Ficker, Christian Gotthilf - So lange wird unsere evangelische Kirche eine freie sein und bleiben, so lange sie sich zum Herrn als dem Geiste bekennt.
Predigt über 2 Kor. 3, 16-18
Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns Allen! Amen.
Es ist wohl in der Natur der Sache begründet, dass der heutige Festtag für jeden evangelischen Christen, der es weiß und erkennt, was er an der evangelischen Kirche habe, vorzugsweise ein Tag der Freude und des Dankes ist. Führt er doch zurück auf den ersten öffentlichen Schritt, den Luther im Namen Gottes und Jesu Christi zu tun sich gedrungen fühlte, um der Christenheit zu beweisen, wie schmachvoll und seelenverderblich die Irrtümer seien, welche damals frei und öffentlich von den Haushaltern über Gottes Geheimnisse verkündigt wurden. Führt er uns doch zurück auf den Weg, wo das Licht der evangelischen Wahrheit wieder zu brennen anfing, nachdem es vorher nur unter dem Scheffel gehalten und nur hie und da eine Seele von ihren Strahlen erleuchtet worden war. Ists doch unstreitig einer der herrlichsten und großartigsten Siege, den die evangelische Wahrheit über die feindlichen Gewalten des Irrtums und der Sünde davon getragen hat. Sind es doch die teuersten und heiligsten Güter und Rechte, die unsere Kirche seit jenen Tagen sich errungen hat und die ihr auch unter dem Schutze dessen geblieben sind, der da verheißen hat „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Erkennen, lieben und verehren wir doch in den Reformatoren die Werkzeuge des heiligen Geistes, denen es durch Zurückführung des evangelischen Glaubens auf die Grundlagen der Schrift, durch Wiederherstellung des lebendigen Glaubens an Christum selbst als den Inbegriff alles Segens für den Einzelnen und für die Kirche, so wie durch Verwerfung alles Menschlichen, was die Ehre Gottes und Jesu Christi schwächen dürfte, gelungen ist, dass die Kirche Jesu Christi wieder erneuert werde zur Gemeinschaft der Gläubigen in Christo, wo Christi Wort recht gepredigt und die Sakramente nach der Verordnung des Erlösers verwaltet werden. „So euch der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei“ in diesem Worte ist das Wesen der Reformation bezeichnet; in ihm sind die Grund- und die Glaubenssätze, zu welchen sich die evangelische Kirche bekennen muss, ausgesprochen; in diesem Worte ist die Lösung des Rätsels, wie die kleine Herde nicht zu Schanden geworden ist, ob auch oft Alles gegen sie sich erhoben hat; in diesem Worte liegt mit einem Worte der Grund, dass wir heute mit Dank und Freude beten und singen: „Erhalt uns in der Wahrheit, gib ewigliche Freiheit, zu preisen deinen Namen durch Jesum Christum, Amen!“
Und doch ist gerade der diesjährigen Feier des Reformationsfestes so vieles vorausgegangen, was allerdings nicht geeignet ist, die Gefühle des Dankes und der Freude zu erhöhen. Auf den Bergen und in den Tälern hört man ja klagen, dass gerade dasjenige, worauf unsere evangelische Kirche gebaut ist, das ewige und lebendige Wort Gottes, wie es in den Schriften des alten und neuen Testaments niedergelegt ist, und die freie Gnade Gottes in Jesu Christo unserm Herrn und Erlöser, mit schnöder Verachtung behandelt und wohl oft mit frecher Hand aus den Räumen unsrer Kirche verwiesen worden sei. Auf den Bergen und in den Tälern hallt es wieder von Klagen über Knechtschaft und Verfolgung und von dem Geschrei nach neuer, besserer Lehre, nach neuer, besserer Verfassung. Wohin unser Auge sich jetzt wendet, fast überall zeigen sich Spuren von religiöser Aufregung und kirchlicher Zerrissenheit und oft, wo auch eine Stimme christlicher Weisheit und Erfahrung auf die Hilfe hinweist, die Not tut, und auf den Weg, der wieder zur Wahrheit, zur Ruhe und zum Frieden führt, sie wird entweder