Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Achtzehnter Vortrag. Die letzte Reise nach Jerusalem.

Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Achtzehnter Vortrag. Die letzte Reise nach Jerusalem.

Die ungetrübteste und reinste Freude, welche Jesus während seiner galiläischen Wirksamkeit hatte, war immer noch die Freude über den Glauben der beiden Heiden, mit denen er in thatsächliche Berührung kam. Diese Freude weist, wie wir gesehen haben, auf eine herrliche Zukunft des Reiches Christi unter den Heiden hin. Diese Zukunft konnte aber erst dann verwirklicht werden, wenn das Verhältniß Jesu zu seinem Volke völlig zum Abschlusse wird gebracht worden sein. In Galiläa ist es, wie wir gesehen, zu einem vorläufigen Abschluß gekommen und dieser Abschluß besteht darin, daß alles Wirken Jesu an seinem Volke keinen selbstständigen Anfang des neuen Lebens, der in sich die Kräfte habe, sich weiter zu verbreiten, gegründet, und also, da das Wirken Jesu auf nichts Geringeres angelegt ist, keinen Erfolg gehabt hat. Die eigentliche und schließliche Entscheidung über den Erfolg des Handelns Jesu kann aber nirgends sonst, als in Jerusalem, der Hauptstadt des israelitischen Volkes und Landes, sich herausstellen. Diese Nothwendigkeit liegt in dem strengen Gesetz der Geschichtlichkeit des Lebens Jesu, welches wir von allem Anfang gefunden haben. Wenn Jesus also im Anfang seiner öffentlichen Laufbahn zuerst in Jerusalem seine königliche Würde und Machtvollkommenheit offenbarte, so muß er auch schließlich in Jerusalem die letzte Entscheidung hervorrufen. Das ist der Sinn und die Bedeutung seiner letzten Reise nach Jerusalem. Es gibt aber nicht bloß einen natürlichen Abschluß der galiläischen Periode, sondern auch einen übernatürlichen, und dieser übernatürliche Abschluß ist eine heilige Höhe, auf welcher wir einerseits noch einmal seine galiläische Thätigkeit überschauen, andererseits den vollen Ueberblick über seinen letzten Gang nach Jerusalem gewinnen. Diese heilige Höhe ist die Verklärung Jesu auf dem hohen Berge. Wir dürfen daher nicht eher auf diese letzte Reise eingehen, als bis wir diese heilige Höhe bestiegen haben.

Von Trümmern zerschlagener Hoffnungen, vereitelter Entwürfe und Pläne ist die Geschichte der Menschheit auf allen ihren Wegen voll, und diejenigen, welche neben diesen Trümmern sitzen und trauern, sind meistens die Besten und Edelsten unseres Geschlechtes. Damit ist aber schon gesagt, daß die Hauptursache des Unterganges der besten Gedanken und Anschläge nicht sowohl in den Urhebern derselben liegt, sondern in der Masse derer, auf welche jene wirken wollen. Aber die tiefste Klage der Menschheit ist die, daß unter denen, welche Großes und Hohes gewollt und angefaßt, aber es nicht hinausgeführt haben, wenigstens nicht, wie sie es sich vorgenommen, Keiner gefunden wird, der nicht einen Theil der Schuld auf sich selber nehmen muß; und die Besten unter denen, welche am meisten Ursache haben, die Anderen wegen ihrer Trägheit und Blindheit, wegen ihrer Leidenschaft und Untreue anzuklagen, sind diejenigen, welche bei aller gerechten Klage über die Anderen sich selber einzuschließen nicht vergessen. Wir wissen bereits, daß die Geschichte Jesu in dieses tragische Drama der Menschheit völlig und ohne Vorbehalt eingeht, ja wir haben uns schon jetzt überzeugt, daß seine Geschichte der eigentliche Tiefpunkt. dieses Dramas ist. Sein Ziel ist das höchste, welches denkbar ist: er will das Volk, welches Gott zum Haupt der Nationen gesetzt hat (s. 5 M. 28,13), dieses sein Volk will er zu einer Zeit, da es am tiefsten gefallen ist innerlich und äußerlich, zu seiner heiligen Bestimmung erheben, damit von ihm aus der Strom des göttlichen Segens sich in alle Länder und Völker ergießen und den Fluch der Erde hinwegnehmen könne. Und so groß ist die Hemmung, welche er auf dem Wege zu diesem Ziel bei seinem ersten Schritt findet, daß er seine letzten Gedanken nicht einmal aussprechen kann. Sein Arbeiten und Wachen, sein Gebet und seine Liebe ist umsonst, jedem Erfolg seines Wirkens steht sofort ein Ergebniß zur Seite, welches ihn überzeugt, daß es auch bei den Vertrautesten und Treuesten an einem festen Grunde, auf welchem weiter gebauet werden könnte, immer noch fehlt. So unvergleichlich hoch das Ziel ist, so unvergleichlich gewiß ist die Vergeblichkeit alles Bemühens, einen solchen Contrast zwischen Arbeit und Erfolg gibt es nirgends wieder. Wir haben die riefen und erschütternden Klagen und Anklagen Jesu gegen sein galiläisches Volk, gegen seine vertrauteste Umgebung vernommen. Indem nun so der Herr in die Reihe der geistlichen Heroen der Menschheit eintritt und an ihrem tragischen Geschick Theil nimmt, zu welcher Anschauung und Auffassung er uns selber Anleitung gibt, werden wir eben an dieser Gleichheit am deutlichsten und ausgeprägtesten seine Ungleichheit erkennen. Denn während sie Alle an dem Mißlingen ihrer höchsten und heiligsten Gedanken mehr oder minder einen Theil der Mitschuld auf sich nehmen müssen, ist Jesus der Einzige, der alle Schuld von sich hinwegweisen kann und muß auf sein Volk, „dieses ehebrecherische und verkehrte Geschlecht.“ Es ist wichtig, daß es in dem galiläischen Leben Jesu ein Ereigniß gibt, durch welches diese seine heilige und göttliche Unvergleichlichkeit thatsächlich aufgewiesen wird. Jesus ist Mensch im vollen und wahren Sinne des Wortes, das müssen wir uns immer aufs Neue vorhalten, weil es bei dem gewohnheitsmäßigen Bilde, welches wir von ihm im Sinne zu haben pflegen, uns immer wieder zu verschwinden droht. Als Mensch hat er das Bedürfniß der Anerkennung seines Werthes, der Ehre, welche ihm gebührt, und zwar dieses um so tiefer, je reiner sein Menschenthum und je höher sein Werth ist. Denn der richtige Mensch oder der Mensch Gottes, wie die Schrift sagt, kann sich nie von der Gesammtheit des Menschengeschlechtes trennen, und so wie er diese Gesammtheit anerkennt, so muß er seinerseits verlangen, daß er in seinem Werthe anerkannt und geehrt werde. Wer die Ehre nur im Sinne der Eitelkeit kennt, wer nicht weiß, daß die Eitelkeit ein Schatten ist, der auf einen wirklichen Körper hinweist, gibt nur zu erkennen, daß er von dem Dienst der Sünde noch nicht erlöset und in seinem Sinne noch gänzlich finster ist. Ein Solcher kann weder die häufigen Aussagen des alten Testamentes von dem göttlichen Gute der Ehre, noch auch den Apostel Paulus, der lieber sterben, als seinen Ruhm verlieren will (s. 1 Kor. 9,15), verstehen. Ein Solcher lasse sich erst erleuchten von dem Lichte Jesu Christi und dann komme er und erwäge mit uns, was in dem Herzen Jesu vorgegangen ist. Wer je Großes in reinem und gutem Gewissen versucht und darin den Widerstand der Welt erfahren hat, der kann wenigstens annäherungsweise den Schmerz Jesu bei der Ueberschau seiner galiläischen Wirksamkeit verstehen, der kann wenigstens eine Ahnung fassen von seinem Verlangen nach der Anerkennung seines gottgehorsamen Willens im Gegensatz zu der offenbaren Vereitelung seiner Arbeit durch den widergöttlichen Willen der Welt. Innerhalb der Welt kann ihm Niemand diese Anerkennung und Ehre gewähren, denn selbst Petrus ist, wie sich uns ergeben hat, noch nicht in das innere Geheimniß seines heiligen Willens eingedrungen. Nur aus der überweltlichen Sphäre kann ihm zu Theil werden, worauf er vollen und gerechten Anspruch hat, und eben dies ist geschehen auf dem Berge der Verklärung, von welcher Petrus, der eine von den drei Zeugen derselben, im hohen Alter noch mit voller Begeisterung schreibt: „er habe empfangen von Gott dem Vater Ehre und Herrlichkeit“ (s. 2. Petr. 1,17).

