Kohlbrügge, Hermann Friedrich - „Aus tiefer Not“ - Neunte Predigt.
Gehalten den 14. November 1858, vormittags.
Gesang vor der Predigt.
Psalm 77, Vers 7-9.
Ich will - Gott kann alles lenken
An die großen Taten denken,
Auf die alten Wunder sehn,
Die dich, unseren Gott, erhöhn;
Und an allen deinen Werken
Deine Majestät bemerken,
Reden, wenn du Wunder tust,
Still anbeten, wenn du ruhst.
Heilig, Gott, sind deine Wege!
Wer ist, der sie tadeln möge?
Wer ist Gott in Not und Tod?
Wer ist groß, wie du, o Gott?
Ja, du bist's, und deine Stärke
Spricht durch deine Wunderwerke ;
Du verschaffst beim Heidentum
Dir durch deine Allmacht Ruhm.
Herr! dein Volk wird nicht verderben;
Israels und Josephs Erben
Hat dein mächtger Arm befreit
Aus der schweren Dienstbarkeit.
Wasser sahen dich, sie sahen
Gott zu ihren Ufern nahen,
Zitterten zurück, erschreckt
Stand der Abgrund aufgedeckt.
Text: Psalm 118, Vers 24 und 25.
Dies ist der Tag, den der Herr macht; lasst uns freuen und fröhlich darinnen sein! O Herr, hilf! o Herr, lass wohl gelingen!
Wir wollen fragen: Was ist das hier für ein Tag?
Warum heißt es: Der Herr macht ihn?
Wir wollen mit einander nachsehen, ob es nicht überflüssig sei, dass hier gesagt wird: „Lasst uns freuen und fröhlich darinnen sein“; denn wenn man lange auf einen Tag gewartet hat, und der Tag ist endlich da, so meine ich, versteht es sich von selbst, dass man sich freut und fröhlich darinnen ist.
Dann wollen wir noch untersuchen, warum, wenn es doch heißt: „Dies ist der Tag, den der Herr macht“, dann noch hinzugesetzt wird: „O Herr, hilf! o Herr, lass wohl gelingen!“ denn wenn der Herr den Tag gemacht hat, so ist Er selbst ja auch da mit seiner ganzen Herrlichkeit; weshalb wird er denn noch angerufen, er möge helfen? und warum ist man darüber in Not, ob es gelingen möchte?
Zwischengesang.
Psalm 72, Vers 7.
Den Armen wird's an Heil nie fehlen,
Weil er so gnädig ist.
Seht, er erlöset ihre Seelen
Von Frevel und von List.
Er sucht, die sich nach Hilfe sehnen,
Durch Angst und Not beschwert;
Ihr Blut, ihr Leiden, ihre Tränen
Sind ihm von hohem Wert.
„Dies ist der Tag, den der Herr macht; lasst uns freuen und fröhlich darinnen sein! O Herr, hilf! o Herr, lass wohl gelingen!“ Mit diesen Worten ist in der Christenheit entsetzlich viel Missbrauch getrieben worden. Es kann kein Fest gefeiert werden, selbst wenn es sich um ganz vergängliche Dinge handelt, so wird doch gesungen: Dies ist der Tag, den der Herr macht! Wenn eine Kirche soll eingeweiht werden, wenn Kirchenglocken, ja sogar Kirchtüren geheiligt oder eingeweiht werden müssen, dann wird auch gesungen: Dies ist der Tag, den der Herr macht. Aber auf den Tag, den der Herr macht, gehört eben das, was wir aus dem zweiundsiebzigsten Psalm gesungen haben: „Den Armen wird's an Heil nicht fehlen“. Es stehen unsere Textesworte in unmittelbarer Verbindung mit dem, was zuvor gesagt ist: „Der Stein, den die Bauleute verworfen, ist zum Eckstein geworden. Das ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen“. Das ist der Tag, an welchem der verworfene Stein zum Eckstein geworden ist.