überhört, oder wo sie gehört wird, verdammt, verdächtigt und verfolgt. Ja im Angesichte der Feinde, die zwar die Freiheit und den Fortschritt der Kirche immer im Munde führen, aber gewiss so oft nicht wissen, was Freiheit ist und was die Kirche ist, im Angesichte der Zerstörung, die durch unberechtigte und unzeitige reformatorische Bestrebungen überall an heiliger Stätte bereits angerichtet ist, im Angesichte der Bauleute, die in unsern Tagen wie das Gras aus der Erde hervorwachsen, um bauen zu helfen, ob sie gleich bis jetzt müßig am Markte gestanden und im Weinberge des Herrn noch keine Stunde gearbeitet haben, im Angesichte der Bauanschläge, wo doch für die Predigt des göttlichen Wortes kein Raum und für die Verehrung Jesu Christi keine Stätte zu finden ist, im Angesichte des Widerspruchs, der von dem Zeitgeiste erhoben wird gegen das Halten auf die nicht von menschlicher Klugheit gefundenen, sondern von Gott uns gegebenen Wahrheit, im Angesichte der Kämpfe, die, anstatt Wahrheit zu suchen und den Frieden zu retten, so oft nur darauf berechnet sind, Unfrieden auszusäen, ja im Angesichte der treuen Bekenner der evangelischen Kirche, denen das Herz bricht, dass man so leichtsinnig und unverantwortlich mit den Kleinodien der evangelischen Kirche umgehen kann, die alle Kraft zusammennehmen müssen, um nicht allen Mut und alle Hoffnung zu verlieren, die gerade jetzt mit aller Innigkeit an die Verheißung des Herrn sich halten müssen, um mit Freuden den Weg des Gehorsams und der Treue gegen die Wahrheit der Kirche fortzuwandeln, im Angesichte eines solchen Zustandes unsrer Kirche, wie könnte es da anders sein, als dass unser Herz geteilt ist zwischen Freude und Bekümmernis, zwischen Hoffnung und Furcht, und dass das Gebet Davids über unsere Lippen sich drängt (Psalm 80,15.): „Herr Gott Zebaoth, wende dich doch, schaue vom Himmel und siehe an und suche heim diesen Weinstock; halte ihn im Bau, den deine Rechte gepflanzt hat, und den du fest erwählt hast. Siehe darein und schilt, dass des Brennens und Reißens ein Ende werde. Deine Hand schütze das Volk deiner Rechten und die Leute, die du dir fest erwählt hast; so wollen wir nicht von dir weichen. Lass uns leben, so wollen wir deinen Namen anrufen. Herr Gott Zebaoth, tröste uns; lass dein Antlitz leuchten, so genesen wir.“
Gottes Angesicht, das da leuchtet in seinem Worte, wollen wir nun auch suchen. Gottes Trost soll uns heute stärken, dass wir fröhlich und getrost trachten nach seinem Reiche und seiner Gerechtigkeit. Gottes Wort soll uns dazu helfen, dass wir auch jetzt freudig hoffen auf den Sieg dessen, von dem es heißt: „Christus, gestern und heute, von nun an bis in Ewigkeit.“
Amen.
2. Kor. 3,16-18.
„Wenn sich das Volk zu dem Herrn bekehrte, so würde die Decke abgetan. Denn der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Nun aber spiegelt sich in uns Allen des Herren Klarheit, mit aufgedecktem Angesicht; und wir werden verklärt in desselben Bild, von einer Klarheit zu der andern, als vom Herrn, der der Geist ist.“
Der Apostel Paulus spricht in den vorgelesenen Worten die Überzeugung aus, dass, wenn sich das Volk zum Herrn gewendet und in ihm die Erfüllung der im alten Testamente gegebenen Verheißung erkannt haben würde, die Decke von ihren Augen und Herzen fallen, die Bedeutung des Glaubens an Christum als den Herrn, der da frei macht, zu ihrem Rechte kommen und aller Streit in der Gemeinde selbst aufhören werde. Zu diesem Ende behauptet er ausdrücklich, dass der Herr der in dem Einzelnen und in dem Ganzen wirksame Geist der Begnadigung, der Gerechtigkeit und der Heiligung sei, dass, wo der Geist sich finde, auch Freiheit sein müsse, und dass sich dieses in ihnen allen, die Christum als Herrn bekennten, auch bestätigt habe.
