erfordern, daß die in Rede stehende Sache zu Ende gebracht werde, - dann forscht er mit ganzer Seele danach, welches Mittel ihm noch bleibe; er fragt darum angelegentlich das Wort seines Meisters. Und was er sucht, das findet er. Auch selbst diesen Fall hat Jesus vorausgesehn. Sein Jünger findet, wenn er sieht, daß er die beiden früher angegebenen Wege vergeblich versucht habe, noch eine dritte Verfahrungsweise in unserm Texte angegeben; die freilich nicht mehr so geheim betrieben werden kann, als die beiden frühern, die jedoch nicht zu einer so großen Oeffentlichkeit führt, als wenn die Sache vor die Gerichte gebracht wird, und die jedenfalls noch ein Mittel darbietet, die vor den Augen der Welt blosgestellte Ehre der Kirche zu retten und zu zeigen, daß die Religion Jesu eben so wenig als ihre Bekenner Ungerechtigkeit und Zwietracht gut heißen können. Daher ist es nicht die Welt, zu der Jesus nun hinweiset, es ist die Kirche, deren Glied man ist. Er will, daß sie den Beleidiger ernstlich ermahne, und schon dadurch feierlich erkläre, daß die Grundsätze der christlichen Liebe durch seine Hartnäckigkeit verletzt sind. Er will, daß es ja nach der besondern örtlichen oder volksthümlichen Verfassung jeder Kirche für sie ein Mittel gebe, jedem, der sich ihr Mitglied nennt, durch die von ihm selbst anerkannten Vorsteher derselben über die Ungerechtigkeit seines Verfahrens Vorstellungen zu machen, und ihm die Mißbilligung, welche jeder wahre Jünger Jesu Christi gegen ein solches Betragen fühlen muß, öffentlich kund zu thun. Er will, daß dem Schuldigen zu Gemüthe geführt werde, daß die Versöhnlichkeit eine der vornehmsten Christenpflichten ist, und daß ein jeder, der sich weigert eine Ungerechtigkeit anzuerkennen, sie wieder gut zu machen oder wenigstens damit inne zu halten, - daß jeder, der die ihm angebotene Versöhnung und die Mittel zum Frieden, die man ihm entgegen trägt von sich stößt, der That nach aufgehört hat ein Jünger Jesu zu sein. Und höret er selbst nicht mehr auf solche Erinnerungen „höret er die Gemeine nicht,“ höret er sie nicht in denen, welche ihre verfassungsmäßigen Organe sind, - dann hat sie das Recht, ihm eben durch ihre Vorsteher zu erklären, daß er, so lange er sich in einer solchen Gemüthsverfassung befindet, ein Aergerniß gebe, gegen das sie sich öffentlich erkläre, „daß sie ihn als einen Heiden und Zöllner halten müsse.“ Doch sollen diese Worte nicht das mindeste Gefühl von Haß in dem Munde Jesu ausdrücken. Sie sollen nur erklären, daß ein hartnäckiger Beleidiger als dem Geiste des Christenthums so fremde, so gar nicht zur Kirche des Herrn gehörig angesehn werden muß, wie ein Heide und Zöllner, die das Evangelium noch gar nicht kennen, so wenig geeignet in der Gemeinschaft der Jünger des Herrn zu bleiben, als die, welche noch nie darin gewesen sind, und daß er deshalb, ohne daß man ihn darum hassen und aufhören dürfe für ihn zu beten, aus derselben entfernt werden müsse, so lange bis er das Aergerniß abgethan, das er seinen Brüdern gegeben, die durch seine Gegenwart in ihrer Mitte nur gestört werden würden.