Alle drei Synoptiker berichten diese wunderbare Begebenheit und heben sie dadurch hervor, daß sie dieselbe wider ihre Gewohnheit mit einer bestimmteren Zeitangabe begleiten. Sie gehen aus von einem prophetischen Ausspruch, in welchem der Herr die Nähe der Offenbarung seines Reiches ankündigt. Von diesem Ausspruch zählen Matthäus und Markus sechs Tage, Lukas ungefähr acht Tage und in den so bestimmten Zeitpunkt setzen sie die Verklärung Jesu auf einem hohen Berge (s. Matth. 17,1. Marc. 9, 2. Luk. 9, 28). Lukas sagt, er habe hier gebetet, und während des Betens sei seine Gestalt verkläret worden. Der Gegenstand all seines Betens ist das Geschehen des göttlichen Willens und das Kommen des himmlischen Reiches und liegt der Gedanke an diesen Inhalt des Gebetes hier um so näher, da unmittelbar vorher Jesu Ankündigung des nahen Kommens seines Reiches erwähnt ist. Das Gebet Jesu um das Kommen des göttlichen Reiches ist die höchste Concentrirung seines heiligen Willens, der zurückgestoßen von dem Widerstande der Welt sich in seiner ganzen Kraft und Reinheit zusammenfaßt, um sich aus der Welt zu Gott zu erheben. Es liegt also die ganze Reinheit und Kraft des heiligen Willens dem Gebete Jesu zu Grunde und in diesem Zustande wird er verklärt: sein Angesicht leuchtet wie die Sonne und seine Kleider werden licht wie Schnee. Sollen wir uns nun darüber wundern, oder liegt die Frage nicht näher, warum es nicht immer so mit seiner Gestalt gewesen ist? Denn die Verklärung Jesu ist nicht wie der göttliche Schein, der Mose umleuchtete, wenn er von dem Berge kam, der Glanz des Mose war von außen angestrahlt und daher sagt die Schrift, daß derselbe vergänglich war (s. 2 Kor. 3, 7). Die Verklarung Jesu erfolgt von innen heraus, sie ist eben nur die Herstellung seiner leiblichen Gestalt, wie sie seinem Inneren genau entsprechend ist. Der Leib Jesu ist allerdings entnommen von der dunklen Erde, so gut wie der unsrige, und seine Kleider sind aus irdischem Stoff gewirkt, aber dieses Leibes Glieder sind allenthalben und stets nur von einem heiligen Willen in Bewegung gesetzt und wenn sie jetzt an ihrem Theile ein großes Werk hinter sich haben, was ist im Wege, daß sie als das, was sie sind, auch dargestellt werden und erscheinen, nämlich wie sie geheiligt sind und nichts Dunkles an ihnen ist, sie also auch sich demgemäß darstellen? Damit ist denn auf die evidenteste Weise dargethan, daß an allem Mißlingen des galiläischen Wirkens das Thun und Wollen Jesu vollkommen unschuldig ist, und Jesu ist damit thatsächlich zuerkannt und zwar vor menschlichen Zeugen, denn seine drei Auserwählten unter den Aposteln, Petrus, Jakobus und Johannes, hat er mit sich genommen auf den Berg, es ist ihm durch diese Verwandlung seiner leiblichen Gestalt thatsächlich zuerkannt, was ihm die Anerkennung der ganzen Menschheit nicht gewähren konnte.

Wenn wir nun weiter erfahren, daß Mose und Elia erschienen und mit Jesu redeten, so kann uns das ebenso wenig befremden. Mit der Verklärung des Leibes Jesu ist für ihn die Kluft zwischen Himmel und Erde überwunden, sein Leib ist von den Banden und von der Schwere der Erde befreiet und in das himmlische Wesen des Lichtes, der Freiheit und des Geistes versetzt. Es erscheinen ihm die beiden gewaltigsten Gestalten des alttestamentlichen Prophetenthums, Mose und Elia. Diese standen einst in demselben Werk, das Jesus übernommen, und auch sie hatten erfahren den Widerstand ihres Volkes, und obwohl sie Beide an dem Mißlingen ihrer Arbeit selber nicht ohne Schuld waren, wurden sie dennoch wegen ihres großen und heiligen Eifers durch Gottes Wunderhand vor dem allgemeinen Geschick des menschlichen Geschlechtes bewahrt, Mose unmittelbar nach dem Tode und Elia vor dein Tode, ihrer Beider Ausgang von der Erde hat Gott in Geheimniß gehüllt. Diese Beiden kommen aus der jenseitigen Welt und reden mit Jesu. Wir stehen hier an der Grenzscheide zwischen Himmel und Erde, an einem Punkte, der all unserem gewöhnlichen Denken und Anschauen unendlich entrückt ist. Wäre nicht unsere Geschichte so angelegt, daß sie in die untersten Tiefen der Erde hinabstiege (s. Ephes. 4, 9), um uns zuerst in unserer Welteinsamkeit zu erfassen und sodann zu ihren heiligen Höhen mit sich emporzuziehen, wir dürften nicht wagen, über das hier vorliegende Geheimniß etwas Bestimmtes zu denken oder zu sagen. Die drei Apostel gerathen bei ihrer damaligen Unreife als Zeugen dieser Vorgänge in einen ganz verwirrten und unbeschreiblichen Zustand: Schlaf und Schrecken? Staunen und Freude kämpfen in ihnen mit wechselndem Erfolg, und als sie Alles gesehen und gehöret, bedurfte es kaum des ausdrücklichen Verbotes Jesu, Nichts von diesem Ereigniß zu erzählen (s. Matth. 17, 9. Marc. 9, 9), denn ganz von selber hüllten sie das wunderbar Erlebte in tiefes Stillschweigen (s. Luk. 9, 36). Als sie aber im Geiste die Geschichte Jesu noch einmal durchlebt hatten, haben sie auch dieses Geheimniß verstanden und ohne Scheu besprochen und mitgetheilt. So steigen auch wir an der Hand desselben Geistes die Stufenleiter der himmlischen Weisheit und Erkenntniß hinan und dürfen mit kindlicher Zuversicht und ohne Grauen auch unter den Geheimnissen dieser heiligen Höhe wandeln und nach ihrem Sinn forschen und fragen. Da Matthäus und Marcus bloß berichten, daß Mose und Elia sich mit dem Herrn unterredet haben, so werden wir uns als Inhalt dieser Rede das zu denken haben, was aus dem Verhältnisse sich von selbst ergab. Es kann aber dies nicht wohl etwas Anderes gewesen sein, als die Anerkennung, welche die beiden heiligen Träger des alttestamentlichen Prophetenthums dem Propheten des neuen Bundes darbringen mußten; sie selbst waren durch Gottes besondere Wunderthat in das himmlische Wesen versetzt, weil es ihnen an der vollkommenen Kraft des heiligen Willens noch gefehlt hatte. Jesum sehen sie vor sich in der himmlischen Verklärung seines Leibes und seiner Kleider, weil sein göttlicher Wille alle Finsterniß seines irdischen Wesens auf dem Wege seines galiläischen Prophetenthums überwunden hat. Die Ehre, welche das gegenwärtige Israel in den Banden seiner fleischlichen Knechtschaft, von denen selbst die Patriarchen des zukünftigen Israel nicht frei waren, ihm nicht bringen kann, diese Ehre bringen ihm jene Repräsentanteil des himmlischen Jerusalems. Demnach ist die Verklärung der göttlich besiegelte Abschluß des galiläischen Wirkens Jesu. Aber diese heilige Höhe schaut nicht bloß rückwärts, sondern auch vorwärts. Lukas fügt über den Inhalt des Gespräches zwischen Jesus einerseits und Mose und Elia andererseits Etwas hinzu, was sich nicht von selbst versteht; er schreibt, daß die beiden himmlischen Zeugen unter Anderem und namentlich den Ausgang besprachen, den Jesus in Jerusalem vollenden werde.