Ist es nun auch in unsern Zeiten Anderes, was die Entwicklung des christlichen Glaubens und Lebens, die Freiheit der Kirche Jesu Christi bedroht, so bleibt doch das Wesentliche der hier ausgesprochenen Wahrheit dasselbe. Eine freie, von keiner Seite aus behinderte Entwicklung des christlichen Glaubens und Lebens, eine Fortbildung der christlichen Kirche im Geiste dieser Freiheit ist bloß möglich, wenn die Kirche selbst und die Einzelnen in ihr auf dem Grunde blieben, der gelegt ist, wenn das Bekenntnis von Herzen kommt, dass Christus der Herr ihr Geist sei. Und sehen wir uns nun heute nicht nur von dem festlichen Tage, sondern auch von dem Worte Gottes selbst gerade auf diesen Gegenstand hingeführt, so wollen wir um so aufmerksamer und gewissenhafter dem Unterrichte des göttlichen Wortes unsre Aufmerksamkeit schenken, als wir gerade in unsern Tagen oft genug auf eben so verschiedene als entgegengesetzte Mittel und Wege hingewiesen werden, um zu diesem Ziele zu gelangen.
So lange wird unsere evangelische Kirche eine freie bleiben, als sie sich zum Herrn als ihrem Geiste bekennt, dieser Gedanke beschäftige uns in dieser heiligen Stunde. Wir wollen ihn zuerst zu beweisen suchen, und dann die Bedeutung dieses Gedankens für unser Leben selbst in Erwägung ziehen.
I.
Der Herr ist der Geist. Der Herr in seiner Erscheinung auf Erden, als der von sich rühmen durfte (Joh. 8,56 ff.) „Abraham ward froh, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich,“ der aber doch in Armut und Dürftigkeit umhergegangen ist, der - nach dem Ausspruche des Apostels - „es nicht für einen Raub hielt, Gott gleich zu sein, der sich selbst erniedrigte und gehorsam wurde bis zum Tode am Kreuze, den Gott nun auch erhöht hat und ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in ihm sich beugen sollen alle derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters“ (Phil. 2,8 ff.); der Herr in seinem Worte, das er selbst als das Wort seines himmlischen Vaters, als das Wort der Wahrheit, die da frei macht, als das Wort des ewigen Lebens, als das Wort einer vollkommenen Freude bezeichnet hat; der Herr in seinem Werke, in welchem der Trost der göttlichen Gnade und der Segen der Gemeinschaft mit Gott niedergelegt ist, also dass die Gläubigen getrost mit Paulus (Röm. 8,31 ff.) ausrufen können: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Welcher auch seines eignen Sohnes nicht hat verschont, sondern ihn für uns Alle dahin gegeben; wie sollte er uns mit ihm nicht Alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht. Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr der auch auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns;“ der Herr in seinem Regimente über die, um die er gebetet hat und noch betet: „Ich bin nicht mehr in der Welt; sie aber sind in der Welt und ich komme zu dir. Heiliger Vater, erhalte sie in deinem Namen, die du mir gegeben hast, dass sie eins seien gleich wie wir“ (Joh. 17,11), und auf welchen die Verheißung ruht: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matth. 18,20), dieser Herr ist der Geist, der das Werk der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, das Werk der Heiligung und der Seligkeit schafft und vollendet. Wo er ist, da ist auch die Wahrheit; und wo die Wahrheit ist da ist Freiheit, da allein kann der Einzelne wachsen an Weisheit, an Gnade bei Gott und den Menschen; da allein kann die Gemeinschaft der Gläubigen ihrer selbst froh werden und stark, um alles Hemmende, alles Feindliche abzustoßen oder zu überwinden. Darauf hat schon Christus selbst gedeutet, als er den Petrus auf sein Bekenntnis (Matth. 16,16): „Ich glaube, dass du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ antwortete: „Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht geoffenbart, sondern mein Vater im Himmel. Und ich sage dir auch: du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwinden.“ Darauf hat Christus ausdrücklich seine Gläubigen verwiesen, wenn er spricht: (Joh. 15,5 ff.) „Ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und muss brennen. So ihr aber in mir bleibt, und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt und es wird euch widerfahren,“ und an einem andern Orte (Joh. 14,6): „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“