Sehet da, m. Br., die Vorschriften, die uns Jesus gibt. Ich wende mich jetzt noch einmal zu denen, die sich in dem Falle befinden, von einem Bruder beleidigt zu sein, ich rufe ihnen noch einmal die Worte ihres Heilandes zu, die allein rechte Gewalt über Menschenherzen auszuüben vermögen. Du, der du dich einen Christen nennst, der du das Evangelium Jesu Christi bekennst: „sündiget dein Bruder an dir, so gehe hin und strafe ihn zwischen dir und ihm allein. Höret er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Höret er dich nicht, so nimm noch einen oder zween zu dir, auf daß alle Sache bestehe auf zweier oder dreier Zeugen Mund. Höret er die nicht, so sage es der Gemeine. Höret er die Gemeine nicht, so halte ihn als einen Heiden und Zöllner.“ Aber hüte dich, daß du die letzten Worte nicht mißverstehst. Sie sollen dich nicht zum Haß aufregen. Sie zeigen dir nur an, daß es auch ein feierliches Mittel gibt, um ihn auf den rechten Weg zu führen, und daß du dies anwenden darfst; sie lehren dich, daß Liebe der Grund deiner Seele sein soll, weil dein Beleidiger nur deßhalb denen gleich erklärt worden ist, die das Evangelium noch nicht kennen, weil er in seinem Mangel an Liebe verharret.

Du aber, der du deinen Bruder beleidigt hast, du, der du ihn zu dir eilen siehst voll Eifer, den Befehlen des Herrn nachzukommen, o höre auch du, was hier gesagt ist, höre auch du, was Jesus spricht. Wenn du widerstehst, wenn du dich weigerst, deinem Bruder seine gerechte Forderung zuzugestehn, wenn du ungeachtet des Zuredens frommer Freunde, die dich dahin zu bringen suchen, dein Unrecht anzuerkennen und wieder gut zu machen, wenn du dennoch nicht diesen Bruder aufnimmst mit derselben Liebe, die er gegen dich kund gegeben, indem er sich dir genähert hat, wenn du nicht auf seine gerechten Vorstellungen hörst, und jeder Ermahnung unzugänglich bleibest, wenn du dich nicht erschüttern lässest durch christliche Vorhaltungen, o so denke, ich beschwöre dich, denke an das, was Jesus sagt. Er sagt, daß so lange du nicht zu Gesinnungen der Versöhnung, der Gerechtigkeit, des Friedens und der Liebe zurückgekehrt bist, du nicht sein Jünger sein kannst. Er selbst erklärt dich für ausgeschlossen aus seiner Kirche. Mögen Menschen diese Erklärung der Ausschließung über dich ausgesprochen haben oder nicht, - es ist doch nur zu gewiß, daß du sie verdient hast, und daß der Herr sie auf dich anwendet. Ach es ist nur zu gewiß, daß du noch zu denen gehörst, „die draußen sind“ denn in deinem Innern hat noch das Evangelium keine Gewalt und kein Ansehn. Es ist nur zu gewiß, daß du dich ausgeschlossen hast von der heiligen Gemeinschaft mit Jesu und mit denen, die ihn lieben, die ihm dienen und gehorchen. O wenn du ein Jünger Jesu sein willst, so kehre wieder! kehre wieder und gieb den brüderlichen Bemühungen nach, die dein Bruder es sich hat kosten lassen „um dich zu gewinnen,“ öffne ihm deine Arme, erkenne dein Unrecht an, versöhne dich, sei ein Christ!