Aus der Thatsache der Verklärung geht unmittelbar hervor, daß, stünde Jesus für sich, ihm der Uebergang von der Erde zum Himmel offen stand: die Verklärung weist ihn auf als den in sich selber vollendeten Menschen Gottes. Jesus will aber nicht in sich selber stehen bleiben, er will seine Vollendung in sich selber nicht für sich behalten, es ist der heilige Wille seiner Liebe, sein ganzes Fürsichsein in ein Fürunssein umzusetzen, oder, auf den nächsten Kreis seiner Wirksamkeit gesehen, was er für sich ist, will er auch für sein Volk sein. Auf diesem Willen beruht es, daß sein Leib sich wieder verdunkeln muß. Dieser sein Wille ist die innere Wahrheit dieser wiedereintretenden Verdunkelung. Die Verklärung scheidet Jesum von seinem ganzen Volk, selbst von seinen drei Vertrauten, die mehr äußerlich als innerlich anwesend sind. Diese Scheidung macht aber der Herr zur Basis eines neuen Eingehens in die Gemeinschaft mit seinem Volke, indem er entschlossen ist, von dieser Höhe in die unterste Tiefe dieser Gemeinschaft hinabzusteigen. Es ist dies der neue Weg des Leidens, dessen Nothwendigkeit Jesus längst erkannt, den er im Verborgenen auch während seines Wirkens schon lange betreten hat, jetzt aber soll diese Verborgenheit offenbar werden, und wenn er schon bisher einsam war und Niemand hatte, dem er sich völlig anvertrauen konnte, da er auch seine Vertrauten immer noch zu tragen hatte, so wird diese Einsamkeit und Verlassenheit auf dem Wege des offenbaren Leidens noch viel größer werden. Auch in diesem Stück sollen wir uns Jesu Menschheit unverstümmelt denken, er hat ein tiefes Bedürfniß nach Gemeinschaft, nach Gegenseitigkeit. Ehe er in das schaurige Thal der unausdenklichen Einsamkeit seines Leidensweges hinabsteigt, hat er die Freude und Stärkung, daß die beiden verklärten Propheten, welche den Leidensweg als die einzige Möglichkeit der Rettung und Vollendung ihres Volkes in ihrem himmlischen Lichte erkennen, mit Jesu über seinen bevorstehenden Weg und Ausgang heiliges Zwiegespräch führen.

Als nun bei dieser himmlischen Unterredung der Entschluß Jesu, sich in die unterste Tiefe des sündigen Standes Israels hinabzubegeben, aufs Neue bekräftigt und befestigt worden war, da erschien die Wolke der göttlichen Herrlichkeit und aus dieser Wolke erscholl dieselbe Stimme, welche sich einst bei der Weihe am Jordan vernehmen ließ: „dies ist mein Sohn, der Geliebte, der Auserwählte, an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören.“ Durch diese himmlische Stimme ist Jesus aufs Neue geweiht und für seinen Beruf ausgerüstet und wir sehen ihn auch nun bald nach diesen Tagen in die jetzt vor ihm liegende Bahn eintreten.

Seine Zurüstung auf die letzte Reise beginnt Jesus damit, daß er den Jüngern sein bevorstehendes Leiden nach seinen Hauptzügen und die darauf folgende Verherrlichung durch die Auferstehung von den Todten ankündigt. Sein Wissen darum gründet sich auf die klare Einsicht in das Verhältniß zwischen ihm und seinem Volke und in die damalige Lage der öffentlichen Dinge in Judäa. Er weiß, daß der bereits entflammte Todeshaß in Jerusalem gegen ihn zu einem Gesammtwillen des ganzen Volkes sich steigern muß, er weiß, daß die Ausführung der Todesstrafe in den Händen der Römer liegt, er weiß demnach, daß es zu einem Verrath an ihm und zu einer Uebergabe seiner an die Heiden von Seiten seines Volkes kommen muß. Wird aber das ganze Volk ihn, seinen König, als einen Verführer und Verbrecher Preis geben, so muß die äußerste Strafe eintreten, nämlich die Kreuzigung. Wie er aber fein Volk durchschaut, so ist er auch seines eigenen Willens sicher und mächtig, er weiß, daß her Wille seiner Liebe stärker ist, als der Tod, daß also sein heiliger Wille den Tod überwinden wird. Damit weiß er aber auch, daß er nur so lange im Tode bleiben kann, bis die Gewißheit seines Todes eine nach menschlichem Maßstab ausgemachte Thatsache sein wird. Für diese kürzeste Frist seines Todes gibt es eine alttestamentliche vorbildliche Bestimmung. Der todtkranke König Hiskia, das Vorbild des verheißenen Immanuel, erhält die Verheißung am dritten Tage aufzustehen und in das Heiligthum Jehovas zu gehen (s. 2 Kön. 20, 5-8) und der Prophet Hosea gibt dem um seiner Sünden willen geschlagenen und getödteten Volk Israel die Zusage, daß es nach zwei Tagen aufgerichtet werden und am dritten Tage zum Leben kommen solle (s. Hos. 6,1.2), ebenso ist der Prophet Jona drei Tage in der Tiefe, um sodann den göttlichen Willen in der Welt auszurichten. Damit weiß Jesus, daß er nach drei Tagen von den Todten auferstehen werde. Mit einem besonderen Nachdruck eröffnet Jesus den Jüngern nunmehr den Blick in diesen seinen Ausgang. Nach Luk. 9, 44 sagt er ihnen: „setzet ihr diese Worte in eure Ohren,“ und dann kündigt er ihnen an, was ihm begegnen werde. Er will andeuten, je weniger sie seine Ankündigung dermalen noch im Stande wären, ins Herz zu fassen, desto mehr sollten sie dafür sorgen, daß sie ihnen fortwährend in den Ohren nachklingen möchte. Daß die Jünger diese Rede Jesu nicht verstanden, drückt Lukas mit den allerstärksten Worten aus; er schreibt: „sie aber verstanden das Wort nicht und es war ihnen verdeckt, so daß sie es nicht faßten“ (s. Luk. 9, 45), und bei einer späteren Gelegenheit, wo Jesus dieselbe Ankündigung wiederholt hatte, betont der Evangelist dieses Nichtverstehen der Jünger ebenfalls mit einem dreifachen synonymen Ausdruck (s. Luk. 18, 34). Da der Wortlaut der Rede Jesu sehr einfach und unzweideutig ist, so kann dieses Nichtverstehen nur auf den Sinn und Zusammenhang gehen und lag die Schwierigkeit für die Jünger darin, daß sie sich ihren Meister, den sie als König Israels verehrten, an dem sie nichts Anderes sahen, als die unablässige höchste Kraftanstrengung, in einem leidentlichen Zustand gar nicht zu denken wußten und am allerwenigsten begreifen konnten, wie dabei die Gründung und Verbreitung seines Reiches bestehen sollte. Wir finden auch nicht, daß der Herr sie darüber zu belehren sucht, was uns freilich nicht wundern darf, weil er ihnen überall keine abstracten Lehren mittheilt, sie sollen keine andere Lehre aufnehmen, als die ihnen auf dem Wege des Schauens und Erfahrens entsteht. Deshalb