Der „Tag“ bedeutet Gottes Zeit, Stunde, Gelegenheit, ja sogar ein bei Gott zuvor verordneter und bestimmter Tag. Ich meine, dass man an einem gewissen Datum, z. B. am 4. Juni, schrecklich viel durchgemacht hat, und dass Gott auf denselben Tag, das Jahr nachher, alles wieder gut macht. Es kam oft in der Kirchengeschichte vor und auch in der Geschichte einzelner Heiligen, dass zu einer gewissen Zeit und Stunde etwas geschah, wodurch alle Hoffnung vernichtet zu sein schien, und zu derselben Zeit und Stunde trat später in wunderbarer Weise Errettung ein, so dass man sagen musste: Dies ist der Tag, den der Herr macht!
Um es aber besser zu verstehen, was dieser Ausdruck eigentlich bedeutet, lasst uns aufschlagen 1. Sam. 24,2 ff. Hier lesen wir: „Da nun Saul wieder kam von den Philistern, ward ihm gesagt: Siehe, David ist in der Wüste Engedi. Und Saul nahm dreitausend junger Mannschaft aus ganz Israel und zog hin, David samt seinen Männern zu suchen auf den Felsen der Gemsen. Und da er kam zu den Schafhürden am Wege, war daselbst eine Höhle, und Saul ging hinein, seine Füße zu decken. David aber und seine Männer saßen hinten in der Höhle. Da sprachen die Männer Davids zu ihm: Siehe, das ist der Tag, davon der Herr dir gesagt hat: Siehe, ich will deinen Feind in deine Hände geben, dass du mit ihm tust, was dir gefällt“. „Siehe, das ist der Tag des Herrn!“ sprechen also die Männer zu David. Das wäre aber vielmehr ein Tag gewesen, den nicht der Herr, sondern David gemacht hätte; so wäre es denn ein menschlicher Tag gewesen, und nicht des Herrn Tag. David jedoch kannte den Tag besser, wovon der Herr gesprochen; denn alle Selbsthilfe, alle Ungerechtigkeit und krummen Wege führen nicht dazu, dass man die Erfüllung der Verheißung Gottes erblickt, sondern die Heiligen Gottes saßen allemal in dichter Nacht und Finsternis; darin lagen sie auf Hoffnung gefangen und konnten nichts ausrichten; und in solcher Nacht und Finsternis, Traurigkeit und Betrübnis des Herzens schrien sie oftmals: „Hüter, ist die Nacht schier hin? Hüter, ist die Nacht schier hin? Wann bricht dein Tag an?“
Der Tag, den der Herr macht, kommt nicht von Menschen, er kommt vom Herrn; er kommt ungedacht, unerwartet, wenn man am wenigsten sich dessen versieht. Er ist bei Gott verordnet und bestimmt vor Grundlegung der Welt, er ist in sein Buch geschrieben als der Tag, das Datum, die Stunde, wovon der Herr spricht: Alsdann will ich meinem Gesalbten, oder: will ich meinen Kindern, will ich diesem und jenem dies und das geben, eine Hilfe, eine Erlösung, er soll es haben. Das heißt dann in der Schrift „ein Tag“, weil ihm eine lange Nacht vorausgegangen ist. Diesen Tag aber hält der Herr sogar vor seinen Engeln verborgen; er liegt verschlossen in seinem Rat, und wenn er es offenbaren will, so offenbart er es seinen Kindern in ihrer Not und ihrem Leiden, auf dass sie erfahren: Gott ist wahrhaftig.
Da sitzen also die Heiligen Gottes in Nacht und Finsternis, sie haben nichts als das Wort vor sich, und in ihrer Anfechtung haben sie sich, und haben sich die Propheten durchweg, getröstet mit dem, was sie gefunden auf dem ersten Bibelblatt: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Da Gott Himmel und Erde erschaffen hat, gibt er es nie und nimmer zu, dass sie im Chaos und in der Macht der Finsternis liegen bleiben, sondern sie sollen hervor aus der Finsternis; aber es ist finster auf der Tiefe, - es schwebt zwar der Geist Gottes auf den Wassern, aber es ist finster auf der Tiefe. Da lässt Gott seinen Sohn hineinkommen in das Geschaffene; es kam das Wort: „Es sei Licht!“ und es ward Licht. Und Gott schied das Licht von der Finsternis und nannte das Licht „Tag“. Dies ist der Tag, den der Herr macht; er ruft ihn stets hervor aus der Finsternis. Aber also hat er ihn gemacht, dass es dabei geht wie in einem Nu, wenn der Blitz zuckt durch die Finsternis von einem Ende des Himmels zum anderen.
