Schmitz, Richard - Fleisch und Geist - Kapitel 2

Schmitz, Richard - Fleisch und Geist - Kapitel 2

Mit Vers 7 beginnt in Römer 7 ein Schriftteil, der das ergreifendste Selbstbekenntnis enthält, das wir in der ganzen Schrift finden. Es ist das schmerzvollste Klagelied, das je aus eines Menschen Herzen gekommen ist, ein Schattenbild ohne Licht. Laute vernehmen wir, vor denen wir am liebsten unsere Ohren verschließen möchten, und doch dringen sie mit einer Gewalt auf uns ein, der wir uns nicht erwehren können. Ein einziger Schrei der Verzweiflung ist es, hinter der eine Wirklichkeit steht, die sich uns jäh auftut als eine Wahrheit, der wir selber gegenübergestellt sind.

Schon im Innersten ergriffen wurden wir, als wir lauschten jener Tragöde mit dem Todesröcheln, die einer Vergangenheit des Apostels angehörte und von der wir uns sogleich sagen mußten, daß sie ein Erlegen darstellt, das niemandem erspart bleibt, der vom Lichtstrahl der Heiligkeit Gottes getroffen und aus dem Traum und Betrug des Sündenverderbens erweckt wird.

Aber nun, was hören wir jetzt? Ist es mit jener erschütternden Erfahrung nicht genug, die einst der Apostel gemacht hat? Darf nun nicht Frieden einkehren, der durch nichts mehr gestört wird, die Ruhe, der die Palme der Sicherheit fortan in die Hand gelegt ist? So wäre es, wenn Sünde nur Schuld wäre; aber sie ist zugleich eine Macht, ein Hang, der uns naturhaft innewohnt. Es wäre auch so, wenn mit der Auslöschung der Schuld zugleich der Trieb zum Bösen, die angeborene natur vernichtet und der Quell des adamitischen Verderbens für immer verstopft wäre. Das würde aber die Vollendung schon diesem Zeitleben sein.

Ganz überraschend kommt uns der Tempuswechsel des Apostels. Hat er bisher Vers 7 - 13 in der Zeitform der Vergangenheit geredet, so stellt er mit Vers 14 mit einem Male seine Rede unvermittelt um, um fortan in der Zeitform der Gegenwart zu reden. Er tut dies zugleich in der ersten Person der Einzahl, um diese bis zu Ende des Kapitels beizubehalten. Wir merken, daß er jetzt von einem eigenen Erleben redet, das in seine Gegenwart fällt.

Wir fragen erstaunt: Ist das, was der Apostel hier von Vers 14 ab sagt, in der Tat auf eine Erfahrung anzuwenden, die er nach seiner Bekehrung gemacht hat? Ist es wirklich ein Dauerzustand, den er beschreibt, der mit seiner Bekehrung kein Ende gefunden hat? Können wir die bewegliche Klage, die er hier führt, in Einklang bringen mit dem Siegeston, den wir an ihm gewohnt sind und dessen frohe Klänge in dem folgenden Kapitel 8 an unser Ohr herantreten? In der Tat sind diese Fragen verneint worden, und die Schwierigkeit wächst in dem Maße, als wir die Feststellung in dieser Linie fortsetzen. Bleiben wir vor der Hand bei der Frage stehen und sehen wir zu, wie man sich zu helfen gesucht hat. -

Die alten Ausleger vor Augustin sahen hier den Zustand des Unbekehrten beschrieben, und ihnen sind Tholuck, Meyer, Grau u.a. bis heute gefolgt. Es ist aber zu fragen, ob der starke Gegensatz, den Paulus hier von Vers 14 ab schildert, auf ihn in seinem unbekehrten Zustande anwendbar ist und ob dieser Gegensatz in einem unwiedergeborenen Menschen überhaupt vorhanden ist. Man muß den gewaltigen Ernst der Rede auf sich wirken lassen, und man wird merken, daß man denselben doch allzusehr abschwächen müßte, um die Ausdrücke, die der Apostel braucht, in den Mund eines unbekehrten Menschen zu legen. Nur die verflachten pelagianischen Anschauungen von der Verwerfung der Erbsünde konnten zu jener alten Auslegung führen, und nur die neueren rationalistischen Vorstellungen mit der einseitigen Betonung menschlicher Willensfreiheit konnten Anlaß geben, bewußt oder unbewußt zu ihr zurückzukehren. Man muß eben mit Tertullian schon in jeder Menschenseele „eine geborene Christin“ sehen, oder man muß mit Grau „dem besseren Teil des menschlichen Ichs mit dem höheren sittlichen Bewußtsein“ den Haß wider die Sünde beimessen, von dem der Apostel hier redet, oder aber Tholuck recht geben, wenn er befremdlicher Weise hier sagt: „Wie die Frage gewöhnlich gestellt wird, ob von dem Wiedergeborenen oder Unwiedergeborenen die Rede ist, erzeugt sie Mißverständnisse, insofern bei den letzteren sehr verschiedene Seelenzustände zu beachten sind und insofern der Begriff der Wiedergeburt selbst ein schwankender(!) ist“. Genau gesehen, halten wir es für unmöglich, daß der Apostel hier vom Stande eines unbekehrten Menschen redet. Th. Zahn bemerkt ganz richtig: „Der Zwiespalt zwischen dem Wollen des Guten und dem Vollbringen des Schlechten, wie er von Paulus in Römer 7.14 schonungslos geschildert wird, ist erst durch seine Bekehrung in ihn hineingekommen.“ -

Nebenher läuft eine Auffassung, die bei gläubigen Auslegern hie und da Eingang gefunden hat und dahin geht, daß der Apostel nicht von seiner Person redet, sondern „im Namen eines Menschen, der sich in solchem Streit befindet“. Es ist zuerst J. A. Bengel gewesen, der sich diese Ansicht zu eigen gemacht hat, und er bemerkt hierzu: „Dieser Streit wird hier zwar weitläufig beschrieben, die Sache selbst aber ist bei mancher Seele bald geschehen, was den Hauptstreit anbetrifft.“ Also eine vorübergehende Episode, - wobei schon unbeachtet bleibt, daß Paulus von diesem in ihm wogenden Streit als gegenwärtig redet zu einer Zeit, wo er als erprobter und bewährter Christ und Apostel schon dreiundzwanzig Jahre bekehrt ist und fast zwei Jahrzehnte im Dienste Gottes steht. Dazu ist gerade er ein Mann gewesen, der von Stunde seiner Bekehrung an in seltener Hingabe und Entschlossenheit ein gottgeweihtes Leben führte, wie er vordem ein rücksichtsloser Feind der Sache Christi war. Die Annahme, daß Paulus hier „im Namen eines Dritten“ rede, ist eine unzulängliche Aushilfe; er hätte dies auch besonders und deutlich sagen müssen. mit dieser Auslegungsweise, der sich andere Auslege der Bengelschen Schule anschließen, wird der Gemeinde Gottes kein Dienst geleistet. -

Aber es gibt noch eine andere Deutung unserer Stelle, welche bei gläubigen Auslegern eine größere Aufnahme gefunden hat und etwas Verfängliches besitzt, nämlich, daß Paulus sich hier des „historischen Präsens“ bediene, also wie Geschichtsschreiber bei Darstellung vergangener Dinge oftmals gern die Zeitform der Gegenwart anwenden. Diese Auffassung hat namentlich nach der Heiligungsbewegung, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzte, in der christlichen Erbauungsliteratur bei namhaften Vertretern bis heute eine weitverbreitete Aufnahme gefunden, allerdings mit der Einschränkung, daß hier an einen zurückliegenden Zustand gedacht sei, den man als den „Stand unter dem Gesetz“ bezeichnet. Man denkt sich diesen als eine „Krisis“, wie man von solcher bei einer Krankheit redet, die überwunden wird, wenn es zu einer Genesung kommt. Damit ist also gemeint eine gewisse Rückständigkeit im Glaubensleben, und man statuiert damit also zweierlei Christen, nämlich einmal solche, die Römer 7 noch nicht durchlaufen haben, und sodann solche, die zum dauernden Siegesleben nach Römer 8 durchgedrungen sind und Römer 7 hinter sich haben. Es ist Pearfall Smith gewesen, der in seiner Schrift „Knechtschaft und Freiheit“ dieser Auffassung besonders starken Ausdruck gab. Nach diesem Schriftsteller berichtet der Apostel von einer traurigen Erfahrung, die er einige Zeit nach seiner Bekehrung gemacht habe, indem er sich auf den Versuch einließ, „durch seine eigene Kraft sich vollkommen zu machen“, und diese Verirrung habe zur Folge gehabt, daß „er sich vorübergehend aus seiner innigen Gemeinschaft mit Christus verstoßen gesehen habe und darum des Sieges über die Sünde beraubt gewesen sei“ (Seite 14). Diese Auffassung ist derzeit auch von Th. Jellinghaus in seinem Buch „Das gegenwärtige völlige Heil durch Christus“ aufs stärkste vertreten worden, indem er jede andere Deutung als „eine höchst gefährliche und irreführende Auslegung“ hinstellt (3. Auflage Seite 354), während er etwas weiter (Seite 371) die Fragestellung, ob der Apostel Römer 7,14 von dem „Stand unter dem Gesetz“ rede, sonderbarer Weise fallen läßt, um zwei Jahrzehnte später seine obige Lehre zu widerrufen. Nicht nur ist die Wortverkündigung von dieser „neuen“ Lehre weithin beherrscht geblieben, sondern sie ist auch, mehr oder weniger gemäßigt, in zahlreiche neuere Kommentare, wie Geß, Beck, Godet, Fabianke u.a. aufgenommen worden, während, wie schon bemerkt, Umbreit, Zahn, Schlatter u.a. bei ihrer Auslegung von einer anderen Fragestellung ausgehen und zu anderen Ergebnissen gelangen, die sich auch schon bereits in weiteren Kreisen - wie Erörterungen in Zeitschriften („Auf der Warte“ u.a.) und monologischen Arbeiten, wie die von Cremer u.a. zeigen - ernüchternd durchsetzen. Die Dogmatik selbst hat diese Dinge des Glaubens sehr vernachlässigt.

Bevor wir an die Textbesprechung herangehen, sei es gestattet, einige allgemeine Bemerkungen hier einzuschalten. Es ist eine anerkannte Tatsache, daß Lehre und Leben in engem Wechselverhältnis zueinander stehen und gesundes christliches Leben sich nur da findet, wo auch die Lehre gesund ist. Diese aber erwächst aus dem Ganzen der Schrift, während bei einseitiger Betonung gewisser Schriftteile das Augenmaß für andere Schriftwahrheiten verloren geht. Wer will es leugnen, daß jemand von falschen Lehrströmungen leicht mitgerissen wird, wenn er nicht festen Grund in der Schrift hat, daß innere Hemmungen unausgeglichen bleiben, wenn die Wahrheit Gottes nicht an Herz und Gewissen herankommt und daß eine innere Unwahrhaftigkeit in Sinn und Leben sich festsetzen muß, wenn Aussagen der Schrift einseitig überspannt werden? So lange man sich nicht in der ganzen Schrift zurechtfindet und sich nicht keusch ihr unterstellt, gibt es Verzerrungen christlichen Lebens, die sich verhängnisvoll auswirken.

Wir verkennen nicht, daß es menschlich wohlgemeint ist, wenn man glaubt, den Wagen Gottes stützen zu müssen, damit er nicht in eine verkehrtes Geleise gerate. So lesen wir in einem Kommentar: „Wie jämmerlich müßte es den Heiligungseifer des Christen lähmen, wenn der Apostel in Römer 7,14 die Wiedergeborenen hätte schildern wollen!“ Also, drum darf es nicht sein; danach die Auslegung! Demgegenüber muß es mit Nachdruck ausgesprochen werden, daß die Schrift, und nur diese, die Richtschnur des Glaubens ist, - was man das Formalprinzip der Schrift genannt hat, - und daß es nicht gestattet ist, Schriftaussagen dem menschlichen Erleben und Erfahren, oder besser ausgedrückt, dem menschlichen Wahn und Denken anzupassen, während der geistliche Verstand überall zurechtkommt und göttliche Befruchtung findet, wo man unvoreingenommen das ganze Wort Gottes zu seinem Recht kommen läßt.

Wir danken es dem Apostel, daß er mit einer sich entäußernden Wahrhaftigkeit und mit der unmittelbarsten Lebendigkeit des vordringenden Gefühls mit gewaltigen Worten es ausgesprochen hat, welch ein gefährlicher Feind in unserem Fleische wohnt, welch ein Schmerz die Seele eines nach Heiligung ringenden wiedergeborenen Menschen durchwühlt und wie jeder Kampf als aussichtslos erscheinen muß, der seine Position nicht mit aller Wachsamkeit dahin verlegt, wo er allein mit Erfolg geführt werden kann.

Eine Stelle wie Römer 7,14 konnte nur Paulus schreiben, und er konnte dies, ohne mißverstanden zu werden, getrost tun in einem Zusammenhang, wie ihn der Römerbrief gibt. Nie ist es bei ihm ein Pendelschlag hin und her, sondern eine lebendige Synthese (Verbindung), die er in Christus, seinem Tod und seiner Auferstehung findet. Diese Synthese zu finden, das ist es, was meist so schwer fällt, und dieses Unvermögen ist es wieder, welches dazu verleitet, je nach der persönlichen Einstellung Wahrheiten auseinanderzureißen, die eben zusammengehören. Auf solche Weise geht der Segen verloren, der darin liegt, daß man unbefangen jede Wahrheit der Schrift in ihrer ganzen Gewalt an sich herankommen läßt.

Doch treten wir nunmehr an die Besprechung des Schriftteiles Römer 7,14-23 heran, soweit es der Zweck erfordert, den wir uns hier gestellt haben.

Quelle: Schmitz, Richard - Fleisch und Geist

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