überläßt der Herr seine Jünger dem Nichtverstehen in Ansehung des wichtigsten Momentes seiner Geschichte, damit sie ans dem Wege des Selbsterlebnisses erkennen, was es mit dem Leiden und Sterben auf sich hat. Daß aber bei allem Nichtverstehen die feierliche Rede des Herrn ihres Eindrucks auf die Jünger nicht verfehlen konnte, müssen wir als Selbstverstand ansehen, und wird uns übrigens auch ausdrücklich berichtet. Matthäus erzählt, daß die Jünger durch die Weissagung des Herrn sehr niedergeschlagen wurden (s. 17,23), und wenn Lukas hinzufügt, daß sie fürchteten, den Herrn über diese Sache zu fragen (s. 9,45. vgl. Marc. 9, 32), so ist das ungefähr dasselbe, weil sie wohl merkten, daß jedenfalls der Inhalt dieser Aussage mit ihren Erwartungen und Wünschen in Widerspruch stand. Sie wagten offenbar diese traurigen Dinge nicht weiter anzurühren, nur das eine Moment, von dem sie wohl merkten, daß es einen erfreulichen Inhalt habe, nämlich die Auferstehung von den Todten, machten sie zum Gegenstand ihres Gespräches, als Jesus dieses Ereigniß einmal ohne Zusammenhang mit dem Leiden erwähnt hatte (s. Marc. 9, 10). Bald nach dieser erneuerten Ankündigung seiner Leiden, die er zuerst nach dem großen Bekenntniß des Petrus aussprach, und die er auf dem Wege nach Jerusalem, wie schon bemerkt, wiederholte, beginnt der Herr aus Galiläa aufzubrechen und seine letzte Reise nach Judäa und Jerusalem anzutreten. Nach dem Bisherigen erwarten wir mit Recht, daß der Antritt dieser Reise sich als eine Epoche bemerklich machen werde, und so ist es. Lukas schreibt: „es begab sich, als sich die Tage seines Vonhinnengenommenwerdens erfüllten, da gab er seinem Angesicht die feste Richtung nach Jerusalem zu reisen“ (s. Luk. 9, 51). Es liegt in diesen Worten die bestimmte Andeutung, daß man in der Haltung des Herrn, als er sich zur letzten Reise anschickte, den festen Entschluß seines Willens erkennen konnte. Noch malerischer ist die Beschreibung des Marcus, dieser erzählt: „sie waren aber auf dem Wege, hinaufzugehen gen Jerusalem, und ihnen voran war Jesus, sie führend, und sie entsetzten sich und ihm folgend fürchteten sie sich“ (s. 9, 32). Macht nicht diese Schilderung den Eindruck, als wenn ein Heerführer todesmuthig seine staunende und halb verzagt, aber doch unwillkürlich mit fortgerissene Schaar in den Alles entscheidenden Kampf zieht? Gewiß haben wir uns den Herrn vornehmlich auf diesem Zuge in seiner ganzen männlichen Kraft und Entschlossenheit zu denken und müssen alles Ernstes die schwächliche und weichliche Vorstellung, welche ihn immer nur als Vorbild für Frauen, Kranke, Greise und Kinder auffaßt, nirgends mehr als hier zu beseitigen suchen. Vor seinem Tode ermahnte David seinen Sohn, den Friedensfürsten, vor Allem ein Mann zu sein (s. 1 Kön. 2, 2. 1 Chr. 28, 10.20). Jesus aber ist der wahre Sohn Davids, der männlich und stark geblieben ist und nicht weich und schlaff ward, wie Salomo, weshalb ihn auch Paulus mit Nachdruck einen Mann genannt hat (s. Apostelg. 17,31). Der Ausdruck des durchaus mannhaften Verhaltens Jesu ist es auch ohne Zweifel, was den Jüngern immer wieder die Ankündigung des Leidens verdunkelt und unverständlich macht. Es ist die Absicht Jesu, durch Samarien zu reisen, zu dem Ende sendet er Boten voraus, um ihm Herberge zu bestellen. Die Samariter aber weigerten sich, ihn aufzunehmen, weil sie erfuhren, daß er sein Angesicht gen Jerusalem gewendet hatte (s. Luk. 9, 52). Es war dies eine neue schmerzliche Erfahrung, welche Jesum in seinen Gedanken, daß sein letztes Ziel nur auf einem dem bisherigen entgegengesetzten Wege erreicht werden könne, befestigen mußte. Einer der erfreulichsten Erfolge seiner bisherigen Wirksamkeit war die Aufnahme, welche er bei den Samaritern fand, als er von seiner ersten öffentlichen Festreise nach Jerusalem heimkehrte. Die Samariter erkannten damals Jesum für den Christ und Retter der Welt (s. Joh. 4,42), und Jesus hatte ihnen gesagt, es käme die Stunde, in welcher man weder auf dem Berge Moria, noch auf dem Berge Garizim Gott anbeten werde. Inzwischen sind aber die Samariter in ihre alte particularistische Befangenheit so tief wieder zurückgesunken, daß sie von Jesu, weil er sich mit ihnen freundlich eingelassen hat, verlangen, er solle nun von seinem Volke ganz loslassen und nicht nach Jerusalem zum Feste reisen. Ein Blick auf den Fanatismus dieser Halbheiden zeigt ebenso deutlich die Nothwendigkeit der Wiederholung des Zeichens Jona, wie die Herzenshärtigkeit der Juden.

So unwandelbar der Herr ist in seinem inneren Willen und Entschluß, so schmiegsam ist sein Verhalten in Ansehung der äußerlichen Modificationen der Ausführung. ,In dieser Beziehung richtet er sich nach den jedesmaligen Umständen und läßt diese auf sich einwirken. Als die Samariter des einen Fleckens ihn, wie wir gesehen, abgewiesen, geht er zwar zunächst in einen anderen,, wie es scheint, samaritischen Flecken (s. Luk. 9, 52), seinen Plan aber, durch Samarien zu gehen, gibt er auf, er geht über den Jordan, um sich, wenn die Zeit da sein wird, dem großen Pilgerzuge, der von Jericho nach Jerusalem zum Passafeste hinaufzieht, anzuschließen (s. Matth. 19, 1. Marc. 10, 1. Luk. 17, 11). Jenseit des Jordans oder in dem Lande Peräa hält sich Jesus eine Zeitlang auf, denn das Passafest, zu welchem er in Jerusalem eintreffen will, ist noch nicht so nahe bevorstehend. Ja er unterbricht seinen Aufenthalt in Peräa mit Zwischenreisen nach Judäa bis in die Nähe von Jerusalem. Wir finden ihn nämlich, ehe er mit dem Festzuge von Jericho aufbricht, zweimal in Betanien, dem bekannten Flecken nahe vor Jerusalem (s. Luk. 10, 38-42. Joh. 11, 17). Im strengen Sinne können wir also die letzte Reise nur den Aufbruch aus Galiläa und den Festzug von Jericho nach Betanien, wo Jesus wiederum Halt macht, nennen, die dazwischen liegende Zeit wird durch den Aufenthalt in Peräa und vorausgehende Reisen nach Judäa, von denen zum Theil gilt, was Johannes sagt, er wandelte nicht mehr öffentlich in Judäa (s. 11, 54), ausgefüllt und ist reich an Thaten und Reden, von denen wir hier nur dasjenige in Betracht ziehen können, worin sich der geschichtliche Fortschritt am meisten und einleuchtendsten offenbart.