Meine Geliebten! So wenig die Bauleute den Stein erkennen, den Gott zum Eckstein gemacht hat, ebenso wenig erkennen sie den Tag, den der Herr macht; denn sie machen die Finsternis zum Licht, und das Licht zur Finsternis. Der Tag kam schon oftmals in die Welt und ging wieder vorüber; es ist ein Tag, der nur von denen empfunden und erkannt wird, welchen die Finsternis eine Last ist, und die aus der Finsternis heraus um Licht schreien, und aus der Nacht des Leidens um diesen Tag.
Der Mensch macht sich selbst der Tage viele, welche er dann für Tage des Heils hält, aber die neue Kreatur weiß in der Hoffnung, welche nicht beschämt, den Tag, den der Herr macht, von einem menschlichen Tag wohl zu unterscheiden. Nur die Hoffnung, welche auf diesen Tag gehofft, erkennt diesen Tag, wenn er gekommen, und er ist dem Glauben wie ein Wunder von dem allmächtigen Gott, der Wort und Treue hält. Der Tag, den der Herr macht, unterscheidet sich darin von dem menschlichen Tag, dass er zwar die, die des Herrn sind, zu Ehren bringt, so dass auch die Ungläubigsten, wenn sie sehen wollten, die Erhöhung sehen könnten, aber die Welt ist seiner nicht eingedenk, wartet noch auf denselben, wenn er schon da ist oder da gewesen ist. Nur am Glauben wird dieser Tag erkannt, nur am Geist wird er gefeiert, so dass es von einem jeden, der ihn sieht, wahr wird, was der Herr von Abraham sagte: „Abraham ward froh, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich“ (Joh. 8,56).
Aber lasst uns aus der heiligen Schrift den bestimmten Tag angeben, wo das in Erfüllung ging, was hier von diesem Tag gelobt und geweissagt war. Diesen Tag, meine Geliebten, finden wir beschrieben Ev. Joh. 12,12-15: „Des anderen Tages, viel Volks, das auf das Fest gekommen war, da es hörte, dass Jesus kommt gen Jerusalem, nahmen sie Palmenzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, ein König von Israel! Jesus aber überkam ein Eselein und ritt darauf; wie denn geschrieben steht: „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion, siehe dein König kommt, reitend auf einem Eselsfüllen!““ „Des anderen Tages“ - das war der fünfte Tag vor Ostern, das ist, vor dem Freitag. Wir lesen im Anfang des Kapitels: „Sechs Tage vor den Ostern kam Jesus gen Betanien“; also „des anderen Tages“ das war der fünfte Tag vor Ostern; da kam Jesus gen Jerusalem. Es war ein Tag, den wir Sonntag nennen, den aber das Evangelium nennt den Tag des Herrn. Es war das aber der zehnte Tag des Monats Nisan, und da lesen wir 2. Mos. 12,1 ff.: „Der Herr aber sprach zu Mose und Aaron in Ägyptenland: Dieser Monat soll bei euch der erste Monat sein, und von ihm sollt ihr die Monate des Jahres anheben. Sagt der ganzen Gemeine Israels und sprecht: Am zehnten Tage dieses Monats nehme ein jeglicher ein Lamm, wo ein Hausvater ist, je ein Lamm zu einem Haus. Wo ihrer aber in einem Haus zum Lamm zu wenig sind, so nehme er es und sein nächster Nachbar an seinem Haus, bis ihrer so viel wird, dass sie das Lamm aufessen mögen. Ihr sollt aber ein solches Lamm nehmen, da kein Fehler an ist, - und sollt es behalten bis auf den vierzehnten Tag des Monats. Und ein jegliches Häuflein im ganzen Israel soll es schlachten - am vierzehnten Tag - zwischen Abends. Und sollt seines Blutes nehmen und beide Pfosten an der Tür und die oberste Schwelle damit bestreichen an den Häusern, da sie es innen essen. Und sollt also Fleisch essen in derselben Nacht, am Feuer gebraten, und ungesäuert Brot, und sollt es mit bitteren Salzen essen“.