Solches haben auch die ersten Jünger des Herrn erkannt und dafür haben sie Zeugnis abgelegt durch Lehre und Leben. Wie Petrus spricht (Joh. 6, 68): „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens und wir haben geglaubt und erkannt, dass du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes,“ wie Paulus (2. Kor. 3,4. 1,24) bekennt: „Wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesum Christum, dass er der Herr sei, wir aber eure Knechte um Jesu willen“: so ist es das einmütige Bekenntnis aller Jünger (Apg. 5,20) „Wir können es nicht lassen, dass wir nicht reden sollen, was wir gesehen und gehört haben“, und von der ersten christlichen Gemeinde heißt es (2,42 Apg.): „Sie blieben beständig in der Apostel Lehre, in der Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebet.“ Und darum hatten sie alle so viel Gnade bei Gott und bei allem Volke; darum bekannte sich der Herr zu ihnen, weil sie sich zu ihm als ihrem Herrn bekannten; darum spiegelte sich, wie unser Text ausdrückt, in ihnen des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht; darum wurden sie verklärt in dasselbige Bild von einer Klarheit zur andern, als vom Herrn, der der Geist sei; darum hatte Nichts Gewalt über sie, weder fremde Lehre. oder äußere Gewalt, noch das eigne Herz mit seiner oft törichten und sündlichen Rede; darum wuchs der ganze Bau, erbaut (Eph. 2,20 ff.) auf den Grund der Apostel und der Propheten, wo Christus der Eckstein ist zu einem heiligen Tempel, zu einer Behausung Gottes im Geist.“ Mochte auch das Bekenntnis von „Jesu Christo, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit sein“: die Geschichte zeugt dafür, dass die Macht des römischen Reichs und die Weisheit des griechischen Volkes ihm zur Beute geworden sind, dass das Zeichen des Kreuzes das Siegeszeichen gewesen ist, um welches sich eine Gemeinde versammelt hat, die, von Christo ergriffen, trachtet nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit.
Oder was ist's gewesen, dass die Kirche Jesu Christi in den nächst folgenden Jahrhunderten so tief fallen konnte, dass Luther endlich in der Angst und Betrübnis seines Herzens betete (Psalm 74): Gott warum verstößt du uns so gar? Gedenke an deine Gemeinde, die du von Alters her erworben, und die du zum Erbteil erlöst hast, an den Berg Zion, auf dem du wohnst. Tritt auch sie mit Füßen und stoße sie gar zu Boden. Der Feind hat Alle verderbt im Heiligtume. Deine Widerwärtigen brüllen in deinen Häusern, und setzen ihre Götzen darein.“ War es nicht, dass man an die Stelle des unsichtbaren Oberhauptes, der die Wahrheit und das Leben seiner Kirche ist, ein sichtbares, von menschlicher Schwachheit und Unvollkommenheit nicht freies und an die Stelle des ewigen, lebendigen Wortes Gottes, menschliche, tote Satzungen gestellt hatte? Was Anderes haben die Reformatoren gewollt, als den Namen Jesu Christi wieder zu Ehren bringen, den Herrn selbst in seinem Worte und in seiner Gnade wieder einführen, nachdem sie vorher Alles hinausgewiesen hatten, was eben im Laufe der Zeit zwischen den Herrn und seine Gemeinde hineingestellt worden war? Was Anderes ist es, was die Zeit der Reformation als das Bekenntnis eines gemeinsamen Glaubens ausgesprochen hat? Ist's nicht der Glaube an das Wort Jesu Christi, als eines ewigen Gotteswortes und der Glaube, dass wir nicht um unsrer Werke und nicht aus Verdienst gerecht und frei und selig werden, sondern allein durch die freie Gnade Gottes in Jesu Christo? Oder ist auch nur ein Artikel in den von so Vielen in unsrer Zeit verlästerten, und von den Wenigsten gekannten kirchlichen Bekenntnisschriften, in welchem dieser Glaube umgangen, verändert, geleugnet worden ist? Weisen nicht im Gegenteile alle Artikel dieser Bekenntnisschriften auf jenen Glauben zurück? Stehen die einzelnen mit ihm nicht in der genauesten Verbindung, und wäre es nicht bloß ein geschichtswidriges und törichtes, sondern auch ein höchst gefährliches und verderbliches Unternehmen, der Geltung derselben ohne Weiteres das Urteil der Verdammnis zu sprechen? Hätte nur die spätere auf die Reformation folgende Zeit immer es verstanden, auf dem von den Reformatoren