Wir beginnen mit der Betrachtung eines gelegentlichen Wortes, in welchem sich Jesus über Bedeutung und Nothwendigkeit seines Endes in Jerusalem vor Fremden vernehmen läßt. Eines Tages, schreibt Lukas, traten Pharisäer zu Jesu und sagten ihm: „mache dich auf und gehe von dannen, denn Herodes sucht dich zu tödten“ (s. Luk. 13, 31). Es scheint dies eine wohlwollende Warnung von gutmüthigen Pharisäern zu sein. Jesus befindet sich noch in dem Bereich des Herodes, der nicht bloß über Galiläa, sondern auch über Peräa herrschte. Undenkbar ist es nämlich nicht, daß Herodes Antipas, Einer der unseligen Menschen, in welchen Aberglaube und Leichtsinn um den Rang streiten, einmal feindliche Absichten gegen Jesum, den er zu Zeiten für den wiedererstandenen Täufer hielt (s. Marc. 6, 16. Luk. 9, 7-9), hegen konnte. Wir sehen auch, daß Jesus die Voraussetzung der pharisäischen Warnung als richtig annimmt, er benutzt aber diese Gelegenheit, um auch den Nichteingeweihten zu zeigen, daß, wenn es auch ganz den Anschein habe, daß er sich den gewöhnlichen Rücksichten der Klugheit und Vorsicht anschließe, sein Wirken und Leben unter einem höheren Gesetze stehe, von welchem die Klugheit und Vorsicht der Menschen keine Ahnung habe. „Saget,“ antwortet Jesus jenen Pharisäern, „diesem Fuchs, siehe, ich treibe Teufel aus und vollende Heilungen heute und morgen und am dritten Tage werde ich vollendet.“ Ein Fuchs bist du, läßt er seinem Landesherrn sagen und meint damit nach biblischem Sprachgebrauch einen Verderber des Weinberges (s. Hohel. 2, 15. Ezech. 13, 4). Der Weinberg ist nämlich die göttliche Pflanzung des Volkes Israel (s. Jes. 5, 1-4. 17, 2. Jer. 12, 10), denn Herodes ist ein Eindringling in Israel, er ist seinem Ursprung nach ein Idumäer, stammt also von Edom, dem Urfeind Israels (s. 1 M. 25, 23); denn sein angenommenes Judenthum ist nach dem Worte Jesu ein Sauerteig (f. Marc. 8, 15), also eine Heuchelei, welche alles Gute verdirbt. Schon diese Bezeichnung des Tetrarchen von Galiläa und Peräa reicht hin für die Pharisäer und Herodes, daß sie erkennen müssen, Jesus wisse eben so wenig von Furcht, wie Johannes der Täufer. Wenn nun dessenungeachtet Jesus doch aus den Grenzen des Herodes weicht, so will er ihnen zeigen, daß dies seine inneren Gründe habe und ganz außerhalb ihrer Berechnung liege. Wenn Jesus sagt: ich treibe Teufel aus und vollende Heilungen, so gibt er zu verstehen, daß er Eins sei mit der göttlichen Kraft, welche über die höchsten und schlimmsten Gewalten auf Erden gebietet, darin liegt aber, daß der, welchem die Teufel unterthan sind und auf dessen Wort die Krankheiten weichen müssen, sich aus einem Fuchs, auch wenn er einen Thron inne habe, wenig machen werde. Aber es gibt eine Nothwendigkeit, um derentwillen sein Leben nicht in starrer Unbeweglichkeit beharrt. sondern mit der Zeit sich von Ort zu Ort bewegt, diese Nothwendigkeit ist das innere Gesetz seines Lebens. „Am dritten Tage werde ich vollendet“ (nicht, wie Luther übersetzt, werde ich ein Ende nehmen). Es ist dies eins der tiefsten Worte in dem Munde Jesu, welches in das innerste Wesen seiner Geschichte den Blick eröffnet. Was ihn in seinem Fürsichsein anlangt, so ist er in jedem Augenblick vollkommen und vollendet, wie auch zu den verschiedenen Malen die göttliche Stimme vom Himmel herab ihr Wohlgefallen an. ihm öffentlich erklärt. Aber als Christus ist Jesus Eins geworden mit seinem Volke, dem fleischlichen und sündigen Israel und nach diesem seinem Christsein gibt es für ihn noch eine andere Vollkommenheit und Vollendung, es ist die, in welcher er den sündigen Stand seines Volkes aufhebt, dadurch, daß er, in die Sünde seines Volkes und der Welt eingegangen, sich selber Gott dem Vater heiligt und opfert. Er bezeichnet dies als seine Selbstvollendung und wehrt damit von vornherein allen fleischlichen Vorstellungen und Reden, welche sein Versöhnungswerk von seiner Person zu trennen versuchen. Nein, Alles, was er wirkt zur Versöhnung und Erledigung der Sünde, ist ewig in ihm begründet, ewig in ihm beschlossen und kann nur in dem Geheimniß seines Innenlebens verstanden, erhoben und angeeignet werden. Wer die Frucht seines Leidens und Sterbens irgendwie außerhalb dieses Allerheiligsten, in welchem allein und sonst nirgends das aufgedeckte Angesicht Gottes, unseres himmlischen und versöhnten Vaters thronet, sucht oder gar zu finden wähnt, der tritt wiederum hinter den Vorhang zurück und umfängt wiederum anstatt der heiligen und seligen Wirklichkeit Schatten und Bilder und das vermeintliche Bewußtsein seiner Versöhnung und Sündenvergebung ist ein nichtiger Traum. Nicht Herodes, der galiläische Fuchs, hat Macht, Jesum zu tödten, seine Selbstvollendung wird in Jerusalem geschehen. „Ich muß wandern,“ fährt Jesus fort, „heute, morgen und am dritten Tag, denn es ist nicht wohl möglich, daß ein Prophet außerhalb Jerusalems umkomme.“ Dies Wort versetzt uns recht lebendig in die Anschauung und Bereitung der letzten Reise. Jerusalem, das Ziel, .steht ihm lebhaft vor Augen und mit der ganzen Empfindung seines heiligen Schmerzes und Ernstes redet er aus der weiten Ferne die Stadt an und spricht: „Jerusalem, Jerusalem, die du tödtest die Propheten und steinigest, die zu dir gesandt sind, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, gleichwie eine Henne ihre Brut unter ihre Flügel nimmt, und ihr habt nicht gewollt.“ Welch eine Innigkeit und Zärtlichkeit, welch eine Wahrheit und Ernst liegt in diesen an Jerusalem gerichteten Worten! Die Inbrunst der heiligen Liebe, mit welcher die Israeliten an Jerusalem und Zion, der gotterwählten und gottgeheiligten Stadt hangen und nicht von ihr lassen können, wie sich dies in begeisterten Lobgesängen so oft ausgesprochen, diese ganze Fülle der Liebe und Anhänglichkeit lebt in dem Herzen Jesu, dem ewigen König Israels, der im vollen Sinne des Wortes über Zion zum Herrscher gesalbet ist (s. Ps. 2, 6), und wir haben namentlich bei dem ersten öffentlichen Auftreten Jesu in Jerusalem den thatsächlichen Beweis davon gesehen. Seine Liebe zu Jerusalem beruht aber auf voller Wahrheit wie beim König David, der, als Lüge und Ungerechtigkeit in den Gassen Jerusalems Ueberhand nahm, den Wunsch ausspricht: „o hätte ich Flügel der Tauben, so wollte ich eilen in die Wüste und daselbst bleiben“ (s. Ps. 55, 7. 8). Jesus schaut Jerusalem an als die von den Tagen Manasses her (s, 2 Kön. 21, 16) blutbefleckte Prophetenmörderin, welche Anschauung sich in seinen eigenen Erfahrungen, die er in der heiligen Stadt gemacht hatte, bestätigte. Aber diese Anschauung erweckt in ihm zunächst die Gewißheit von dem kommenden Gottesgericht, das sich über Jerusalem in Folge seiner Missethaten entladen muß. Er schaut bereits die Adler der Weltmacht schweben über den heiligen Bergen (s. Habak. 1, 8), aber anstatt in heiligem Eifer dieses Gericht über die Stadt der Ungerechtigkeit herabzuwünschen, stellt sich Jesus vielmehr mit seiner ganzen Liebesmacht vor den Riß. Wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel lockt, wenn sie den drohenden Raubvogel in den Lüften gewahrt, eben so zärtlich und liebreich sucht Jesus die Kinder Jerusalems zu sammeln, daß sie ablassen möchten von ihren Sünden, um bei ihm Leben und volle Genüge zu finden, damit sie dem drohenden Verderben, das schon in der Macht des römischen Weltreiches gegen sie gerüstet stand, entrinnen möchten. Wir ersehen aus dem sprechenden Bilde, mit welchem Jesus seine Liebe zu Jerusalem beschreibt, ganz deutlich, daß er es mit seinem Wirken alles Ernstes darauf Angelegt hat, das von dem göttlichen Gericht bedrohte Israel zu retten und zu sichern, was ohnehin für Alle, welche wirklich glauben, daß er der Christ und König Israels ist, billigerweise Selbstverstand sein sollte, „Aber,“ fährt der Herr mit unsäglichem Schmerze fort, „aber ihr habt nicht gewollt.“ Und nun bleibt Nichts übrig, als daß zu dem Blute der Propheten auch noch das Blut des Heiligen und Gerechten hinzugefügt werde und über das Haupt Jerusalems komme.