Meine Geliebten! Dieser zehnte Tag des Monats Nisan ist also von Gott verordnet durch sein Gesetz, nach seinem ewigen Rat zuvor bestimmt. Fünfzehn Jahrhunderte später, da nun die Zeit erfüllt ist, da haben wir wiederum den zehnten Tag des Monats Nisan. Im Volke Israel nahm man an diesem Tage ein Lamm, und hier, nach fünfzehn Jahrhunderten, da nimmt man Jesum. Dass der Tag, der zehnte Tag des Monats Nisan, ein Freudentag gewesen ist, das haben die Jünger und hat das Volk wohl gefühlt, ich meine ein Tag der Freude darüber, dass man an diesem Tag bekommen hat das Lamm, welches die Sünde der Welt in Wahrheit hinwegnimmt.
Denkt euch nun erst die drei Dinge: Finsternis in Ägypten; da war nur Licht in den Wohnungen Israels, aber auch nur in den Wohnungen, nicht draußen. Wenn einer den Fuß aus einer solchen Wohnung setzte, so befand er sich in derselben Finsternis. Nun kommt Gott und lässt durch Mose noch eine Plage ankündigen, die schrecklichste von allen. Alle Erstgeburt in Ägypten soll erschlagen werden, und es ist keine Verheißung vorhanden, dass Gott der Kinder Israels schonen wolle, so dass ihre Erstgeburt nicht auch des Todes sei mit der der Ägypter. Es naht der vierzehnte Tag, dann kommt die schreckliche Nacht, dann kommt der Würgengel, und man muss umkommen! Nein! Am Sonntag zuvor, am Tag des Herrn, da kommt das heilige, weiße Lamm ins Haus hinein! Wie musste der Hausvater dieses Lamm begrüßen! Dieses Lamm wird ihn und die Seinigen ja vom Tod erretten! War dieses Lamm ihm nicht wie ein König, wie ein königlicher Erretter, der in sein Haus kam? Dies Lamm schattete etwas ab: Es würde dereinst der zehnte Tag des Monats Nisan anbrechen, dann werde man das wahre Lamm, den wahren königlichen Erretter, den alle diese Lämmer abgeschattet haben, in sein Haus hineinbekommen. So kommt er denn, ein König und ein Lamm! Erfüllt werden nach dem Buchstaben alle Verheißungen, die Gott den Juden gegeben hat von einem König; erfüllt werden nach dem Buchstaben alle Verheißungen, die Gott den Juden gegeben hat von der königlichen Stadt Jerusalem, dass sie wieder werde aufgebaut werden. Da hat man nun diesen königlichen Einzug in Jerusalem nie recht angeschlagen, und es haben die Chiliasten1) und allerlei Rottengeister die Propheten zerrissen, ein Zerrbild aus ihren Verheißungen gemacht, woraus denn im Mittelalter die Kreuzzüge entstanden sind, und auch die neueren Bestrebungen und Versuche, Jerusalem wieder zu bauen. Die Juden haben es alles gehabt; die Jünger haben es gefühlt, das Volk hat es gefühlt; es heißt ja: „Das Volk der Juden, da sie es erfuhren, kamen alle ihm entgegen“, und die eigensten Worte des hundertachtzehnten Psalmes finden wir hier: „Hosianna“ das ist: o Herr hilf! „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Also die Jünger und das Volk haben diesen hundertachtzehnten Psalm nicht anders verstanden; es ist ihnen in der Schule von alters her so ausgelegt worden, wie es denn nach Wahrheit ist, dass dies ein Psalm sei, der davon weissagt, dass das gegenbildliche Lamm in unser Haus kommt, dass der König in unsere Stadt seinen feierlichen Einzug hält, uns durch sein Blut zu erretten von dem ewigen Tod und aus der Macht des geistlichen Ägyptens und des höllischen Pharao, um uns durch tiefe Wasser und durch die Wüste, da kein Wasser innen ist, hindurchzuführen und zu bringen in das Land der ewigen Ruhe.
Darum, meine Geliebten, wird es allerwärts so hervorgehoben, was da geschehen ist, namentlich auch im Evangelium Matthäi 21,7 ff.: „Und brachten die Eselin und das Füllen, und legten ihre Kleider darauf und setzten ihn darauf. Aber viel Volks breitete die Kleider auf den Weg“ - ihm als dem Könige zu huldigen - „die anderen hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das vorging und nachfolgte, schrie und sprach: „Hosianna“ das ist: o Herr hilf! - „dem Sohne Davids; gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Dann beging der Herr einen Akt in königlicher Autorität, indem er in den Tempel Gottes hineinging und die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel trieb, die Tische der Wechsler und die Stühle der Taubenkrämer umstieß. Da erregte sich aber die ganze Stadt und sprach: Wer ist der?“ Und die Kinder auf den Straßen wollen nicht aufhören, sie begleiten ihn bis hinein in den Tempel und schrien auch dort: „Hosianna dem Sohn Davids!“
Seht, dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; aber dieser Tag geht spurlos vorüber an allem Fleisch. Es wird dies gelesen und wieder gelesen und nicht beachtet. Es versteht die Christenheit nur den Karfreitag zu feiern; aber das arme Volk Gottes kennt den Tag, da es in Wahrheit drum geht. Wenn der Würgengel droht, und ich habe nichts; wenn die Hölle droht, und ich habe kein Lamm; wenn der Drache wütet, wenn Apollyon (Offenb. 9,11) mir im Weg steht, und ich habe meinen König nicht bei mir - dann gib mir einen Bürgen, der den Würgengel von mir abwehrt! Aber den kann nur Gott, den kann kein Mensch mir geben.
Doch nun kommt die Frage: Wenn das ein solcher Freudentag ist, wozu dann noch die Ermahnung: „Lasst uns freuen und fröhlich darinnen sein“? Das scheint ja überflüssig! Und wozu noch dieser Schrei: „O Herr hilf! o Herr, lass wohl gelingen“? Das scheint im Widerspruch zu stehen mit der Freude darüber, dass der Tag da ist.
Es ist wahr, meine Geliebten, die Jünger haben sich gefreut, das Volk hat sich auch gefreut, es sind alle an dem Tag, dem zehnten Tag des Monats Nisan, fröhlich gewesen. Diese Freude ist wahr gewesen; und ob sie fleischlich war, so ist sie dennoch wahr gewesen. Das bestätigt uns Lukas Kap. 19,37 und 38: „Und da er nahe hinzu kam und zog den Ölberg herab, fing an der ganze Haufe seiner Jünger mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, ein König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“ - Aber wenn dieser Tag da ist, so ist es ein Tag, der sich erstreckt bis auf den vierzehnten, und auch noch bis auf den fünfzehnten des Monats Nisan. Die Jünger haben sich gefreut und Gott gelobt, das Volk hat sich auch gefreut, nach dem Wort: Lasst uns freuen und fröhlich sein! Aber Jesus weinte; ja, er weinte, da er die Stadt ansah am zehnten Tag, da alle rufen: Hosianna dem Sohn Davids! und am vierzehnten verlassen ihn alle, am fünfzehnten schreit das Volk: Ans Kreuz mit ihm! Ans Kreuz mit ihm!
