Krafft, Johann Christian Gottlob Ludwig - Sieben Predigten über das 53. Kapitel des Propheten Jesaias - Erste Predigt

Krafft, Johann Christian Gottlob Ludwig - Sieben Predigten über das 53. Kapitel des Propheten Jesaias - Erste Predigt

Geliebte in dem Herrn! Die Worte der Schrift, die ich heute und, so der Herr will, auch an den nächstfolgenden Sonntagen unsrer Betrachtung zum Grunde lege, sind ein prophetischer Text, der von vorzüglicher Wichtigkeit und gewiß auch Niemanden unter uns ganz unbekannt ist, über den ich gleichwohl noch nie besonders zu euch geredet habe.

Text: Jesaias 53, 1-12
Aber wer glaubt unsrer Predigt? Und wem wird der Arm des Herrn geoffenbaret? Denn Er schießt auf vor Ihm wie ein Reis, und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen Ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwertheste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor Ihm verbarg; darum haben wir Ihn nichts geachtet. Fürwahr, Er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten Ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber Er ist um unsrer Missethat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf Ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilet. Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, ein jeglicher sahe auf seinen Weg; aber der Herr warf unser aller Sünde auf Ihn. Da Er gestraft und gemartert ward, that Er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführet wird, und wie ein Schaf, das verstummet vor seinem Scheerer und seinen Mund nicht aufthut.
Er ist aber aus der Angst und Gericht genommen; wer will seines Lebens Länge ausreden? Denn Er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da Er um die Missethat meines Volks geplaget war. Und Er ist begraben wie die Gottlosen, und gestorben wie ein Reicher; wiewohl er Niemand Unrecht gethan hat; noch Betrug in seinem Munde gewesen ist. Aber der Herr wollte Ihn also zerschlagen mit Krankheit. Wenn Er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, so wird Er Samen haben, und in die Länge leben, und des Herrn Vornehmen wird durch Seine Hand fortgehen. Darum, daß seine Seele gearbeitet hat, wird Er seine Lust sehen, und die Fülle haben. Und durch sein Erkenntniß wird Er, mein Knecht, der Gerechte, Viele gerecht machen; denn Er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm große Menge zur Beute geben, und Er soll die Starken zum Raube haben, darum, daß Er sein Leben in den Tod gegeben hat, und den Uebelthätern gleich gerechnet ist, und Er Vieler Sünde getragen hat, und für die Uebelthäter gebeten.

So weit dieses Zeugniß des Propheten Jesaias von den leiden des Erlösers und seiner Herrlichkeit darnach, - ein Zeugniß, dessen nähere Betrachtung sich für keine Zeit mehr, als für die gegenwärtige eignet, die dem Gedächtniß der Leiden Christi zunächst gewidmet ist. Ich habe mich mit einiger Furcht zur Wahl dieses Textes entschlossen. Nicht, daß ich mich nicht sehr dazu hingezogen gefühlt hätte, oder irgend gezweifelt hätte, ob diese Wahl auch zweckmäßig oder euch angenehm seyn würde; aber es ist in diesem Texte eine innere Gewalt und Kraft, und eine Tiefe und Fülle des Reichthums der göttlichen Gnade und Wahrheit, die sich besser füllen als beschreiben läßt, und die dem, der darüber reden soll, wohl Besorgnis einflößen kann, wie er seinem Gegenstand genug thue, und irgend würdig davon rede. Der Herr aber, der mir nun Freudigkeit dazu gegeben hat, wollte es zu seines Namens und Wortes Ehre unter uns geschehen lassen, und den Endzweck lassen erreicht werden, daß die Worte unsere Textes unsrem Verständniß dadurch aufs Neue klar, unsrem Herzen werth, und für unser Wachsthum in Demuth, Glaube und liebe förderlich werden!

Um aber Alles in gebührlicher Ordnung vorzutragen, laßt mich heute bloß Einiges des Wichtigsten über das Ganze unsres Textes herausleben, und an den nächstfolgenden Sonntagen erst ihn abschnittsweise im Einzelnen näher ins Licht stellen. Die nähere Auslegung und Anwendung der Worte dieses Kapitels im Einzelnen gehört also den folgenden Vorträgen an. Heute bleiben wir bei dem Ganzen stehen. Und da laßt mich erstens den Gesamtinhalt dieser Weissagung des Propheten kürzlich darlegen, zweitens mit Wenigem es bemerken und beweisen, wie unwidersprechlich gewiß es ist, daß dies eine Weissagung auf unsern Heiland und Erlöser, Jesum Christum, den Gekreuzigten und Auferstandenen, ist.