erneuerten Grunde fortzubauen und das durch den Geist des Herrn Gewonnene auch durch den Geist des Herrn zu erhalten, zu schützen und zu verteidigen; hätte man nur nicht so oft seine Zuflucht genommen zu menschlicher Weisheit und menschlichen Künsten, um die hervortretenden Mängel und Gebrechen in der Kirche, in Lehre und Verfassung zu heilen und abzustellen; hätte man nur immer fest daran gehalten, dass in dem Artikel von dem Worte und der Gnade Gottes in Christo alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen sind, um die Kirche in ihrer Schwachheit zu stärken, in ihrer Zerrissenheit zu verbinden, in ihrer Klage zu trösten, in ihrer Ohnmacht zu beleben, in ihrer Verachtung zu ermutigen, in ihrem Verlassensein zu erheben, hätte man sich, mit einem Worte, immer dem Worte zugewendet, dass, wo der Geist des Herrn gewesen, auch Freiheit gewesen sei: gewiss es würde auch in unserer Zeit besser bestellt sein um das Heil und den Fortschritt unserer evangelischen Kirche; und wie bis auf den heutigen Tag die Christen ohne den Geist des Herrn nur Knechte der Menschen gewesen sind, so werden sie es auch bleiben, und die Kirche Christi selbst wird „mit Tränen säen und mit Tränen ernten.“
Haben wir uns nun aber, um den Satz zu beweisen, dass unsere evangelische Kirche nur so lange eine freie sein und bleiben werde, als sie sich zum Herrn, als dem Geiste der Kirche bekennt, bisher nach Anleitung des 18. V. auf die Geschichte der christlichen Kirche berufen: so können wir uns nun auch mit demselben Rechte auf die Natur der Sache berufen, oder weil im Christentume Alles darauf ankommt, dass man seine Wahrheit im Leben selbst erkennt, im Leben findet und durch das Leben bewährt, auf die christliche Lebenserfahrung selbst. Luther sagt einmal von den Konzilien und Kirchen: „Gottes Wort kann nicht ohne Gottes Volk sein, und wiederum kann Gottes Volk nicht ohne Gottes Wort sein,“ und es kommt dies in vieler Beziehung zusammen mit den Schriftworten: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“. Ja wo Gottes Wort gepredigt wird, lauter und rein, wo Gottes Wort geglaubt wird, als „die Kraft Gottes selig zu machen Alle, die daran glauben,“ wo Gottes Gnade, die im Worte Gottes der Anfang und das Ende ist, das menschliche Herz heimsucht, da ist auch, weil Gottes Wort nie leer zurückkommt, ein Volk Gottes. Da erkennen es die Einzelnen: „der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich,“ und wie sie mit Christo auferstanden sind zu einem neuen Leben, so ist's ihre Freude und ihr Trost, dass sie nun auch ferner mit Christo leben ein stilles verborgenes Leben in Gott und „warten in Geduld der Offenbarung ihres Heilands Jesu Christi.“ Oder ist's auch denkbar, dass derjenige, der Christum erkannt hat und in Christo den Vater, über das Heil seiner Seele, über das Ziel seines Lebens, über das Nähere seiner Bestimmung in Zweifel und Ungewissheit bleiben wird? Ist's denkbar, dass ein Christ, der aufrichtig glaubt und bekennt: „Also hat Gott die Welt geliebt rc.“ im Dienste eines eitlen und sündhaften Lebens bleiben kann? Ist's denkbar, dass ein Christ, sobald er daran glaubt, wie Christus um unsertwillen gestorben ist, in Sünden beharren kann? Paulus hat dies einen Widerspruch genannt und als Gesetz es ausgesprochen, „dass, wer den Namen Jesu Christi nennt, von Sünden abtreten müsse,“ und Christus selbst hat dem Glauben an ihn die Macht verheißen, die Sünden und Sorgen der Welt zu überwinden. Und wo nun einmal aus Gottes Wort ein Gottes Volk geboren ist, da kann auch für das Weitere das Volk nicht leben ohne Gottes Wort. Gottes Wort ist die Speise und der Trank, die Hilfe und der Schutz, dass sie bleiben in dem, was sie gelernt haben, dass sie behalten, was ihnen vertraut ist, dass sie „als die Freien ihren Lauf vollenden, ihren Glauben halten und einen guten Kampf kämpfen.“ Dies ist der notwendige Zusammenhang zwischen dem Geiste des Herrn und der Freiheit in dem Herrn, und die rechte Einsicht in denselben haben eben alle Christen, in soweit sie der von Christo selbst gestellten Forderung nachkommen: So Jemand will des Willen tun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei oder ob ich von mir selber rede. (Joh. 7,17.)“
II.