Eng an diese Erklärung Jesu über seinen Ausgang in Jerusalem schließt sich eine andere, die gleichfalls unterwegs und zwar durch einen merkwürdigen Zwischenfall in der Mitte seiner Jüngerschaft veranlaßt wurde. Salome, die Mutter der beiden Zebedäiden, Jakobus und Johannes, welche der Herr bei mehreren Gelegenheiten ausgezeichnet hatte, und von denen er den Einen insonderheit vor allen Anderen als seinen Freund behandelte, kommt mit ihren beiden Söhnen zu Jesu, fällt vor ihm nieder und deutet eine dringende Bitte an. Jesus fragt sie, was sie begehre, und sie antwortet: „versprich, daß diese meine beiden Söhne in deinem Reiche neben dir sitzen mögen, der Eine zu deiner Rechten, der Andere zu deiner Linken (s. Matth. 20,20.21. Marc. 10, 35-37). Diese Bitte hat offenbar ihren Grund in der Erwartung, daß, da Jesus jetzt sein Angesicht auf Jerusalem gerichtet habe, sein Reich in nächster Zeit aufgerichtet werden müsse. Wir finden auch, daß zu dieser Zeit nicht bloß die Pharisäer fragen: wann kommt das Reich Gottes? (s. Luk. 17, 20), sondern auch in der Umgebung Jesu Solche sind, welche meinen, daß, weil Jesus sich Jerusalem nahe, das Reich Gottes alsbald zum Vorschein kommen werde (s. Luk. 19, 11). Wenn nun Jesus erklärt: „ihr wisset nicht, was ihr bittet,“ und die zehn Mitapostel auf die beiden Brüder wegen dieser ihrer Bitte zürnen, so ist darin nicht die Meinung, daß in keinem Sinne von einem Sitzen zur Rechten und zur Linken die Rede sein könne. Man muß sich ein- für allemal merken, daß das, was Jesus von seinem Reiche verkündigt, von Anfang bis zu Ende etwas Anderes ist, als was man heut zu Tage die Lehre von der Kirche und ihren Gnadenmitteln nennt. Hätte Jesus eine solche abstracte Lehre vorgetragen, man kann sicher darauf rechnen, daß es den Söhnen Zebedäi sammt ihrer Mutter nicht in den Sinn gekommen wäre, die erwähnte Bitte vorzutragen. Jesus redet von seinem Reiche überall im engsten Anschluß an das prophetische Wort über die Zukunft des Volkes Gottes und obwohl er sehr wohl weiß, daß sich dem geistlichen Prophetenwort allerlei fleischliche Vorstellungen beigemischt hatten, und ohne Zweifel von vornherein voraussetzte, daß auch seine Jünger die Erneuerung der prophetischen Verheißungen nicht ohne diese fleischliche Beimischung auffassen würden, so will er diesem Mißverständniß nicht durch einen doctrinären Spiritualismus vorbeugen, sondern lebt der Zuversicht, daß das lautere Gold seiner Verkündigung des himmlischen Reiches von den ihn anhaftenden Schlacken judaistischer Bilder durch das heilige Feuer seiner eigenen Geschichte und der dadurch bedingten Erfahrung seiner Jünger gereinigt werden werde. Aus diesem Grunde ist er auch jetzt, obgleich sich ihm die fleischliche Verdunkelung der Anschauung seiner beiden vertrauten Jünger bei dieser Gelegenheit stark genug aufdrängt, dennoch weit entfernt davon, den alttestamentlichen Anhalt, an welchen sich diese Verdunkelung anschließt, selber irgendwie wankend zu machen, vielmehr läßt er das Sitzen zur Rechten und zur Linken, mithin sein eigenes herrschendes Thronen und Walten und das Theilhaben an seiner Herrschermacht vollkommen unangetastet stehen und setzt dieses Alles als eine selbstverständliche Wahrheit voraus. Das Ungehörige und das Unreine dieser Bitte bringt Jesus den beiden Jüngern dadurch zum Bewußtsein, daß er sie zuerst aufmerksam macht auf die Bedingung, an welche alle bleibende Gemeinschaft mit ihm geknüpft ist, und sodann das bevorzugte Theilhaben an der Herrschaft in ein Jenseits verweist, über welches allein der göttliche Wille des Vaters verfüge. Für uns ist besonders das erste Moment wichtig, weil wir daraus einen neuen Aufschluß Jesu über sein bevorstehendes Ende entnehmen. Er bezeichnet hier nämlich sein Leiden und Sterben unter Anderem als eine Taufe, mit welcher er getauft werde (s. Marc. 10, 38. 39). Die Taufe, haben wir gesehen, war bei Jesu die heilige Weihe, durch welche er in das Amt an seinem Volke eingeführt wurde. Wenn er nun von einer bevorstehenden Taufe redet, so kann dies nicht eine Ergänzung jener ersten sein, denn wir wissen, daß diese in sich vollkommen war, aber es wird die Vollendung und Auswirkung dessen sein, was in jener Taufe am Jordan gesetzt und gegründet worden ist. Dabei gedenken wir des vorhin besprochenen Wortes Jesu von seiner Selbstvollendung in der Versöhnung und Heiligung seines sündigen Volkes. Das Eingehen in die Sünde Israels, indem Jesus sich dem Wasser der Reinigung unterstellt, vollendet sich am Kreuz, an welchem Jesus nach Leib und Seel nicht bloß in den Stand des unreinen, sondern in den des frevelnden Volkes eingeht und wegen solcher inneren Verbindung seines Leidens mit seiner Taufe kann Jesus von seiner bevorstehenden Taufe reden.