Wahrlich, m. Br., auf das Herz des Christen werden diese Worte Jesu die heilsame Wirkung ausüben, den Fortgang der Streitigkeiten, der Kälte, der Mißverständnisse zu hemmen; ja derjenige, der wahrhaftig gefühlt hat, daß er einer Versöhnung bei Gott bedarf, der diese Versöhnung in Jesu Christo gesucht und gefunden, der sie zu würdigen weiß, der sie genießt und mit unaussprechlicher Wonne ihre Süßigkeit schmeckt, ein solcher wird, und zwar nach dem Grade der Tiefe, in der er selbst die Barmherzigkeit Gottes in Christo Jesu gegen ihn erfahren hat, bereit sein zur Liebe und zur Mäßigung bei dem Unrecht, das er zu erdulden hat, zur Verzeihung der Beleidigungen, zum Entgegenkommen bei brüderlichen Friedensvorschlägen, zum begierigen Ergreifen der Gelegenheit, die sich ihm irgend darbietet, die gestörten Verhältnisse wieder herzustellen; ja in dem Maße er selbst von seinem sündlichen Zustande vor Gott überzeugt ist, in dem Maße er eindringt in diese unergründliche Liebe, vor der er voll Erstaunen, Bewunderung und Dankbarkeit anbetend niederfällt, in demselben Maße wird er jede Ursache des Streites zwischen sich und seinem Bruder vermeiden, wird bereit sein jene erste Empfindung der Gereiztheit und der Eigenliebe zu überwinden, wird gerne alles aufbieten um Versöhnung zu erhalten, in demselben Maße aber wird er auch andrerseits gerührt werden von den brüderlichen Schritten dessen, gegen den er gesündigt, und wird bereitwillig dieselben benutzen, um sich der Last, die sein Herz beschwert, zu entladen und der süßen Früchte wiederhergestellter Eintracht und wieder gut gemachten Unrechts zu genießen. O hier möchte ich ausrufen: Theures Evangelium, du behältst den Sieg. Ueberall wo es sich darum handelt, das zu thun, was gut ist, was zum Frieden dient, was zur Erhaltung, Befestigung und Heiligung aller menschlichen Verhältnisse beiträgt, überall wo es gilt, wahres Glück zu schaffen, und Unzufriedenheit zu verbannen, - da bist du das wirksame Mittel. O Evangelium meines Erlösers, du bist die Kraft Gottes zur Seligkeit allen denen, die glauben, und eben dadurch bist du der fruchtbare Samen aller der Segnungen, die Brüder durch Brüder genießen können. Wahrlich, m. Br., wenn ihr euch einmal denkt, daß alle Mitglieder unsrer Gemeine wahrhaftige, aufrichtige Christen wären, denen es am Herzen läge, die Vorschriften Jesu zu befolgen, und besonders der Regel nachzukommen, die er uns heute vorlegt, - o welche liebliche Eintracht, welcher Friede, welches Glück, welche heilige Gemeinschaft würde dann unter denen herrschen, aus denen diese kleine Heerde besteht, - welch schönes Beispiel würden sie geben, welch erfreulichen Beweis von der Kraft des Evangeliums! Wie würde allen Streitigkeiten vorgebeugt, oder wenn sie einmal entstanden, wie bald und ohne Aufsehn würden sie beigelegt werden! Wie würde jeder eilen, die Versöhnung zu suchen und sie von denen anzunehmen, die sie ihnen entgegen trügen. Nun wohlan, thut also, ihr, die ihr von dem reinen Evangelium Zeugniß ablegen wollt! nehmt euch mit des Herrn Hülfe vor, sorgfältig allen Anlaß zu Streitigkeiten zu vermeiden, niemals absichtlich eurem Bruder Schaden zu thun; nehmt euch vor, Alles zu versuchen, um euch mit euren Brüdern zu versöhnen, dazu die Mittel anzuwenden, die euch Jesus lehrt und anempfiehlt, euch nicht jener Trockenheit oder Empfindlichkeit hinzugeben, die so oft kleine Mißverständnisse, die sich mit leichter Mühe hätten beseitigen lassen, zu ernstlichen Zwistigkeiten steigert. Welch schönes Zeugniß, wenn man hier unter uns, die wir uns in einer so ganz eigenthümlichen, abgesonderten Lage befinden, nur die ,völlig dem Christenthum angemessene Weise fänden, Streitigkeiten zu schlichten, welch schönes Zeichen, daß wir nicht vergeblich den Namen evangelischer Christen führen. Denn wahrlich es ist nicht unser Name, der uns selig machen kann, es ist deine Erbarmung, o mein Gott in Christo Jesu unserm Herrn; es ist nicht der Name, den wir führen, welcher uns heiligt und der uns die Liebe gibt, deren Mangel sich, ach noch so oft, bei uns fühlbar macht, es ist die Wirkung deines heiligen Geistes in unsern Herzen. O gib uns diesen deinen Geist, vermehre in uns den Glauben an das Evangelium Jesu Christi, durchdringe uns mit dem Geiste dieses Evangelii, damit unser Glaube thätig sei durch die Liebe gegen alle und reich sei an Früchten des Friedens und der Versöhnung, der Verträglichkeit, der Freundlichkeit, der Geduld und Gütigkeit. - Amen.

Quelle: http://glaubensstimme.de/doku.php?id=verzeichnisse:quellen:karlshuld

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/v/valette/die_vorschriften_des_herrn.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain