Quandt, Emil - Die sieben pastoralen Sendschreiben der Offenbarung Johannis - VI. Das Sendschreiben an den Engel in Philadelphia.
Offenb. Joh. 3, 7-13.
Und dem Engel der Gemeine zu Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der austut, und Niemand zuschließt, der zuschließt, und Niemand auftut: Ich weiß deine Werke. Siehe, ich habe vor dir gegeben eine offene Tür, und Niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort behalten und hast meinen Namen nicht verleugnet. Siehe, ich werde geben aus Satanas Schule, die da sagen, sie sind Juden, und sind es nicht, sondern lügen. Siehe, ich will sie machen, dass sie kommen sollen und anbeten zu deinen Füßen und erkennen, dass ich dich geliebt habe. Dieweil du hast behalten das Wort meiner Geduld, will ich auch dich behalten vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über der ganzen Welt Kreis, zu versuchen, die da wohnen auf Erden. Siehe, ich komme bald. Halte, was du hast, dass Niemand deine Krone nehme. Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes; und soll nicht mehr hinaus gehen. Und will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen des neuen Jerusalems, der Stadt meines Gottes, die vom Himmel hernieder kommt, von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinen sagt. Amen.
Philadelphia hat den Namen von Attalus Philadelphus, der die Stadt im Jahre 154 vor Christo erbaute, und existiert unter dem türkischen. Namen Allaschehr, d. i. Gottesstadt, noch heute. Infolge wiederholter Verwüstungen durch Erdbeben war die Stadt in der apostolischen Zeit eine der kleinsten und unbedeutendsten des römischen Reiches. So ist denn auch die christliche Gemeinde dort nur eine kleine gewesen; von wem und wann sie gegründet worden ist, ist nicht bekannt.
Kap. 3, Vers 7. Und dem Engel der Gemeinde zu Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der austut und Niemand zuschließt, der zuschließt und Niemand austut. Die Bezeichnungen, die der Herr sich dem Engel der philadelphischen Gemeinde gegenüber gibt, sind zwar nicht aus der Beschreibung seiner Erscheinung, Kap. 1, 13-17, entnommen, stehen aber doch in Zusammenhang mit derselben. Das sagt der Heilige; in jener Erscheinung drückte sich die göttliche Heiligkeit des erhöhten Herrn in seinem wie die Sonne leuchtenden Angesichte aus. Das sagt der Wahrhaftige, der das echte Wesen der Gottheit hat, wahrhaftiger Gott von Gott in Ewigkeit geboren ist, wie er bei jener Erscheinung mit silbernem Haupt und Haar sich als den Ersten und den Letzten vorgestellt hatte. Seine wahrhaftige Gottheit betont hier der Heiland, damit der Engel von Philadelphia Angesichts der feindlichen Juden, die ihn bedrängen, rühmen könne: Ist Gott für mich, so trete gleich Alles wider mich. Seine göttliche Heiligkeit betont er, damit der Engel im Kampfe mit denen, die da sagen, sie seien das rechte Israel, so sie doch daran lügen, des Sieges sich zuvor freue, da der Gott für ihn ist, dem gottlos Wesen, Unwahrheit und Lüge nicht gefällt und vor dem nicht bleibt, wer böse ist. Etwas Besonderes, von jener Erscheinung in Kap. 1 nicht Abhängiges kommt erst von den Worten an: Der da hat den Schlüssel Davids. Der Ausdruck sieht auf Jesaias 22 zurück, wo es von Eljakim, dem Oberhofmeister des königlichen Hauses zur Zeit des Hiskias heißt: „Ich will die Schlüssel vom Hause David auf seine Schulter legen, dass er austue und Niemand zuschließe, dass er zuschließe und Niemand austue.“ Das Haus Davids wird als Sinnbild und Vorbild des messianischen Reiches angesehen; und Eljakim, der das Verfügungsrecht über das Haus Davids hatte, das Recht zu entscheiden, wem es geöffnet werde, wem es geschlossen sein sollte, erscheint als Typus Christi, der allein Gewalt hat über sein Himmelreich auf Erden und allein entscheidet über Zulassung und Abweisung. Indem aber der Herr sich dem Engel zu Philadelphia als den großen göttlichen König aus dem Hause Davids und den alleinigen Inhaber der wahrhaftigen Davidsschlüssel, der Schlüssel des Reiches Gottes ankündigt, will er ihm sagen: Wie sehr sich auch die feindlichen Juden brüsten mögen, als wären sie und sie allein die Inhaber des Reiches Gottes, so ist doch ihr Ruhm vollständig eitel. Denn nur Christus schließt das Reich Gottes auf; da sie an ihn nicht glauben, so sind sie nicht darin; und Christus verschließt das Reich Gottes; da und so lange sie Christum verwerfen, ist es ihnen verschlossen.
Vers 8. Ich weiß deine Werke; siehe, ich habe vor dir gegeben eine offene Tür, und Niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort behalten und hast meinen Namen nicht verleugnet. Das Auge des Herrn ruht mit Wohlgefallen auf den Werken, auf dem Gesamtzustand der philadelphischen Gemeinde. Wie aber ist es zu verstehen, dass die lobende Schilderung der Werke von Philadelphia mit der Eröffnung beginnt: Ich habe vor dir gegeben eine offene Tür, und Niemand kann sie zuschließen? Soll man annehmen, dass die eigentliche Charakteristik der schönen Werke von Philadelphia erst in der zweiten Hälfte des Verses gegeben, zuvor aber in der Lebhaftigkeit der Rede eine Verheißung eingeschoben sei? Aber dann müsste man das Perfektum zum Futurum machen; und die Stellung einer Verheißung am Anfang wäre etwas ganz Absonderliches, das in allen andern Sendschreiben nicht vorkommt. Viel natürlicher ist es doch, das Perfektum als Perfektum zu behandeln und zu lesen: „Ich habe vor dir eine offene Tür bisher schon gegeben“ mit der aus dem vorangehenden Ausdruck: „Ich weiß deine Werke“ sich von selber ergebenden Ergänzung: und kraft der von mir geöffneten Tür wirktest und wirkst du; woran sich dann das „denn du hast eine kleine Kraft rc.“ folgerecht anschließt. Dass eine offene Tür da ist, ist das Werk des Herrn, der sie gegeben; dass der Engel und die Gemeinde die offene Tür benutzt, darin besteht ihre gesegnete Wirksamkeit. Das biblische Bild von der Tür ist ein sehr vieldeutiges Bild; anders muss dies Bild gedeutet werden, wo der Herr von sich selber sagt: „Ich bin die Tür“ (Ev. Joh. 10, 2. 7.9); anders, wo er sagt: „Ich stehe vor der Tür und klopfe an“ (im Sendschreiben an Laodicea Offb. Joh. 3, 20); anders, wo Paulus sagt: „Gott hat den Heiden die Tür des Glaubens aufgetan“ (Apostelgesch. 14, 27) und anders, wo Paulus sagt: „Betet für uns, dass Gott uns die Tür des Wortes auftue, zu reden das Geheimnis Christi.“ (Koloss. 4, 3). An unsrer Stelle kann nur die Frage sein, ob die Tür des Glaubens oder die Tür des Wortes gemeint sei. Ist die erstere gemeint, dann ist dieser Vers die direkte Anwendung des vorigen Verses auf den Engel von Philadelphia und seine Gemeinde; durch den Schlüssel Davids hat der Herr den Gliedern der philadelphischen Gemeinde die Tür des Glaubens geöffnet, den Eingang in das Reich Gottes verschafft. Aber diese Auslegung ist doch äußerst matt; es ist bei einer christlichen Gemeinde mehr als selbstverständlich, dass ihr vom Herrn einmal die Tür des Glaubens geöffnet ist, sie wäre ja sonst gar nicht vorhanden; man begreift nicht, warum das noch besonders und gerade bei dieser Gemeinde gesagt sein soll; im Gewande dieser Deutung liest sich der Satz in der Tat wie eine überflüssige Bemerkung. Es klärt sich Alles, wenn die offene Tür die Tür des Wortes, die Missionstür ist. Der Herr hat dem Engel von Philadelphia günstige Gelegenheit zur Ausbreitung des Reiches Gottes gegeben, und er hat sie gewissenhaft benützt. Die Gemeinde von Philadelphia hat nicht nur selbst Eingang in das Reich Gottes gewonnen, sondern durch sie wird vielen Andern derselbe Eingang gegeben; und kein Wüten der ungläubigen Juden, keine Verfolgungen können es verhindern, dass die Schar der Gläubigen sich mehrt. Die Gelegenheit zur Ausbreitung des Reiches Gottes unter den Juden und Heiden kam vom Herrn; die Philadelphier aber benutzten sie dankbar und bemühten sich, aus Juden und Heiden Seelen für das Lamm zu werben. Auch der evangelischen Kirche unserer Tage hat der Herr eine offene Missionstür gegeben, eine Tür, gegen welche die offene Tür der philadelphischen Gemeinde und der ganzen Kirche des apostolischen Jahrhunderts nur wie ein winziges Pförtlein war. Es ist eines der großartigsten Zeichen der Zeit, in der wir leben, dass