Es ist schon bemerkt worden, daß in den bezeichneten Zeitabschnitt ein zweimaliger Aufenthalt Jesu in Betanien fällt. Betanien, obgleich sehr nahe bei Jerusalem, ist für Jesum gleichsam eine Oase mitten in der Wüste des jüdischen Landes. In Betanien nämlich wohnen bei einander drei Geschwister, Lazarus, Martha und Maria. Zu dem Hause dieser drei Geschwister hat Jesus ein Freundschaftsverhältniß, wie ein ähnliches in seinem Leben sonst nicht vorkommt. Lukas ist es, der uns zuerst in dieses Haus einführt und uns zunächst mit den beiden Schwestern bekannt macht. Lukas erzählt, Jesus kam auf seinen verschiedenen Reisen, welche als letztes Ziel Jerusalem während des nächsten Passafestes im Auge haben, nach dem jüdischen Marktflecken Betanien und Martha nahm ihn auf in ihr Haus (Luk. 10, 38). Während nun Martha sich mit der Sorge für die Bewirthung des theuren Gastes ungewöhnlich abmühte, setzte sich die Schwester Maria zu den Füßen Jesu und hörte seine Rede an. Wir erkennen sofort den Gegensatz zwischen den beiden Schwestern; die eine ist in sich gekehrt und sinnig, die andere mehr nach außen gerichtet und strebsam, ein Gegensatz, wie er uns alle Tage vorkommt. Aber die Persönlichkeit Jesu bringt es mit sich, daß alles Menschliche, das mit ihm in Berührung kommt, seinen eigentlichen Charakter in weit schärferen Umrissen herausstellt, als es uns im gewöhnlichen Leben vorkommt. Zum Theil ist dieses in der Besonderheit des Volkes und der Zeit Jesu begründet. Die israelitische Menschheit ist für die geschichtliche Begründung und Auslebung der Religion, welche Seite des Lebens hier vornehmlich in Betracht kommt, eigens angelegt. Dazu kommt, daß jetzt die Zeit erfüllet ist, Alles, was in der israelitischen Menschheit an Empfänglichkeit und Gegensätzlichkeit im Verhältniß zu dem Göttlichen vorhanden ist, hat jetzt den Höhepunkt seiner Entwickelung erreicht. In diese so geartete und gestaltete Umgebung tritt Jesus ein. Die stille göttliche Gewalt seiner Persönlichkeit hat die Wirkung, daß Alles, worin jener Charakter der damaligen Gegenwart in Gutem und Bösem in ausnehmender Stärke sich ausprägt, unwillkürlich in seinen Kreis hineingezogen wird; und ist es erst in seiner Nähe, so bringt es die Ueberlegenheit seiner Persönlichkeit weiter mit sich, daß er das, was in ihm enthalten ist, sei es Gutes oder Böses, bestimmt heraustreten lassen muß. Daraus erklärt sich die Erfahrung, welche Jeder, der einerseits sich und seine Welt und andererseits die evangelische Geschichte aufmerksam betrachtet, machen wird, daß die evangelischen Gestalten in einem Lichte ewiger Klarheit strahlen, so daß man sich an diesem Lichte in den Labyrinthen der inneren und äußeren Welt immer orientiren kann. So ist es auch mit dem bezeichneten Gegensatz der beiden Schwestern, welche durch den heiligen Lichtstrahl der Persönlichkeit und des Wortes Jesu zu hellleuchtenden Typen für alle Zukunft geworden sind. Der rührigen Strebsamkeit und Fürsorglichkeit ist es eigen, die in sich gekehrte Beschaulichkeit und Einigkeit, auch wo sich dieselbe rein entwickelt und sich dem äußeren Leben nicht entfremdet, nicht verstehen und würdigen zu können. Martha versteht es nicht, daß dem Herrn das schweigende Lauschen der Maria auf seine, Rede weit wohlthuender ist, als ihre eigene Vielgeschäftigkeit für seine leibliche Pflege, und als sie ihn zum Bundesgenossen gegen ihre Schwester machen will, was sie um so eher zu erreichen glaubt, da sie sich keiner weiteren Sorge als für ihn selber bewußt ist, da zeigt der Herr ihr, daß sie ihn eben so wenig erkannt hat, als sie ihre Schwester versteht.

Den zweiten Aufenthalt Jesu in Betanien berichtet uns Johannes. Auch hier bewegt sich Alles in dem häuslichen Kreise der drei Geschwister, indem auf dem Hintergrunde eines häuslichen Trauerfalls die Wunderkraft Jesu in ihrer ganzen Großartigkeit auftritt. Als Lazarus, der Bruder jener beiden Schwestern, erkrankt, senden die Schwestern Botschaft an Jesum und lassen ihm sagen: „siehe, Herr, den du lieb hast, ist krank.“ In dem, was diese Botschaft uns sagt, wie in dem, was sie verschweigt, ist die ganze Innigkeit des Verhältnisses, in welchem Jesus zu diesem Hause steht, enthalten. Johannes unterläßt übrigens nicht, eigens hinzuzufügen: „es liebte aber Jesus die Martha und ihre Schwester und den Lazarus.“ Deßungeachtet bleibt Jesus nach empfangener Botschaft an dem Orte, wo er sich gerade aufhielt, noch zwei Tage und gleich nach der Botschaft darauf stirbt Lazarus. Beide Schwestern sagen, als Jesus später nach Betanien kommt, wie mit einem Munde: „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“ (s. V. 21. 32), und mit diesen Worten, in welchen ein leiser Vorwurf nicht wohl zu verkennen ist, begrüßen ihn beide. Warum leistet Jesus diesem so innig befreundeten Hause nicht denselben Dienst, den er so manchem Fremden nicht versagt hat? Warum macht er sich nicht auf, um den kranken Freund zu besuchen und zu heilen, und erspart den Schwestern den bitteren Schmerz des tödtlichen Scheidens ihres Bruders? Jesus weiß von Anfang an, daß Lazarus sterben wird, aber er weiß auch, daß dies zur Verherrlichung des Sohnes Gottes ausschlagen wird (s. V. 4). Sollen wir nun die Sache so denken, daß er sich absichtlich ferne hält, um es zum Aeußersten kommen zu lassen, damit seine Wundermacht desto herrlicher offenbar werde? Daß die Sache hinterher diese Ansicht zuläßt und in der Voraussicht Jesu schon vorher so ausgesprochen werden konnte, ist schon richtig, daß aber das Handeln Jesu so motivirt werden dürfe, streitet gegen die rein sittliche Auffassung und Behandlung des Lebens, in welcher wir ihn überall finden. Unbedingter Gehorsam ist sein Stand und nicht Weltregierung. Er läßt sich überall lediglich nur durch das bestimmen, was er von dem Vater stehet und höret (s. Joh. 5, 19. 20. 