Vereinigt sich nun aber demgemäß die Natur der Sache mit der Lebenserfahrung der einzelnen Christen und der Geschichte der christlichen Kirche überhaupt, um uns von der Wahrheit des Satzes zu überzeugen, dass unsere evangelische Kirche eine freie bleiben wird, so lange sie sich zu Christo dem Herrn als zu ihrem Geiste bekennt: so bleibt uns nun noch übrig, zu erwägen, wozu uns diese Wahrheit dienen müsse. Unstreitig haben wir in ihr zuerst den rechten Maßstab, nicht nur um die kirchlichen Zustände überhaupt, sondern auch insbesondere unser Verhältnis zur Kirche zu beurteilen. Denn dringt unsere evangelische Kirche mit allem Rechte darauf, dass Jeder in der Kirche sich so zur Kirche selbst verhalte, wie er zu Christo steht, während ja nur die katholische Kirche die Sache geradezu umkehrt, so haben wir in diesem Maßstab gewiss auch in den meisten Fällen das richtige Urteil über das Ganze und Einzelne gefunden. Wo unsere Kirche in der Gegenwart also an dem Geiste des Herrn festhält, wo Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, so verkündigt und geglaubt wird, dass er uns wirklich von Sünde und Tod erlösen kann, wo das Wort Gottes als die Richtschnur des christlichen Glaubens und Lebens gilt und wo der menschliche Geist es ebenso für seine Pflicht als für sein tiefstes Bedürfnis anerkennt, gehorsam und dankbar dem Worte Gottes sich zu unterwerfen; wo die Gewalt des Staates solche von der Kirche selbst getroffene Ordnung nicht nur nicht hindert, sondern, so viel an ihr ist, auf dem Wege des Gesetzes zu erhalten und zu schützen sucht; wo Viele sich vereinigen, um solche Ordnung aufrecht zu erhalten, da ist Gesundheit, Kraft und Leben, da ist Freiheit, da ist die Möglichkeit nicht allein gegeben sondern auch die Bürgschaft, dass die Kraft und der Segen der evangelischen Kirche sich immer weiter ausbreiten, dass es mit der christlichen Frömmigkeit und Tugend immer besser werden müsse, mögen auch die Feinde Christi einen solchen Zustand einen kranken und bedenklichen nennen und nur immer von Bestrebungen des Aberglaubens, der Finsternis des Rückschrittes, und wohl gar der Heuchelei und der Böswilligkeit reden. Wo aber das Wort Gottes unter die menschliche Vernunft gestellt ist, wo der in der heiligen Schrift und in den Bekenntnisschriften ebenso bestimmt als deutlich ausgesprochene Glaubenssatz von der Gerechtigkeit der Menschen durch den Glauben an die freie Gnade Gottes in Jesu Christo als ein offenbarer und seelenverderblicher Irrtum gescholten wird, wo das gemeinsame Band des Glaubens, dass Christus der Herr sei, dem wir uns unterwerfen müssen, fehlt, und wo die christlichen Gemeinden es sich müssten gefallen lassen, dass ihnen gepredigt werde, was die einzelnen Prediger gerade zu predigen für recht und gut halten; wo solches nicht einmal als ein Mangel und als eine Krankheit gefühlt und erkannt wird; wo dasjenige vielmehr Knechtschaft der Gemeinden heißt, worin doch nur ihre Freiheit liegt; wo man über diese wunde Stelle des christlichen Lebens schnell hinwegeilt und das Heil der Kirche in neuen Verfassungen sucht, ohne vielleicht danach zu fragen, ob die vorgeschlagenen auch aus dem Inwendigen des Christentums selbst hervorgegangen seien und ob sie auch von den Bedürfnissen unseres christlichen Lebens gefordert werden und mit dem Standpunkte unserer christlichen Bildung vereinbar seien; wo man es für geraten, für natürlich und notwendig hält, ohne Weiters die Verfassung des bürgerlichen und politischen Lebens nun auch auf die der evangelischen Kirche zu übertragen, ohne an das Wort des Herrn zu gedenken, „dass sein Reich nicht von dieser Welt sei,“ und „dass eine von unten kommende Verfassung nur bleischwere Rüstung ist, welche die freie Gemeinschaft der Kirche zu erdrücken droht: da ist das Leben der evangelischen Kirche in seinem Innersten krank; da ist die Kraft gebunden und die Freiheit verloren; und wir selbst, wo wir zu den letzteren gehören, wir sind undankbare, unfreie Glieder der christlichen Kirche, weil es eben auch bei uns an dem Bekenntnisse fehlt, dass der Herr der Geist sei.