infolge der geographischen und ethnographischen Entdeckungen und des ins Wunderbare gesteigerten Weltverkehrs ein Schlagbaum nach dem andern zwischen Land und Land, zwischen Volk und Volk verschwindet und eigentlich die ganze Welt uns jetzt offen steht für das Werk der Evangelisation. Wir haben uns gewöhnt an die Lokomotive mit ihrem schrillen Schrei und rasselnden Lauf und denken uns kaum noch etwas dabei; aber sie ist das große Symbol des modernen Kulturlebens, das uns nicht nur zeigt, wie rasch wir in unsrer Zeit leben, sondern auch wie viel Zeit wir in unsrer Zeit ersparen und wie die verschiedenen Teile der Welt sich näher gerückt sind. Wir leben im Zeitalter der Entfernung der Entfernungen und damit im Zeitalter einer weit geöffneten Tür. Umso dringlicher ertönt an uns der Missionsruf: Zion, durch die dir gegebene Tür brich herfür, brich herfür! Denn du hast eine kleine Kraft -“ das wichtige Wörtlein denn bezieht sich nicht bloß auf das Haben der kleinen Kraft, sondern und viel mehr auf das weitere: „und du hast mein Wort behalten und meinen Namen nicht verleugnet.“ Der Sinn ist: Du übst eine eindringende Wirksamkeit für Mehrung meines Reiches, weil du trotz deiner kleinen Kraft mein Wort hast, hältst, treibst, ausbreitest. Die kleine Kraft von Philadelphia ist nach der Analogie der Schwachheit St. Pauli zu beurteilen, von der er sagt: Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark. Auch nicht ein Schatten von Tadel liegt in dem Wort: „Du hast eine kleine Kraft“, im Gegenteil durch die Verbindung mit dem, was folgt, enthält es ein großes Lob. Je länger man in der Bibel und in der biblischen Weltanschauung lebt, desto mehr wächst man in der Erkenntnis der Größe des Kleinen. Wie groß ist das kleine Senfkorn, das kleine Kind, das kleine Bethlehem, die kleine Erde, dies arme und doch so reiche Bethlehem im heiligen Lande des Universums. Gott ist groß durch das Große, aber noch größer durch das Kleine; Er hat seine größten Wunder mit zerstoßenen Rohren getan; und die kleine Kraft des kleinen Philadelphia war ihm gerade recht als Gefäß für Ausstrahlung seiner Reichsherrlichkeit und Größe. Die prosaische, aber richtige Deutung der kleinen Kraft läuft darauf hinaus, dass die Gemeinde zu Philadelphia wenig Glieder hatte und dass diese wenigen Glieder weder irdische Schätze, noch irdische Ehren, noch irdische Talente und Genialitäten aufzuweisen hatte. Es war eine kleine, fromme, treue, einfältige Gemeinde, die weder Ruhm hatte, noch Ruhm haben wollte, etwa wie die evangelische Brüdergemeinde in ihren besten Tagen, die ja oft genug und mehr, als gut war, mit Philadelphia verglichen worden ist und sich verglichen hat. Bengel und Andere beziehen „die kleine Kraft“ eng auf den Vorsteher, der keine hervorstechende Begabung besessen und nicht durch glänzendes Redetalent und Ähnliches imponiert habe; Bengel sagt: er machte wohl keine sonderliche Figur. Es hat diese Auslegung etwas sehr Tröstliches für bescheidene Pastoren, die sich vor Gott und Menschen bewusst sind, nicht fünf Zentner, auch nicht zwei, sondern nur einen empfangen zu haben. Sie ersehen aus unserm Verse zu ihres Glaubens Stärkung, dass man auch mit kleiner Kraft dem Herrn Wohlgefälliges leisten kann, wenn man nur treu sein Wort beobachtet („du hast mein Wort behalten“), nur treu und frei und offen sich zum Herrn und zur Sache des Herrn bekennt („du hast meinen Namen nicht verleugnet“). Es soll kein treuer Arbeiter im Weinberge des Herrn verzagen und sagen: „Mein Scherflein verschwindet unter den großen Gaben Anderer, meine Armut kann Niemand reich machen, meine Schwachheit kann Niemand stärken!“ Alle Knechte können gleiche Gaben, alle Sterne gleichen Glanz nicht haben; Eins nur will der Heiland, dass man treu über dem gegebenen Pfunde sei.
Vers 9. Siehe, ich werde geben aus Satanas Schule, die da sagen, sie sind Juden und sind es nicht, sondern lügen; siehe ich will sie machen, dass sie kommen sollen und anbeten zu deinen Füßen und erkennen, dass ich dich geliebt habe. Das Wörtlein „siehe“ kommt in diesem Verse zweimal vor; es begegnete uns schon im vorigen Verse, und es kehrt noch einmal wieder im elften Verse. Es ist also so recht ein Hauptwort im Sendschreiben an Philadelphia. Im Alten Testamente kommt es seltener vor, im Neuen Testamente oft, am häufigsten in den Evangelien des Matthäus und Lukas, obwohl die johanneischen Stellen: „Siehe, das ist Gottes Lamm“, „siehe, ein rechter Israeliter“ bekannter sind. Das Wort will überall, wo es vorkommt, zur Aufmerksamkeit anregen, will sagen, dass etwas kommt, was, wenn auch noch so sonderbar, doch ganz gewiss ist. Die Synagoge des Satans, die Juden, die sich so nennen und es nicht sind, kennen wir aus dem Sendschreiben an Smyrna Offb. Joh. 2, 9 als Kinder Abrahams nach dem Fleische, aber nicht nach dem Geiste, deren Synagogentum sich durch die Lästerung des Nazareners in den Dienst Satans gestellt hatte. Der Herr gibt diese Juden, wird sie geben, nämlich dazu, dass sie kommen und anbeten, wie das Folgende: „Siehe ich will machen, dass sie“ noch nachdrücklich erklärt. Die Juden als Feinde der Gemeinde waren da; aber dass sie kommen und anbeten, das gibt und macht der Herr; und er macht und gibt es der philadelphischen Gemeinde zum Lohne ihrer treuen Wirksamkeit bei kleiner Kraft. Aber was ist es denn eigentlich, was hier der Herr zu machen und zu geben verspricht? Ist die Bekehrung der Juden oder doch einer ganzen Anzahl von Juden der Lohn der Treue? Es ist das die alte und verbreitetste Auslegung. Die Juden werden sich niederwerfen zu den Füßen der Christen, d. i. sie werden den inmitten der Gemeinde lebendigen Herrn als den rechten Messias anerkennen und verehren; und sie werden erkennen, dass der Herr die Gemeinde geliebt hat, d. i. sie werden einsehen, dass die Gemeinde Christi die wahre Braut des Gottes Israels ist und nicht die Christo feindliche Synagoge; diese Erkenntnis wird sich in ihrem Bekenntnis ausdrücken, sie werden aussprechen, dass sie den Glauben der Gemeinde für den wahren halten. Man beruft sich für diese Deutung auch auf Jesaias 60, 14, wo es in genauerer Übersetzung dem rechten Israel heißt: „Es sollen unterwürfig zu dir kommen die Söhne deiner Dränger, und es sollen anbeten zu den Sohlen deiner Füße alle, die dich verachteten, und sollen dich nennen Stadt Jehovas, das Zion des Heiligen Israels.“ Aber gegen diese Deutung spricht doch einigermaßen der Ausdruck: „Ich werde geben aus des Satanas Schule;“ eine Synagoge, aus der Viele kommen und sich bekehren, könnte doch kaum Satanssynagoge heißen; und der Ausdruck „anbeten vor deinen Füßen“ wird doch nur mit Zwang „auf sich bekehren“ gedeutet, während es viel natürlicher ist, an die allgemeine und in der Bibel so oft vorkommende morgenländische Art der Huldigung und Ehrenbezeugung zu denken, wie Abraham die Kinder Heth anbetete und Cornelius den Petrus (Apostelgesch. 10, 25). Die Juden sollen Respekt bekommen vor dem Christentum; ihr feindseliges Verhältnis soll der ehrfürchtigen Anerkennung des Waltens der göttlichen Liebe, wie sie im christlichen Gemeindeleben sich zeigt, Platz machen. Dass eine solche mehr äußerliche Huldigung für manchen Juden die Brücke zur aufrichtigen Bekehrung werden kann, zeigt die Judenmission zu allen Zeiten.
Vers 10. Dieweil du hast behalten das Wort meiner Geduld, will ich auch dich behalten vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die da wohnen auf Erden. Wieder eine köstliche und tröstliche Verheißung für den Engel und seine Gemeinde. Sie wird ihm gegeben, weil er behalten hat das Wort der Geduld Christi, d. i. das Wort vom Kreuz als das Wort von dem geduldigen Leiden und Sterben des Anfängers und Vollenders unsers Glaubens und zugleich von dem geduldigen Standhalten, welches der Herr von allen seinen Jüngern fordert. Dies Geduldswort hat der Engel behalten, sorgfältig festgehalten und danach gelebt und gehandelt, und mit ihm seine Gemeinde. Darum will ihn auch der Herr behalten vor oder vielmehr, wie es wörtlich heißt, aus der Stunde der Versuchung: es ist nicht gemeint, dass er gar nicht hineingeraten sollte in die Stunde der Versuchung, sondern vielmehr dass der Herr ihn aus der Stunde der Versuchung herausretten will, mit andern Worten, dass der Herr ihn während der Stunde der Versuchung mit seiner besonderen Gnade bewahren und schirmen will, so dass er an Leib und Seele unbeschädigt daraus hervorgehen soll. Die Stunde der Versuchung ist die Zeit der leicht zum Abfall führenden Verfolgung, in welcher, wo es möglich wäre, auch die Auserwählten zur Glaubensverleugnung verführt würden; die Ausdrücke, dass die Stunde über den ganzen Weltkreis zu versuchen, die da wohnen auf Erden, kommen werde, zeigen, dass die Stunde als die ganze Weltzeit mit besonderem Einschluss der antichristlichen Endzeit gedacht ist. Am Ende der Tage vor der Zukunft Christi werden, wie die Offenb. Joh. das in ihren späteren Kapiteln dramatisch schildert, die Verfolgungen und Plagen ihren Gipfelpunkt erreichen, und nicht bloß Christen, sondern auch Nichtchristen, alle, die da wohnen auf Erden, werden ihren Anteil daran haben. Die philadelphische Gemeinde hat ihre Versuchungsstunde ja längst gehabt und überwunden; es ist sehr müßig, hin und her zu raten, ob die neronische Verfolgung oder welche andere spezielle Christenverfolgung gemeint sei.
Vers 11. Siehe, ich komme bald. Halte, was du hast, dass Niemand deine Krone nehme. Der Herr kündigt seine baldige Parusie an, nicht um zu schrecken, sondern um zu trösten. Es ist falsch zu deuten: „Die Zeit, wo die großen Verfolgungen hereinbrechen, ist nicht mehr fern,“ denn die Verfolgungen gehen doch nicht vom Herrn aus, sondern vom Widersacher des Herrn, es müsste also dann vielmehr heißen: Siehe, der Satan kommt bald. Vielmehr ist das hier für die Gemeinde angekündigte Kommen des Herrn sein erlösendes Kommen; er wird bald kommen, um der Verfolgung ein Ende zu machen und seine herausgeretteten treuen Jüngerseelen zu Bürgern des neuen Jerusalem zu machen. Das gnädige Entgegenkommen des Herrn soll den Engel zu desto treuerem Festhalten dessen, was er hat, ermuntern; denn eine Liebe ist der andern wert. Was der Engel hat, ist objektiv das Wort von der Geduld, subjektiv seine Treue; beides sollen Angesichts der verheißenen Durchhülfe des Herrn in den schweren Zeiten der Versuchung auf das sorgfältigste halten und bewahren. Dass Niemand deine Krone nehme - es geht nicht an, die Krone auf den herrlichen Zustand zu deuten, in welchem sich die Gemeinde schon hier auf Erden befindet, wie das z. B. der Liederdichter Winkler in dem trefflichen Liede: „Ringe recht“ tut, wenn er sagt: Halt' ja deine Krone feste, halte männlich, was du hast. Der Herr ermahnt hier ja eben den Engel männlich zu halten, was er hat zu dem Zweck, dass ihm Niemand den Kranz, die Krone nehme. Diese Krone ist, wie Offb. Joh. 2, 10 und an den andern vielen Stellen des Neuen Testamentes, die dieses Bild bringen, die Krone des Lebens, das ewige Leben als Siegerkranz. Diese Krone soll dem Engel einst zu Teil werden, nämlich dann, wenn der Herr kommt und der Knecht erfunden wird als einer, der bis ans Ende sein geistliches Gnadenbesitztum festgehalten hat. Die Räuber der Krone sind die Verfolger, die Verführer; sie rauben die Krone, ohne sie doch dadurch für sich zu gewinnen, wenn sie uns vom Glauben und von der Treue abwendig machen.
Vers 12. Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler im Tempel meines Gottes, und soll nicht mehr hinausgehen, und will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen des neuen Jerusalem, der Stadt meines Gottes, die vom Himmel herniederkommt von meinem Gott und meinem Namen den neuen. Dieses Sendschreiben ist das verheißungsreichste; dieser Vers bringt nun die Schlussverheißung für die Überwinder. Die Überwinder empfangen zwar in jeder der sieben Schlussverheißungen die Zusage hoher himmlischer Herrlichkeit, aber es findet sich doch in den verschiedenen Zusagen ein wenn auch noch so leiser Gradunterschied. In der philadelphischen Schlussverheißung scheint dem Überwinder, jedem, der in der Weise des Engels zu Philadelphia Überwinder wird, d. i. jedem, der in schlichter Erkenntnis der eignen kleinen Kraft erfolgreich und treu bis ans Ende im Dienste des Evangeliums wirkt, eine hervorragende Stellung im Reiche der Herrlichkeit zugesagt zu werden. Was der Herr den Tempel seines Gottes nennt, das ist ohne Frage das vollendete Gottesreich, das Reich der Herrlichkeit, die triumphierende Kirche. Der Pfeiler trägt den Tempel und schmückt den Tempel und ist so fest mit dem Tempel verbunden, dass er aus dem Tempel nicht hinausgehen kann (in diesem Ausdruck fließen Bild und Sache zusammen). In Beziehung auf das Nicht-hinaus-gehen-können sagt Bengel in seiner kindlichen und praktischen Weise: „So lange der Tempel selber steht, wird auch der Pfeiler darin stehen. Wenn einer in der Welt schon etwa viel zu bedeuten hat, ist ein General oder Gesandter oder Staatsminister, auf welchem ein Königreich als auf einer Säule ruhet, so kann er über eine Weile gestürzt und weggetan werden, dass man kaum weiß, wo er hingekommen ist. Aber ein Pfeiler in Gottes Tempel kommt nimmer hinaus.“ Indem die philadelphischen Überwinder als Pfeiler im Tempel Gottes bezeichnet werden, wird ihnen verheißen, dass, weil sie als Träger des Reiches Gottes sich in der Zeit bewiesen haben, sie auch in der Ewigkeit als solche anerkannt werden sollen; ferner dass sie als Zierden des Reiches Gottes in Ewigkeit prangen, ausstrahlend die Herrlichkeit des Herrn, der einst ihre kleine Kraft auf Erden so überschwänglich gesegnet hat; und endlich dass sie, was sie sein werden, für immer werden und bleiben sollen. Gegenüber den matten Vorstellungen von Himmel und Seligkeit, wie sie heutzutage landläufig sind in der Christenheit, ist das meditative Versenken in apokalyptische Verheißungen, wie diese, ein erfrischender Labetrunk; der Himmel ist kein seliges Einerlei, sondern ein reiches seliges Leben in wunderbarer Gliederung und Abstufung. Aber freilich wir können von diesen Dingen einer andern Welt, wo wir ewig sollen sein, nur stammeln und ahnen, wie die Kleinen in der Kinderstube von dem bewegten Leben der Großen und Erwachsenen. Säulen pflegten und pflegen Inschriften zu haben. Das Bild von der Säule wird daher noch nach dieser Beziehung weiter ausgemalt. Nicht an die Stirn des Überwinders, nicht an sein hohepriesterliches Diadem und Ähnliches ist hier zu denken, wenn es heißt: „Ich will auf ihn schreiben“, sondern an die Säule im Tempel ist zu denken; die Verheißung schreitet in demselben Bilde fort. Drei Inschriften sollen an der Säule prangen. Die erste Inschrift der Säule bezeichnet den Überwinder als Eigentum und Untertan und Kind Gottes ,,ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes.“ Die zweite Inschrift der Säule bezeichnet den Überwinder als Bürger und Glied des Reiches der Herrlichkeit - „ich will auf ihn schreiben den Namen des neuen Jerusalem.“ Die dritte Inschrift bezeichnet den Überwinder als Teilhaber an dem Triumphe und der Herrlichkeit Jesu Christi „ich will auf ihn schreiben meinen Namen, den neuen.“ Das neue Jerusalem als Bild der verklärten Gemeinde wird im 21. Kapitel der Offenbarung ausführlich beschrieben; der neue Name Christi ist der Name des erhöhten Christus, der neue Name bezeichnet sein neues Wesen im Gegensatz gegen seine Niedrigkeit und Knechtsgestalt auf Erden, seine Herrlichkeit, die er hat zur Rechten des Vaters.
Vers 13. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt. Bengel bemerkt zu diesem Verse: „Auch diesmal ist es uns gesagt. Fällt es bei Etlichen nebenhin, so soll der, wer ein Ohr hat, es hören und behalten, es im Herzen bewahren, von dieser Stelle an, nicht nur über die Gasse nach Haus, sondern auch beim Aufstehen und Niedergehen, auf allen Wegen und bei allen Gelegenheiten.“
Das Herz geht einem auf bei der Betrachtung einer so frommen und gesegneten Persönlichkeit, wie sie uns in dem geistlichen Haupte der Gemeinde zu Philadelphia begegnet, einer Gemeinde, die wie ein Territorium der unsichtbaren Kirche anmutet. Ihm gebührt unter den sieben Engeln die Palme; nur der Engel von Smyrna reicht an ihn heran und doch nicht ganz wegen seiner wenn auch noch so zart angedeuteten Ängstlichkeit und Furchtsamkeit. Der philadelphische Engel wird weder in den Zeilen, noch zwischen den Zeilen des Sendschreibens getadelt. Wie sehr auch er ein armer Sünder war wo gäbe es denn einen Reinen bei den Unreinen? -, so ist der gnädige himmlische Beurteiler doch nur seines Lobes voll, und er fordert nichts weiter von ihm, als dass er halten soll, was er hat, damit die ihm zugedachte Krone ihm nicht entwendet werde. In kleinen Verhältnissen lebend als Pastor einer kleinen Christengemeinde in einer kleinen Stadt, ohne hervorstechende Begabung, ohne äußerlich imponierende Erscheinung, dient er seinem Herrn und seiner Gemeinde und dem Reiche Gottes in allen Treuen, ohne Wanken und Schwanken, im großen Vertrauen auf das Wort des Herrn, das teure Evangelium. An Widersachern fehlt es ihm und seiner kleinen, schlichten Gemeinde nicht; wie in Smyrna, so auch in Philadelphia war eine feindselige Judenschaft mächtig und rührig zugleich. Aber auch der Feindseligkeit und der drohenden Verfolgung steht der Pastor von Philadelphia in seiner lauteren Demut und in seinem unerschütterlichem Gottvertrauen unverzagt gegenüber; er weiß, es kann ihm nichts geschehen, als was Gott hat ersehen und was ihm dienlich ist. Er ist umso unverzagter, als ihm von dem Herrn manche offene Tür gegeben wird zur Einwirkung auf ferner stehende Kreise; dankbar gegen den Herrn, benützt er jede neue Gelegenheit, die sich ihm zur Predigt des Wortes vom Kreuz und zur Mehrung des Reiches der Gnade darbietet; und mit dem schönen Berufe des Pastors vereinigt er in harmonischer Weise den ebenbürtigen Beruf des Missionars. Ernste Zeiten sind noch über ihn gekommen, Versuchungsstunden, deren Donner und Blitze an die Gewitterluft der Tage vor dem Jüngsten Tage mahnten, aber er hielt fest an dem Worte der Geduld und ward errettet aus allen Versuchungen der schweren Stunde; ja er hatte die Freude zu erleben, dass auch aus den Reihen der einst so feindseligen Judenschaft seinem treuen Ausharren und Wirken ehrfurchtsvolle Bewunderung und Anerkennung zuteilwurde. Dieselbe hat ihn nicht stolz gemacht; bei großem, erfolgreichen Wirken ist er seiner eignen kleinen Kraft sich bewusst geblieben bis ans Ende. So hat der Herr ihn krönen können, als er kam, ihn heimzuholen; und wenn wir selbst einst überwunden haben, werden wir ihn im ewigen Tempel unseres Gottes finden als ewige Säule mit der dreifachen Inschrift: Gott! Jerusalem! Jesus Christus!