Claudius, Matthias - Der Jüngling von Nain

Claudius, Matthias - Der Jüngling von Nain

„Und es begab sich darnach, daß er in eine Stadt mit Namen Nain ging: und seiner Jünger gingen viel mit ihm, und viel Volks.“
„Als er aber nahe an das Stadtthor kam: siehe, da trug man einen Todten heraus, der ein einiger Sohn war seiner Mutter; und sie war eine Wittwe, und viel Volks ging mit ihr.“
„Und da sie der HErr sahe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: weine nicht.“
„Und trat hinzu, und rührete den Sarg an: und die Träger stunden. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, stehe auf.“
„Und der Todte richtete sich auf, und fing an zu reden. Und er gab ihn seiner Mutter.“

Man kann eine solche Geschichte nicht lesen, ohne die Mutter selig zu preisen und den Todten und die Träger und alle Menschen, die dabei waren; aber doch sonderlich die Mutter. Du weißt, Andres, wenn man ein Kind schwer krank hat, das man gerne behalten will, wie man da geht und die Hände ringt und immer hofft, auch wenn man nicht mehr kann und sollte. Man hofft noch immer und hört auch nicht auf, so lange die Kranke noch lebendig und im Bette ist. Wenn sie aber auf dem Brett liegt, wenn der Sarg kömmt und die Träger, und die Todte herausgetragen wird, denn muß man wohl aufhören, und bleibt denn nichts übrig, als hinter dem Sarg herzugehen und zu weinen.

Die Wittwe zu Nain scheint auch keinen andern Rath gewußt zu haben, und sie hoffte wohl auch nicht mehr, als sie, hinter der Leiche her, aus dem Stadtthor ging. Und es würde ihr auch nicht anders als uns andern ergangen sein, ihr Kind wäre eingesenkt und mit Erde beschüttet worden, und sie hätte allein wieder zurückgehen müssen, wenn nicht unser lieber Herr Christus grade des Wegs hergekommen wäre, und sie ihm mit der Leiche begegnet wären.

Und darum ist es eben so groß und erfreulich, daß er einmal auf Erden gewesen ist, und Menschen das Glück haben konnten, ihm zu begegnen.

„Und als sie der Herr sahe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: weine nicht.“

Es ist immer etwas über alle Maßen zartes und großmüthiges in dem Benehmen Christi. Wer nicht helfen kann, hat gewöhnlich Mitleiden, und wer Mitleiden hat, kann gewöhnlich nicht helfen. Auch ist mancher mitleidig, weil die Reihe auch an ihn kommen kann, weil er den andern braucht, oder ihm Verbindlichkeit hat u. s. w. Hier ist das alles ganz anders. Auch, nach dem ersten Ansehen hatte die Wittwe Recht, Mitleiden von Christus zu erwarten und zu fordern; nach der Wahrheit aber war ein anderes Verhältniß zwischen ihm und ihr. Vor ihm war sie, was wir alle sind: undankbare Kinder, eine ungerathene Tochter, die ihres Vaters Haus muthwillig verlassen und sich selbst unglücklich gemacht hatte; und Christus war der Vater, der ihr nachgegangen war, um das verlorne Kind aufzusuchen, und der sie nun hier in einer elenden Hütte mitten unter den bittern Folgen ihrer Vergehung antraf. Sie mußte sich schämen, ihm vor die Augen zu kommen, und hatte nichts als Vorwürfe zu erwarten, und verdient.

Aber, „als sie der Herr sahe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: weine nicht.“

Und das war ihm noch nicht genug. Er wollte nicht allein vergeben und vergessen, sondern auch in der gegenwärtigen Lage und Verlegenheit Rath schaffen.

„Und er trat hinzu, und rührete den Sarg an, und die Träger stunden.“

Vermuthlich kannte die Wittwe den Herrn Christus nicht und wird also in ihrem Schmerz nach dem Rabbi und seinem „weine nicht!“ wohl nicht sonderlich hingehört haben. Sie hat gewiß den Sarg mit keinem Auge verlassen und von dem Rabbi nichts erwartet - noch nicht, als er hinzutrat und den Sarg anrührte und dem Jüngling aufzustehen gebot.

Als aber der Kopf aus dem Sarge empor kam, als der einzige Sohn sich aufrichtete und anfing zu reden und ihr wieder gegeben wurde … Andres, wie wird sie da den wunderbaren Rabbi angesehen, sich vor ihn auf die Erde hingeworfen und ihm Hände und Füße geküßt haben.

Und was meinst Du die Umstehende? Lukas sagt: „es kam sie alle eine Furcht an, und preiseten Gott rc.“; und das scheint mir sehr natürlich. Denn, so rührend die Scene auch immer sein möchte, so mußte doch das höhere Interesse die Oberhand gewinnen. Man verliert die Wittwe aus den Augen und zittert und preiset Gott: daß es also wahr ist, daß im Tode nur das Gehäuse und die Hülse zerfällt; daß der Geist des Menschen nach dem Tode übrig bleibt, und man wahrhaftig auf Wiedersehen rechnen kann.

Andres! die in den Gräbern sind, werden die Stimme des Sohnes Gottes hören und herfürgehen…

Aber auch die Todten, die nicht in den Gräbern sind, werden die Stimme des Sohnes Gottes hören und herfürgehen.

Sein Reich war nicht von dieser Welt. Ob er gleich Herr und Meister der sichtbaren Natur war, und seine Lehre über alles wohlthätig auch für dies Leben ist, und er selbst im Leiblichen immer und bei aller Gelegenheit half und diente, so war doch dies eigentlich sein Feld und Gebiet nicht. Er war gesetzt über das Unsichtbare und ein Pfleger der heiligen Güter. Und alle seine sichtbare Werke und Wunder waren nur seine kleinere und Neben-Werke, die er verrichtete und that, um die Menschen über die größeren zu belehren, und ihnen durch das, was sie sahen, die Augen zu öffnen über das, was sie nicht sahen.

Als er dort zu dem Gichtbrüchigen sprach: „Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben“; so wird der Gichtbrüchige selbst zwar wohl inne worden sein und gewußt haben, was das sei, wenn Christus einem Menschen seine Sünden vergibt; aber die Schriftgelehrten, die umher standen, wußten es nicht, und hatten deswegen ihre Bedenklichkeiten. Und Christus sagte: „Auf daß ihr wisset, daß des Menschen Sohn Macht habe, auf Erden die Sünden zu vergeben, sprach er zu dem Gichtbrüchigen: stehe auf, hebe dein Bette auf und gehe heim. Und er stund auf und ging heim.“

So auch hier. Die Auferweckung eines Todten ist freilich ein großes Werk; aber es gibt noch ein größeres. Wie Geist und Willkür größer und edler ist, als Leib und Mechanismus, so ist auch die Auferweckung des geistlichen Jünglings zu Nain, oder die Herstellung unsers Geistes in seine ursprüngliche Herrlichkeit ein ander Werk. Aber dies hohe und eigentliche Werk Christi ist unsichtbar. Damit wir aber wüßten, daß er der von der Welt her erwartete und von allen guten Menschen begehrte Held und Helfer sei und Macht habe, den erstorbenen Geist des Menschen zu wecken, so weckte er Leiblich-todte. Und die das hörten und um die Wahrheit bekümmert waren, die wußten, weil niemand die Werke thun kann, daß er sei ein Lehrer von Gott kommen, und gingen zu ihm, um bei ihm Rath und Trost für ihre Seele zu finden.

Menschen können keinen geben, was sie auch sagen und versprechen. Sie können von der Leiche wohlreden, können sie kleiden und mit Blumen schmücken, ihr den Kopf und die Hände zurecht legen rc.; aber todt ist todt, und sie bleibt stille und stumm im Sarge liegen. Wenn aber Christus den Sarg anrühret, so richtet der Todte sich auf und fängt an zu reden.

Durch Worte und Floskeln wird aus dürrem Winterholz kein grünes; wohl aber durch ein gleichartiges Leben.

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