I.

Schon in den frühern Jahrhunderten der christlichen Kirche hat man den Propheten Jesaias, wegen der Menge und der Deutlichkeit seiner Weissagungen auf den Erlöser, besonders aber dieses 53sten Kapitels wegen, den Evangelisten des Alten Testamentes genannt. Und gewiß, wenn man die Worte unsers Textes zum erstenmal hörte, ohne von dem Verfasser etwas zu wissen, sollte man nicht weit eher vermuthen, daß es die Worte eines Evangelisten des Neuen Testamentes, der ein Zeuge des Lebens und der Leiden und des Todes des Erlösers gewesen, als Eines der alttestamentlichen Propheten seyen? Indessen, geliebte Zuhörer, müssen wir uns das wohl vergegenwärtigen, daß wir hier einen prophetischen Text, und also nicht die Geschichte des Erlösers, wie sie in den Evangelien steht, sondern wie sie geweissagt worden ist, vor uns haben. Der Prophet Jesaias weissagte in Jerusalem zur Zeit der Könige Usia, Jotham, Ahas und Hiskia, mehr als 700 Jahre vor Christi Geburt. Aus dieser grauen Vorzeit, als Assyrien und Babylonien erst anfingen, erobernde Mächte zu werden, und das Volk der 10 Stämme gefangen weggeführt wurde, noch über 130 Jahre vor Nebukadnezar, zur Zeit der ersten Erbauung der Stadt Rom, aus diesem Zeitpunkt allgemein herrschender heidnischer Finsterniß, die das Erdreich bedeckte, und zunehmender Herrschaft der Abgötterei in Juda, rührt die Weissagung unsres Textes her, diese Schilderung der Leiden des Erlösers und seiner Herrlichkeit darnach, in Worten von einer Einfalt und Deutlichkeit und Bestimmtheit und Klarheit, daß jedes einigermaßen unterrichtete Kind sie versteht, und weiß, von wem hier die Rede ist. So klar aber, wie diese Worte uns jetzt nach der Erfüllung sind, waren sie nicht vor der Erfüllung, selbst dem Propheten nicht. Die Propheten hatten in ihren eignen Worten zu forschen; wie der Apostel Petrus sagt, daß sie selbst geforscht haben in dem, was der Geist, der in ihnen war, von der zukünftigen Gnade durch sie weissagte, der Geist Christi, der in ihnen war, und zuvor bezeugt hat durch sie die Leiden, die in Christo sind, und die Herrlichkeit darnach. So sagt Petrus in seinem ersten Briefe, und das gilt denn offenbar insbesondere von unsrem Texte. Wohl mag es von vielen Gläubigen des alten Bundes mit Erstaunen betrachtet worden seyn, das in diesem Kapitel unsres Textes ausgesprochene wundersame Zeugniß, so daß sich wohl begreift, warum der Kämmerer aus Mohrenland, als er im göttlichen Worte forschte, besonders über diesen Abschnitt im Jesaias nachsann, und Aufschluß suchte, und sich sehnte nach Jemanden, der ihm deutete, von wem denn der Prophet hier rede, wie wir in unsern Betrachtungen über die Apostelgeschichte gehört.

Diese Frage, von wem redet hier der Apostel, ist nun offenbar auch die Hauptfrage, von deren Beantwortung das Verständniß unseres Textes abhängt. Um diese Frage aber desto unbefangener zu prüfen und desto bestimmter und gewisser beantworten zu können, laßt uns einige Augenblicke. von der Geschichte der Erfüllung absehn, und bloß aufmerken auf das, was der Prophet von dem Knechte des Herrn, von welchem im Zusammenhang unsers Textes die Rede ist, hier weissagt. Es läßt sich in wenige Hauptpunkte zusammenfassen.

Das Erste, was der Prophet von diesem Knechte des Herrn bezeugt, ist, daß Er in großer Niedrigkeit auftreten werde, und eben deshalb werde äußerst verachtet werden. Schon am Schlusse des vorgehenden 52sten Kapitels bemerkt dies der Prophet und sagt, bei allem Großen und Außerordentlichen, was er von Ihm verkündigt, schon dort, daß sich Viele über ihn ärgern würden wegen der Unansehnlichkeit seiner Gestalt. Darum beginnt er auch unsre Textesworte mit dem Ausruf der Klage: „Aber wer glaubt unsrer Predigt, und wem wird der Arm des Herrn offenbart?“ Er sieht voraus, daß dieser Knecht des Herrn von der Welt nicht werde anerkannt werden, daß Er der Welt nicht gefallen, und das Zeugniß von Ihm der Welt als Thorheit erscheinen werde. Schon an seiner Herkunft, Armuth, Niedrigkeit und Knechtsgestalt werde man Anstoß und Aergerniß nehmen. „Siehe,“ sagt der Prophet, „Er schießt auf vor Ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen Ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.“

Das Zweite, was der Prophet von Ihm hier weissagt, ist, daß Er ein Mann der Schmerzen seyn werde, wie es im Grundtext heißt bei den Worten: voller Schmerzen und Krankheit, daß Er leiden von außerordentlicher Art zu tragen haben werde, daß Er zu den Uebelthätern werde gerechnet und als Missethäter werde geschlagen und gemartert werden. Es heißt: „Er war der Allerverachtetste und Unwertheste, voller Schmerzen und Krankheit, Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor Ihm verbarg.“ Und: „Er ist den Uebelthätern gleich gerechnet.“

Das Dritte, was der Prophet hiermit verbindet, ist das Zeugniß, daß dieser Knecht des Herrn solches Alles vollkommen unschuldig leiden werde, als der Niemanden Unrecht gethan, und in dessen Munde fein Betrug erfunden worden, das ausdrückliche Zeugniß, daß Er in diesen seinen Leiden nicht eigne Schuld und Strafe, sondern die Schuld und Strafe Anderer tragen werde, denen ihre Schuld und Strafe durch Ihn abgenommen werde, die durch Ihn Friede finden und heil werden; obwohl das Volk, das Ihn werde leiden sehn, in seiner Unwissenheit meinen werde, Er trage in seinen Leiden die Strafe eigner Schuld und Missethat. „Fürwahr, sagt der Prophet V. 4, Er trug unsre Krankheit, und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten Ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber, sagt der Prophet V. 5, Er ist um unsrer Missethat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen; die Strafe liegt auf Ihm, auf daß wir Friede hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilet. Wir, sagt der Prophet V. 6, wir gingen alle in der Irre wie Schafe, ein Jeglicher sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf Ihn.“ — Das Leiden und gestraft werden dieses Knechtes des Herrn für Andere, für unser aller Sünde, wie der Prophet sich ausdrückt, werde also eine göttliche Veranstaltung, eine Veranstaltung der Gnade und Erbarmung des Herrn selbst seyn. „Der Herr, heißt es, warf unser aller Sünde auf Ihn.“ Und nachher im 10ten Verse noch einmal: „Der Herr aber wollte Ihn also zerschlagen mit Krankheit,“ indem Er, sein Knecht, der Gerechte, gerade dadurch Viele gerecht machen werde, daß Er ihre Sünden getragen habe; und eben dasselbe wiederholt der Prophet im letzten Verse des Kapitels noch einmal.

Das Vierte, was der Prophet hier ankündigt als ein Zeichen, woran man diesen Knecht des Herrn in seinen Leiden werde erkennen können, ist die Geduld, das gelassene Schweigen und die durchaus freie Unterwerfung, womit Er diese Leiden tragen werde. Es heißt ausdrücklich V. 10, daß Er sein Leben geben werde zum Schuldopfer, und im 12ten Verse noch einmal, daß Er sein Leben in den Tod gegeben. Es heißt: Er werde in seinen Leiden verstummen, und das nicht etwa mit verhaltener innerer Entrüstung, sondern wie ein Lamm. V. 7. Da Er gestraft und gemartert ward, that Er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummet vor seinem Scheerer und seinen Mund nicht aufthut.„ Es heißt am Schlusse des Kapitels, daß Er für die Uebelthäter beten, daß Er Fürbitte für sie einlegen werde.

Es braucht hiernach kaum gesagt zu werden fünftens, wie deutlich der Prophet den Tod, den gewaltsamen Tod dieses Knechtes des Herrn vorhersagt. Ich darf zu dem bereits Bemerkten nur noch die Worte des 5ten Verses hinzufügen: „Denn Er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da Er um die Missethat meines Volks geplaget war.“

Ein sechster besonderer Umstand, den der Prophet hervorhebt, betrifft das Begräbniß dieses Dulders, nachdem Er getödtet worden. „Es werde, so deutet der Prophet an, die Absicht seiner Feinde seyn, Ihn auch im Tode noch zu beschimpfen, und bei den Missethätern Ihm sein Grab zu geben; das aber werde ihnen nicht gelingen, sondern Er werde nach seinem Tode bei einem Reichen seyn.“ So lautet es zwar nicht in unsrer Uebersetzung, wo sich fast das Gegentheil findet, wenn es heißt, V. 9: „Und Er ist begraben, wie die Gottlosen, und gestorben wie ein Reicher.“ Aber es muß hier denn allerdings auch bemerkt werden, daß unsre kirchliche Uebersetzung, so überaus vorzüglich und vortrefflich sie ist, doch in dieser Stelle sehr unrichtig ist, und daß es im Grundtext also lautet: Man gab, oder man bestimmte Ihm sein Grab bei den Gottlosen, Er war aber in seinem Tode bei einem Reichen.

Siebentens endlich weissagt der Prophet den uns erwarteten Ausgang, den es mit den Leiden und dem Tode dieses heiligen Dulders nehmen werde, den wunderbaren Sieg, den Er feiern, und die reiche Frucht, die Er ärnten werde von der Arbeit seiner Seele, die Fülle des herrlichen Lohnes, der Ihm zufließen werde. Der Angst, die Er gelitten, und dem Gerichte, das über Ihn ergangen, werde Er durch seinen Tod alsbald völlig entnommen seyn, - sein Tod werde der Wendepunkt seyn, von wo an sein Leben sich offenbaren, und des Herrn Werk durch Ihn einen mächtigen Fortgang gewinnen werde, von wo an Er Samen haben und seine Lust sehen und die Fülle haben werde, und große Menge werde zur Beute und auch die Starken zum Raube haben, und zwar, wie der Prophet selbst dies ausdrücklich erklärt, indem Er, der Gerechte, durch sein Erkenntniß Viele gerecht machen werde, und das Alles gerade dadurch, daß Er in seinen Leiden und seinem Tode ihre Schuld und Strafe für sie getragen habe, und sein Leben zum Schuldopfer für sie gegeben habe.

II

Sehet da, Geliebte, in gedrängter Kürze, aber vollständig, den Gesamtinhalt unsers Textes in reine Hauptpunkte zusammengefaßt. Ich darf euch bei dieser Darlegung wohl fragen, ob ich etwas Andres dabei vorgetragen, als was der Prophet selbst ausdrücklich hier sagt, ob ich Etwas davon oder dazu gethan. Laßt uns nun auch in dem andern Theile unsrer Betrachtung mit Wenigem hören, wie unwidersprechlich gewiß es ist, daß der ganze Inhalt dieses Kapitels eine Weissagung auf unsern Heiland und Erlöser, auf Jesum Christum, den Gekreuzigten und Auferstandenen, ist. Zuerst nämlich sehen wir diese ganze Weissagung in der Person Jesu und in seinem Leiden, Tode und Auferstehen vollkommen erfüllt. Zweitens haben Jesus und seine Apostel selbst es ausdrücklich gesagt, daß hier von Ihm geweissagt stehe. Drittens ist es auch ohne den widersinnigsten und unnatürlichsten Zwang gar nicht möglich, die Weissagung unsers Textes auf irgend Jemanden sonst, als auf Ihn, auf Jesum Christum, unsern Herrn, zu deuten. Ueber jeden dieser drei Beweise noch einige Worte.,

1. Zuerst, sage ich, sehen wir diese ganze Weissagung in der Person Jesu und in seinem Leiden, Tode und Auferstehen vollkommen erfüllt. Als ein Sprößling aus dem längst verarmten und in Niedrigkeit herabgesunkenen Geschlechte Davids, ist Jesus in Armuth und Niedrigkeit geboren in Bethlehem, und in Verborgenheit aufgewachsen in Nazareth, wie ein Reis, wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Kaum war Er öffentlich aufgetreten, so hieß es: Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ Oder: „Siehe, aus Galiläa steht kein Prophet auf!“ In Galiläa selbst hieß es: „Ist Er nicht eines Zimmermanns Sohn, deß Vater und Mutter wir kennen? Heißt nicht seine Mutter Maria? und seine Brüder und Schwestern, seine Anverwandte, sind sie nicht alle bei uns? Und ärgerten sich an Ihm,“ heißt es (Matth. 13, 55 - 57.). In Jerusalem hieß es: „Wie kann dieser die Schrift, so Er sie doch nicht gelernt hat,“ nicht auf der hohen Schule studiert hat? Die Gelehrten, wenn sie unter dem Volk sahen, die Ihm anhingen, sprachen: „Glaubt auch irgend Einer der Obersten oder Pharisäer an Ihn?“ (Joh. 7.) Sehet da die Erfüllung der Worte V. 2: „Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen Ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.“ Auch alle Wunder, die durch Ihn geschahen, hoben die Verachtung, womit Er betrachtet ward, nicht auf.

Es wird nicht nöthig seyn, daß ich nachweise, wie die Weissagung unsers Textes von den Leiden, von der Schmach, von den Schlägen und der Marter und von der Hinrichtung des Knechtes Gottes, von welchem der Prophet spricht, an der Person Jesu Alles buchstäblich erfüllt worden ist. Es wird auch nicht nöthig seyn, auf die Zeugnisse der Schrift hinzuweisen, daß Jesus vollkommen unschuldig gelitten hat, und sagen konnte, was kein Mensch außer Ihm sagen kann: „Wer unter euch kann mich einer Sünde zeihen?“. - daß Er der Einzige von Allen ist, der da war heilig, unschuldig, unbefleckt, und von den Sündern abgesondert. Wo finden wir einen andern Gerechten außer Ihm? Wie gewiß ist demnach, daß Er nicht um eigner Sünde und Schuld willen gelitten hat! Und wo finden wir nun den, der für die Sünder, statt ihrer, zur Versöhnung ihrer Schuld und Sünde gelitten hat, und das Alles auf göttliche Veranstaltung selbst, den, auf den der Herr unser aller Sünde geworfen hat, und durch dessen Wunden nun wir heil werden, - wo finden wir diesen hier vom Propheten geschilderten Gerechten, der für die Ungerechten gelitten, als in Jesu Christo, dem Gekreuzigten? - Weiter, geliebte Zuhörer, vergleichet das, was von der Geduld dieses Knechtes Gottes in seinen Leiden und von seinem Tode hier geweissagt ist, mit der Geschichte der Leiden und des Todes Jesu, mit der Willigkeit und dein freien Entschluß der Liebe, womit Er seinen Leiden entgegen gegangen, mit der Geduld, mit der Gelassenheit, mit dem Schweigen, womit Er sie getragen, mit der Erbarmung und Langmuth der Liebe, womit Er für seine Mörder Fürbitte eingelegt hat! - Vergleichet weiter, was hier von seiner Begräbniß Eigenthümliches geweissaget ist, mit dem, was mit dem Leichnam Jesu durch Joseph von Arimathia, der ein Reicher war, und durch Nikodemus wirklich geschehen ist. - Vergleichet endlich, was, von dem Sieg und dem Leben dieses Knechtes des Herrn nach seinem Tode in unsrem Texte geweissagt ist, von dem Samen, den Er dann haben werde, von dem mächtigen Fortgang, den des Herrn Werk alsdann durch Ihn gewinnen werde, von der Lust, die Er sehen, und der Fülle, die Er haben werde für die Arbeit seiner Seele, von der Menge, die Er zur Beute, von den Starken, die Er zum Raube haben werde, von den Vielen, die Er gerecht machen werde, Alles in Kraft dessen, weil er sein Leben für sie in den Tod gegeben, und vieler Sünden, getragen, und für die Uebelthäter gebeten habe, - das Alles vergleichet mit dem, was in Folge des Todes Jesu Christi, alsbald nachher, durch seine Auferstehung und Erhöhung und die Ausgießung seines Heiligen Geistes über die Apostel wirklich geschehen ist, in der Pflanzung und Ausbreitung seiner Kirche in Jerusalem und Judäa und Samaria und den Völkern der Heiden, in der Sammlung einer zahllosen Gemeine der Erlöseten, die durch Ihn Gnade und Friede gefunden, und selig geworden, und in deren Errettung und Seligkeit Er nun die Frucht seiner Arbeit, den Preis seines Kampfes und seine Lust sieht, -, so, Geliebte, vergleichet mit einander, was hier geweissagt ist, mit dem, was geschehen ist, und es zeigt sich schon in dieser wundersam genauen Uebereinstimmung zwischen dieser Weissagung und der Geschichte Jesu ein unwidersprechlicher Beweis, daß sie eine Weissagung auf Ihn, daß sie in der Person Jesu, unsers Erlösers, wirklich erfüllt ist. Ein inneres Wahrheitsgefühl wird uns nöthigen zu sagen, daß. Jesaias kaum deutlicher vom Leiden und vom Tode Jesu, unsers Mittlers, hätte reden können, wenn er Augenzeuge desselben gewesen wäre, als er es hier in den Worten der Weissagung wirklich gethan hat.

2. Dazu kommt nun auch noch Jesu und der Apostel ausdrückliches Zeugniß, daß hier in dieser Weissagung von Ihm geschrieben stehe. Der Inhalt unsers Textes wird an mehr als 7 Stellen im Neuen Testament angeführt und jedesmal die Erfüllung in der Person und Geschichte Jesu nachgewiesen. Ich will nur einige Beispiele anführen. Auf das Wort zu Anfang dieses Kapitels: „Herr, wer glaubt unsrer Predigt, und wem wird der Arm des Herrn offenbart?“ beruft sich Johannes im 12ten Kapitel seines Evangeliums bei der Erzählung vom Unglauben der Juden an Jesum, obwohl er solche Zeichen unter ihnen gethan. - Philippus, der Evangelist, als er vom Kämmerer aus Mohrenland über den Sinn dieses Kapitels befragt ward, that seinen Mund auf und fing von dieser Schrift an, und predigte ihm das Evangelium von Jesu, also, daß der Kämmerer völlig überzeugt ward und sprach: „Ich glaube, daß Jesus Christus Gottes Sohn ist,“ und alsbald getauft ward. Die Worte: „Durch seine Wunden sind wir geheilt,“ legt Petrus in seinem ersten Briefe von der Kraft des Todes Jesu für uns am Kreuze aus, und ebenso die Worte: „daß Er keine Sünde gethan und kein Betrug in seinem Munde erfunden worden,“ von dem Leben Jesu. Ebenso deutet aber auch Jesus selbst ausdrücklich diese Weissagung auf sich, und zwar den Schluß derselben, wo es heißt: „daß Er den Uebelthätern gleich gerechnet worden.“ Als er in der Nacht, da Er verrathen worden, mit seinen Jüngern hinausging an den Oelberg, sprach Er zu ihnen, wie der Evangelist Lukas bemerkt (Kap. 22, 37): „Denn ich sage euch, es muß auch das noch vollendet werden an mir, das geschrieben steht: Er ist unter die Uebelthäter gerechnet.“

3. Nun kommt aber auch noch drittens hinzu, daß es ohne den unnatürlichsten und unvernünftigsten Zwang gar nicht möglich ist, die Weissagung unsers Textes auf irgend jemanden sonst, als auf Ihn, unsern Heiland, Jesum Christum zu deuten. Ja, Geliebte, bei einem so klaren Zeugniß, das Gott gezeuget hat von Jesu, seinem Sohne, wie das in unsrem Texte vorliegende, verlohnt es sich einige Augenblicke der Mühe, zu sehen, wie der erfinderische Geist des Irrthums sich abgemüht hat, es zu entkräften, und auf welche Thorheiten er darüber verfallen ist. So zuerst unter den ungläubigen Juden. In der ältesten Zeit, zumal vor der Geburt Jesu Christi, waren die jüdischen Ausleger darüber einverstanden, daß der Inhalt dieses Kapitels eine Weissagung auf den Messias sey. Erst späterhin, als sie inne wurden, wie sehr sie selbst damit ins Gedränge geriethen, wenn sie diese Stelle vom Messias und seinen Leiden erklärten, indem sie nicht läugnen konnten, daß die auffallendste Uebereinstimmung zwischen dieser Weissagung des Propheten und der evangelischen Geschichte sich finde, sannen sie auf andre Auslegungen, von denen die hauptsächlichsten folgende sind.