Der Tag, den der Herr gemacht hat, ist allezeit ein Tag von sieben Sonnen, ein Tag des prächtigsten Lichtes, aber auch der tiefsten Schatten; ein Tag des Lebens, aber auch ein Tag des Todes; ein Tag der Errettung, aber auch ein Tag des Verderbens. Die Welt wird dieses Tages nicht gewahr, aber Jesus weint, und Zion, die Tochter Zion, sie sitzt in Sack und Asche.
Nein, das ist nicht überflüssig, dass hier der Geist kommt und spricht: „Lasst uns freuen und fröhlich sein!“ Wo Gott kommt mit seinem Tag, da ist es für das Fleisch Nacht, da gehst du unter mit all deiner Ehre! Wo der Herr Gott mit seinem Tag kommt, da wirst du verachtet und verkannt, da wirst du verworfen und begraben, da ist Angst und Not vorhanden, und es gehen dir die Wasser bis, ja, bis an die Lippen. Das Israel in Ägypten hat sich gefreut, da es das schöne Lamm ins Haus bekam: Willkommen, du schönes, weißes Lamm! Willst den Tod von mir abwehren, willst mich schützen vor dem Würgengel! Und sie haben das Lamm bekränzt mit Blumen, die Kindlein haben ihm Milch gebracht und waren fröhlich, dass das Lamm ins Haus gekommen ist. Aber wenn sie nun ein wenig nachdachten, dann kam die Angst: Ach die Nacht! die Nacht! Neun Plagen sind gekommen, die zehnte wird auch kommen; ach die Nacht! Der Würgengel geht durch das ganze Land, er schont kein Haus, und ich, ich armer Hausvater, ich und mein Haus, wir sind nicht also vor Gott; und du Lamm, wirst du mich schützen? Ja Mosen, ja Aaron vielleicht, und so viele Heilige, als da sind! aber mich armen, verdammungswürdigen Sünder? Bist du für mich, für mich in mein Haus gekommen? O, dass du in mein Haus gekommen bist - ist es nicht vielleicht, um mich heimzusuchen meiner Sünden wegen? Du kannst mich nicht erretten! Ich bin ein zu großer Sünder, ein zu gräulicher Sünder! Solche Not musste traurig machen, knechtische Furcht musste ins Haus hineinbrechen und das Lamm verdunkeln. Die Traurigkeit kam mit dem Zweifel, mit dem Sorgen und Zagen: Wird es wahr sein? Werde ich errettet werden mit den Meinigen? O, wie not tat es da, dass Hoffnung die Trauergeister austrieb, dass der Geist das Herz fest machte mit dem Zuruf: „Lasst uns heute uns freuen und fröhlich sein!“ indem er die Augen des Herzens also lenkte, um bei der Gefahr unverrückt auf das königliche Gotteslamm zu sehen und sich daran mit allem Vorhaben des Herzens zu halten. Denn was ist stärker: der Tod oder das Leben? Was ist Wahrheit - was gesehen wird, oder was nicht gesehen wird? Wie muss aber der Gläubige, den so der Geist den freudigen Glauben lehrt, eben wenn er den Tag des Herrn erblickt, dann erst noch gegen die Macht der Finsternis an, gegen den Unglauben an, schreien: 0 Herr, hilf! o Herr, lass wohl gelingen!
Wenn der Tag des Herrn kommt, dann werden die Auserwählten errettet, aber über alle anderen Menschen geht die Flut, kommt das Verderben, ob sie auch tausendmal die heilige Schrift und das Evangelium inne hätten.
Es musste erfüllt werden, was da geschrieben steht: „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion, siehe dein König kommt zu dir, arm und gerecht, ein Helfer, reitend auf einem Esel und auf dem Füllen der Eselin.“ (Sach. 9,9.) Wenn das Lamm hineinkommt in das Haus, um zu erretten, wenn der König kommt in die Königsstadt, sie zu trösten, so ärgern sich die Schriftgelehrten und Pharisäer daran, dass Gott aus dem Mund der Kinder und Säuglinge sich eine Macht zugerichtet hat. Aber es steckt in der Stadt und in ganz Galiläa verborgen die wahre Tochter Zion; sie hat's gehört, ja, sie hat es mit erlebt am zehnten Tag des Nisan, es sind der ihrigen viele bei dem Herrn gewesen, die „Hosianna“ gerufen haben. Und es war notwendig, dass eben zu ihr der Trost des Heiligen Geistes kam: „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Freue dich sehr!“ Es scheint dieser Tag, den der Herr für sie gemacht hat, zwar ein Todestag zu sein, und er ist auch ein Todestag, ein Tag, da es dem Tod entgegen geht; aber eben so soll ihr König leben und sie mit ihm.