Um so mehr müssen wir uns nun aber auch ermuntert fühlen, von nun an immer eifriger, entschiedener und freudiger Christum zu bekennen, dass er der Herr sei. Denn ist die evangelische Kirche wiederum frei geworden durch dieses Bekenntnis, ist sie bis auf den heutigen Tag nur in so weit frei geblieben, als sie von diesem Bekenntnisse durchdrungen war und ist, können wir nur dann auf einen das Heil der evangelischen Kirche fördernden Ausgang des in unsern Tagen ebenso rücksichtslos als leichtsinnig erhobenen Kampfes hoffen, wenn die einzelnen Glieder der Kirche „einmütig bei einander bleiben in Christi und der Apostel Lehre, in der Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebete“: so lasset uns beten, dass der Herr unsern Glauben stärke, unsern Glauben an ihn, der die Welt überwunden hat, und in dem auch wir überwinden sollen die Feinde seines heiligen Namens. Mögen auch viele solchen Glauben verachten und verdächtigen als einen des vernünftigen und mündig gewordenen Geistes unwürdigen, mögen Viele, um nicht gescholten zu werden, oder auch wohl aus Liebe zum Frieden, versuchen, es mit Christo aber auch mit denen, die ihn als den Herrn nicht stehen lassen wollen, zu halten, mögen viele nur unter Furcht und Zittern ihren Glauben bekennen: mehr als zu irgend einer andern Zeit tut in unserer Zeit ein eifriges, entschiedenes und freudiges Bekenntnis Not. Ein solches allein trägt, hebt, schmückt und tröstet die Kirche; ein solches allein verlangt die Kirche; ein solches allein segnet die Kirche, segnet der, der die Kirche gegründet hat. Als Glieder der Kirche, die von Haus aus die streitende war, wissen wir es, dass wir selten daran denken dürfen, Hütten der Verklärung zu bauen im Lande der Lebendigen. So ists unser Beruf und unsere Freude, Irrtum und Sünde zu überwinden, die untreuen Glieder zu überführen, die Toten zu wecken, die Kranken zu pflegen und die Bekümmerten zu trösten. Ach dass doch Luthers Wort an dem heutigen Tage in dem Herzen der evangelischen Kirche Raum gewinnen möchte! Das ist ja endlich auch der Stab, an welchem wir vertrauensvoll der Zukunft unserer Kirche entgegen gehen können. Ist nur der Herr unter uns, bekennen wir ihn ohne Furcht und Scheu und beweisen wir es durch ein stilles und frommes Leben, dass unser Bekenntnis auf einem guten Grunde ruhet: dann wird der Herr selbst auch ferner seiner Herde sich annehmen, wie er sie ja nie verlassen und versäumt hat. Was demnach auch menschliche Weisheit und Macht über die Kirche bringen, was man auch über sie beschließen, wie bitter und feindlich man auch ferner über den Glauben der Kirche urteilen, wie leichtsinnig man auch gegen ihre Grundsätze kämpfen, wie viel Zeit und Kraft man auch auf Nebenwerke verwenden und wie sehr man das Gebäude der Kirche auch durch äußere Stützen halten zu können meinen möge; weiß sich unsere Kirche nur Eins mit Christo, ihrem Herrn, ist sie sich nur dieser Gemeinschaft immerdar bewusst und erkennt sie sich in diesem Bewusstsein als eine von Gott berechtigte und mit seiner Gnade gesegnete Gemeinschaft, fühlen wir uns selbst frei in der Herrschaft Christi, dann wissen wir auch, dass die Tage der Knechtschaft nicht wieder zurückkehren, dass Christus auch ferner mit seiner Gnade und seinem Segen unter uns bleiben werde und wir singen und beten mit Freuden:
Erhalt uns in der Wahrheit;
Gib ewigliche Freiheit,
Zu preisen deinen Namen
Durch Jesum Christum! Amen.