Einige behaupten, der Knecht des Herrn, dessen Leiden hier beschrieben werden, sey das jüdische Volk; dessen Unglück, Verwerfung und Verachtung vor der Welt, und die Standhaftigkeit, womit es das Alles trage, und das Glück, wozu es zum Lohne dafür zuletzt werde erhoben werden, das sey der Gegenstand dieser Weissagung, und diejenigen, die hier redend eingeführt werden und so uns wissend und blind sind, daß sie die Leiden des jüdischen Volkes für verschuldet, für ein verdientes Gericht halten, und sich an diesem gerechten Volke, an diesen unschuldigen Lämmern also gröblich versehen, das sollen die übrigen Völker der Erde, und besonders wir Christen seyn. Daß ich diese Deutung widerlegen und zeigen sollte, welchen Stolz, welche Blindheit sie voraussetzt, und wie schriftwidrig sie ist, werdet ihr nicht von mir erwarten. Nur auf Eins, auf den innern Widerspruch laßt mich hinweisen, in welchem diese Deutung mit dem Inhalt der Weissagung selbst steht, in welcher dieser Knecht des Herrn von dem Volke, für welches Er leidet, ausdrücklich unterschieden wird, indem es heißt: Er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da Er um die Missethat meines Volkes geplaget war.

Andre unter den ungläubigen Juden haben es selbst gefühlt, und um die große Vermessenheit dieser Deutung zu mildern und sie etwas bescheidener einzukleiden, haben sie dieselbe so vorgetragen, der Knecht des Herrn, dessen Leiden der Prophet hier beschreibe, seyen die Frommen, die Gerechten unter dem jüdischen Volke; diese hätten schon bei den frühern Strafgerichten Gottes über den ungehorsamen und bundbrüchigen Theil des Volks unschuldig mitleiden müssen, und müßten auch jetzt bei dem fortwährenden Gerichte Gottes über ihr Volk unschuldig mitleiden mit denen, die es durch ihren Ungehorsam verdient und verschuldet, und so seyen von Moses an, durch alle Zeiten hindurch, die Gerechten unter den Israeliten das Schuldopfer für die Ungerechten, das der Prophet hier beschreibe. Eine ausführliche Widerlegung, geliebte Zuhörer, werdet ihr auch hier nicht erwarten und begehren. Ich darf nur fragen: wo sind diese schuldlos Leidenden? Es ist kein Einziger unter den Gläubigen des Alten Testaments, der sich dafür gehalten hat; alle haben sich als Sünder vor Gott gedemüthigt, und ihre Hoffnung zur göttlichen Barmherzigkeit auf den ihnen verheißenen Erlöser gegründet. Sollen aber diese Unschuldigen bei den außerordentlichen Gerichten, die Gott über dieses Volk verhängt hat, und welche von allen Propheten für wohlverdiente und gerechte Strafen erklärt werden, die Propheten selbst seyn, so frage ich, warum hält sich der fromme Daniel für mitschuldig in seinem Bekenntniß und Bußgebet für das Volk (Dan. 9,3-19.)? und wo sagt die Schrift irgend, daß Ein Mensch, ein Sünder für den andern ein Sühnopfer werden könne, zur Versöhnung der Sünde des Andern? Ja das Gegentheil sagt die Schrift ausdrücklich im 49ten Psalm (V. 8. 9): Kann doch ein Bruder Niemand erlösen, noch Gott Jemand versöhnen. Denn es kostet zu viel, ihre Seele zu erlösen, daß er es muß anstehen lassen ewiglich.„

Andre haben endlich, um nur auf den Messias diese Weissagung nicht deuten zu dürfen, behauptet, der Knecht des Herrn, von welchem der Prophet hier redet, sey Jesaias selbst, oder Hiskias, oder der König Josias, oder der Prophet Jeremias, - Behauptungen, die eben so uns statthaft sind, als die bisher angeführten, und aus denselben Gründen für durchaus schriftwidrig und falsch erklärt werden müssen.

Das, geliebte Zuhörer, sind die Auslegungen, mit welchen Israel in seiner Blindheit bis auf den heutiger Tag sich hinhält, und, um seinen Unglauben an Jesum zu beschönigen, dem Zeugnisse unsres Textes den unnatürlichsten und widersinnigsten Zwang anthut.

Von den Juden jedoch läßt sich in dem Gericht der Blindheit, unter welchem Israel bis jetzt noch liegt, kaum etwas Anders erwarten. Was aber sollen wir sagen, meine Geliebten, wenn die ungläubigen Lehrer auf den hohen Schulen der Christen in unsern Tagen jenen Einfällen der Juden mündlich und in ihren Schriften öffentlich beipflichten? Und das ist auch in unserm Vaterlande seit 50 Jahren her bereits reichlich, reichlich geschehen. Siebenzehn Jahrhunderte hindurch seit ihrer Entstehung bis auf die neueste Zeit hat die christliche Kirche solches nicht gesehen und erlebt. Volk und Lehrer haben festgehalten an diesen theuern Evangelium des Propheten, und die Gläubigen fanden und finden darin Erquickung und Stärkung. Selbst aus Israel sind im Laufe der Jahrhunderte viele Einzelne gläubig geworden, und unter diesen besonders Viele, die es bekannt haben, daß das 53te Kapitel des Jesaias hauptsächlich das von Gott gesegnete Mittel zu ihrer Erleuchtung und Bekehrung zu dem Einigen Hirten der Schafe geworden ist. - Anders aber die ungläubigen Christen in unsern Tagen, und die Gelehrten an ihrer Spitze. Jene abgeschmackten Einfälle der Juden haben sie mündlich und in ihren Schriften öffentlich zu den ihrigen gemacht. Ihr Unglaube ist es, der sie zu dieser Thorheit hinunter bringt; denn sie selbst würden ins Gedränge kommen mit ihren Grundsätzen, wenn dieses Kapitel eine wirkliche Weissagung auf Jesum, und in Jesu wirklich erfüllt ist; und dieselbe Ursache hat dieselbe Wirkung bis auf den heutigen Tag. Vergebens wollen Einige unter ihnen bei dieser Mißhandlung des Alten Testaments den Schein behaupten, als dächten sie anders vom Neuen Testamente. - Wie kann, wenn Christus und die Apostel geirrt haben, wenn das, was sie als Weissagung auf Ihn gedeutet haben, keine Weissagung auf Ihn ist, wie kann dabei das göttliche Ansehen des Neuen Testaments bestehn? Sie meinen, man solle diese ihre Hinterlist nicht merken, und so einfältig seyn, daß man nicht sehe, was sie im Schilde führen! Es gibt manche Stellen der Schrift, wo unbeschadet sowohl des Heils der Kirche, als der persönlichen Gesinnung der Ausleger Verschiedenheit der Meinung und der Auslegung Statt finden kann. Auch darin ist eine göttliche Anordnung sichtbar, daß die heilige Schrift nicht in allen Stellen gleich klar und leicht verständlich ist. Aber müssen wir nicht auch sagen, daß Gott unter so vielen andern ebenfalls unwidersprechlichen Zeugnissen Ein ganz ausgezeichnetes Zeugniß im Alten Testamente hat hinstellen, und im Neuen Testamente auslegen lassen wollen, Ein Zeugniß, das keinen Widerspruch zuläßt von Seiten eines Jeglichen, der irgend unbefangen und redlichen Sinnes ist, Ein Zeugniß, das ganz insbesondre dazu bestimmt ist, daß der Unglaube sich umsonst zerarbeite, und sich den Kopf daran zerschelle, und damit zu Schanden werde; und ein solches Zeugniß ist dieses 53te Kapitel des Propheten Jesaias.

Ich wollte noch einige Erinnerungen und Anwendungen für uns hinzufügen. Ich darf aber nicht zu lange eure Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, und es bleibe für die folgende Betrachtung aufgehoben. Laßt uns dem Herrn danken für Gnade und Wahrheit, die Er uns kund gethan, und Ihn bitten, daß Er das heute Gehörte an unsern Herzen segne, daß Er immer mehr im Glauben uns gründe, festige und vollbereite, um der Heiligung nachzujagen, und das Kleinod am Ziele zu erreichen, welches uns vorhält unsre himmlische Berufung in Christo Jesu. Amen.

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