Darum eben hat es dem Heiligen Geist gefallen, diese Worte in verschiedenen Wendungen der Sprache des Geistes wiederzugeben, Zion damit zu trösten. Bei dem Propheten Sacharja heißt es: „Aber du, Tochter Zion, freue dich sehr! und du, Tochter Jerusalems, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer“. Im Evangelium Matthäi lesen wir (21,5.): „Sagt der Tochter Zion“, das ist, tröstet sie damit - „Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig!“ Und im Evangelium Johannis: „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion. Siehe, dein König kommt, reitend auf einem Eselsfüllen“ (12,15). Bei dem Propheten lautet es nach dem Psalm: Freue dich! jauchze! Der Evangelist Matthäus aber versteht es, wie es der Prophet übrigens auch verstanden hat, dass die Tochter Zion weint und heult, dass sie da sitzt, als wäre alles verloren; darum spricht er: Sagt es ihr an! erlöst sie damit! Johannes aber voll Liebe schreibt: Treibt ihr die Furcht aus, denn wir sehen sie voll Furcht. Fürchte dich nicht, du Tochter Zion.
Das ist also der Tag, den der Herr gemacht hat. Es ist kein Freudentag; - ja, fleischliche Freude ist da bei mehreren, auch zum Teil wahre Freude bei manchen; aber bei denen, welche die Bürde tragen, ist keine Freude; die muss der Heilige Geist trösten, auf dass sie sich freuen, auf dass sie fröhlich seien; da muss der Heilige Geist kommen und den Schrei wecken: „O Herr, hilf! o Herr, lass wohl gelingen!“ Das ist kein Misston in den Aufruf zur Freude, das steht hier ganz an seinem Ort. Es ist ja freilich ein schweres Ding, dass wir in der Not uns freuen und fröhlich sein sollen. Das tut die Sünde, dass uns das so schwer fällt; das tut der Teufel mit seinen höllischen Banden, Belial mit seinem Heer. Wenn der Herr Gott Himmel und Erde gemacht hat, dann ist dem Kind angst, dass die Schlange komme und verschlinge Himmel und Erde. Wenn ein Mensch etwas darstellt, dann glaubt man es; aber wenn Gott etwas macht, dann ist die Hölle auf den Beinen, dann muss das Werk Gottes verschlungen werden. Das weiß die wahre Tochter Zion wohl, darum ist es ihr bang, sie weint und heult an dem Tag, wo sie sich freuen sollte. Es soll nur ein jeder sich selbst untersuchen, ob es sich nicht so verhält. Der Tag ist da, den Gott gemacht hat, der zehnte Tag des Monats Nisan ist auch für uns aufgegangen, auch zu uns ist der König gekommen wo ist denn nun die Freude? wo ist das Fröhlichsein?
Meine Geliebten, vor drei Jahrhunderten erlebte man auch einen Tag, wovon man sagen konnte: Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat, - der Tag, da das Lamm Gottes, da der König Israels in der lauteren Predigt seines Wortes seinen Einzug hielt in seine Stadt, die ein geistliches Sodom und Ägypten geworden war. Und als der Herr diesen Tag gemacht hatte, was erlebte da die Tochter Zion? Die Macht der Finsternis war herbei, der alte Drache erhob sich mit seiner Rotte, blutige Verfolgungen wurden angestellt, und Zion wurde geschleppt in den Tod, sie wurde gebracht auf den Scheiterhaufen, und was nicht im Blut schwamm, schwamm in Tränen. Ach, in der Geschichte, wenn der herrlichste Tag da war, da zitterten die Reformatoren, und hätten nicht die Kindlein mit dem „Unser Vater“ sie getröstet, sie hätten in Verzagtheit doch alles noch drangegeben. Gottes Sache, so eben noch herrlich ans Licht gekommen, schien rettungslos verloren. Wer sah da die Gewalt des Lammes? Wer seines Wortes Siege, wenn ihm nicht durch den Trost des Geistes das Haupt über dem Wasser gehalten wurde? Eben deswegen musste ja der Geist des Herrn kommen über die wahrhaftigen Zeugen, mit dem Zuruf: „Freut euch und seid fröhlich!“ auf dass sie sich freuten und fröhlich wären mitten in ihrem Leiden, - aber nur im Wort; denn es war eine Zeit, da heute das Kind und morgen die Mutter, die Großmutter, auf den Scheiterhaufen kam, da man sich jeden Tag des Lebens erwägen musste; da hieß es wahrlich: O Herr, hilf! o Herr, lass wohl gelingen!
Ist das nicht ein Tag, den der Herr macht, wenn Gott kommt und die Seele ergreift auf ihrem Sündenweg, dass sie schreit: Ich bin verloren! Da ist sie ja ergriffen und erfasst von der Liebe des allmächtigen Gottes! Der andere hört ihr Schreien, preist sie selig und freut sich über die Braut; Vater, Mutter freuen sich über das Kind, dass endlich die Stimme gehört wird: Ich bin verloren! Ich muss einen Jesus, ich muss einen Bürgen haben, ich muss das Lamm ins Haus haben, das mich errettet, das mich schützt vor dem Würgengel! Der Himmel jauchzt und alle Engel droben blicken mit Freuden hernieder, während die Seele daliegt in Tränen der Buße, und der Schrei aus dem Herzen aufsteigt: O Herr, hilf! Herr, lass wohl gelingen! auf dass das Werk, das du hast angefangen, bleibe bis auf den Tag deiner Zukunft.
Ist es nicht ein Tag, den der Herr gemacht hat, wenn der Herr kommt und nimmt uns hinweg von dieser Erde, nimmt die Unsrigen hinweg von dieser Erde, die in Christo sind und im Herrn sterben? Lasst uns freuen und fröhlich darinnen sein, spricht der Geist; aber ach, man kann nicht, es ist keine Freude da, und man möchte wohl sich freuen und der Stimme des Geistes gehorchen, aber welch ein Schmerz! Wer möchte nicht lieber die Seinen in diesem Leben, in diesem Ägypten zurückhalten? Wer möchte nicht lieber hier zurückbleiben, als hinüberfahren, wo man nichts mehr sieht? Und doch, und doch! - bei all dem fühlt es die Seele: Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; er hängt nicht ab von Menschen, nicht vom Arzt; das ist der Tag, die Seele hinüber zu bringen in die ewige Ruhe durch alle Mächte der Finsternis hindurch. Und bei aller Sünde und Not, bei aller Angst und bei allem Schreien: „Herr Gott! o Herr Gott! sieh herab auf mich toten Hund!“ spricht dennoch der Geist, indem man das Lamm zu Gesichte bekommt: „Freue dich und sei fröhlich!“ Und es schreit ein jeder, der hinübergeht: „O Herr, hilf! o Herr, lass wohl gelingen!“ auf dass die Seele durch den Jordan, durch die Wasser des Todes, die so hoch gehen, hindurch komme, dass sie hindurch getragen werde durch al die bösen Geister in der Luft, und also auf ewig errettet sei.
Amen.
Schlussgesang.
Psalm 140, Vers 7 und 13.
Wer wird mich rings umher beschirmen?
Wer gibt mir Kraft und Sieg und Ruh?
Wer deckt mein Haupt in Kriegesstürmen?
Bist du es nicht, mein Heiland, du?
Dir werden die Gerechten danken,
Du gibst nach Dunkelheit einst Licht,
Du lässest nie die Frommen wanken,
Sie stehn vor deinem Angesicht.