30), und das sind eben die Gelegenheiten und Anlässe zum Handeln, die ihm jedesmal zur Hand sind. Wenn er also bleibt an dem Orte, wo er sich aufhält, so müssen wir voraussetzen, daß er dort zu thun hatte und sein Werk nicht unterbrechen konnte. Etwas anders würde sich die Sache gestellt haben, wenn die Schwestern die bestimmte Bitte zu kommen ausgesprochen und sich mit ihrem Glauben an seine göttliche Wundermacht ausdrücklich wenden, jetzt ist ihre Botschaft eine freundschaftliche Mittheilung von rein privativer Natur, welche mit dem öffentlichen Wirken Christi als solchem zunächst Nichts zu thun hat. Darum bleibt der Herr in seinem Wirken, da es noch Tag ist, und muß jene freundschaftliche Familienangelegenheit einstweilen ihrem eigenen Gange überlassen. Jedoch ist das nicht so zu verstehen, als ob Jesus sich auch innerlich mit dem Zustande seines Freundes nicht weiter beschäftigt hätte, vielmehr berichtet uns Johannes ausdrücklich das Gegentheil. Denn diese innerliche Theilnahme Jesu für die Krankheit des fernen Freundes ist offenbar der Grund, daß Jesus das Sterben des abwesenden Freundes merkt und weiß. Und dieses Ereigniß bewegt ihn so sehr, daß er es seinen , Jüngern ausspricht: „Lazarus unser Freund,“ sagt er, „ist entschlafen, aber ich gehe, ihn aufzuwecken,“ und als die Jünger dieses Wort von dem leiblichen Schlafe verstanden, sagt er offen heraus: „Lazarus ist gestorben“ (s. 1 1, 11-15). Jetzt bricht Jesus auf nach Judäa und zieht nach Betanien. Die beiden trauernden Schwestern treten wiederum in derselben Verschiedenheit auf, wie das erste Mal, nur daß es hier zu keinem ausgesprochenen Gegensatze kommt. Sobald Martha von Jesu Kommen erfährt, eilt sie ihm entgegen, Maria dagegen bleibt daheim, als aber Jesus die Maria rufen läßt, steht sie eilends auf und geht zu ihm, und als sie ihn sieht, fällt sie ihm zu Füßen. Offenbar ist auch Maria die am meisten Betrübte (s. V. 31. 33), während Martha wiederum eine gewisse Unruhe verräth (s. V. 39. 49). Bei alle dem legt sich die ganze Innigkeit des Freundschaftsverhältnisses zwischen Jesus und dem Hause der Geschwister wiederum deutlich zu Tage und namentlich ist das Verhalten Jesu der Ankündigung von dem Tode des Freundes, in welcher die innere Theilnahme deutlich zu spüren ist, vollkommen gemäß. Die Auferweckung des Lazarus aus seinem Grabe, in welchem er bereits vier Tage gelegen ist, erfolgt nicht auf eine Bitte, wie bei der Tochter des Jairus, auch nicht aus allgemein menschlichem Mitleid, wie bei dem Jünglinge von Nain, sondern sie beruht hier auf dem freundschaftlichen Mitgefühl mit dem Trauerhause. Es ist daher ganz natürlich, daß wir bei keiner Wunderthat des Herrn eine solche innere Bewegung wahrnehmen, worauf wir schon früher aufmerksam gemacht haben. Als Jesus die Maria weinend sieht und die Juden, welche sie in ihrem Hause besuchten und sie begleiteten als sie Jesu entgegenging, gleichfalls weinend sieht, wird er auf das Heftigste bewegt und fragt: „wohin habt ihr ihn gelegt“ (s. V. 33. 34); und als er an das Grab herantreten wollte, weinte Jesus und die Juden sagten: „wie hat er ihn lieb gehabt“ (V. 36). Dem ganzen mannhaften Wesen und Verhalten Jesu merkten die Juden es an, daß seine Thränen keine andere Quelle haben konnten, als die reinste Freundesliebe. Nach einer abermaligen heftigen inneren Bewegung tritt er an die Grabesstäte hinan und schickt sich an, den Entschlafenen wach zu rufen (s. V. 28. 39). Er hatte zu Martha das große Wort gesprochen: „ich bin die Auferstehung und das Leben“ (s. V. 25). In ihm ist die persönliche Macht der Ueberwindung des Todes und in ihm ist das Leben, welches Tod und Grab ewig hinter sich hat. In dieser Lebenskraft versenkt er sich in den Zustand des Freundes, er dringt durch die Riegel des Todes und Grabes hindurch und eben das ist der Sinn seiner Gemüthsbewegung, und als er so innerlich im Geiste zu dem Freunde, den seine Liebe festhält, hindurchgedrungen ist, da ist ihm sein Tod ein Schlaf und sein Grab ein Schlafgemach und so im Geiste stehend in der untersten Tiefe des irdischen Seins und doch Eins mit dem Vater im Himmel (s. V. 42), kann er rufen mit lauter Stimme: „Lazarus komm heraus“ (s. V. 43).

Diese Wunderthat Jesu dreiviertel Stunden von Jerusalem machte einen großen Eindruck, der unmittelbar auf die höchste Behörde in der Hauptstadt eine Wirkung ausübte. Viele Juden kamen durch die Auferweckung des Lazarus zum Glauben an Jesum, Andere aber gingen zu den Pharisäern und erzählten, was Jesus gethan hatte (s. V. 45.46). Die Folge dieser Anzeige ist eine förmliche Berufung des Synedriums, um über diese Sache zu berathen. In dieser Versammlung sehen wir die große Aufregung der Synedristen, sowie ihre leidenschaftliche Blindheit. Sie sprechen: „was machen wir? denn dieser Mensch thut viele Zeichen, wenn wir ihn so gewähren lassen, werden Alle an ihn glauben und die Römer werden kommen und Land und Volk wegnehmen“ (s. 21, 48). Jesus hatte den Juden gesagt: „zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Sehenden blind werden“ (s. Joh. 9,39). Diese Blindheit der Sehenden können wir hier wahrnehmen, die hier reden, sitzen auf Moses Stuhl, sie kennen Gesetz und Propheten, sie überschauen die ganze Weltlage, sie sind die Sehenden. Und eben dieses Sehen gereicht ihnen Jesu gegenüber zur vollständigen Blindheit, Wenn alles Volk an Jesum glaubt, so ist damit die einzige Rettung vor dem drohenden Verderben der römischen Adler gegeben, und eben diese einzige Rettung sehen die Leiter des Volkes als den geraden Weg zum allgemeinen Untergange an. Die Sache ist die, daß die Pharisäer, Schriftgelehrten und Hohenpriester vor Allem die unbedingte Geltung ihrer Auctorität und ihrer Selbstgerechtigkeit im Auge haben, und eben deshalb an Jesum glauben eben so wenig können als wollen. Diese ihre ungebrochene Selbstsucht verwandelt ihre Einsicht, die sie vor dem Volke voraus haben, in vollständige Verkehrtheit des Sinnes, so daß sie nicht anders mehr können, als den, welchen Gott zum Retter des Volkes gesandt hat, für einen Verderber des Ganzen zu hallen. Weil nun Kaiphas, der Hohepriester, auf diese allgemeine Verblendung seinen Vorschlag gründet, so findet er auch allgemeinen Eingang. Der Hohepriester sagt: steht die Sache so, so braucht es keiner langen Ueberlegung, „so muß Einer sterben für das ganze Volk.“ Johannes bemerkt, daß dieses Urtheil des Kaiphas ganz richtig gewesen sei, obgleich in einem anderen Sinne, als er selber wußte und meinte, und sieht darin eine göttliche Fügung, weil Kaiphas als Hoherpriester in seinem Amtskleid das Unterpfand der göttlichen Erleuchtung trug. Johannes will damit andeuten, daß, obwohl hier dem bösen Willen und Rath der Menschen völlig freier Spielraum gelassen wird, die göttliche Vorsehung dennoch Alles so anlegt, daß ihre heilige Spur und ihre Uebermeisterschaft deutlich zu erkennen ist. Die Verhandlung des hohen Rathes kommt nun auf dem Wege dieser dünkelvollen Blindheit und unwissenden Weisheit zu dem Beschluß, Jesum zu tödten (s. Joh. 11, 53), und wie eine Thorheit die andere erzeugt, so schreiten die Hohenpriester, als sie inne werden, daß Lazarus, der Auferweckte, fortwährend Gegenstand der Verwunderung ist, zu dem Beschlusse, auch Lazarus zu tödten (s. Joh. 12, 9. 10) und außerdem noch haben die Hohenpriester und Pharisäer einen Befehl gegeben, daß, wer wisse, wo Jesus wäre, es anzeigen solle, daß man seiner habhaft werde (s. Joh. 11, 57). Aus diesem Allem geht hervor, die Feindschaft der Juden in Jerusalem hat bis dahin noch niemals einen solchen offenbaren Charakter angenommen, als in Folge der wunderbaren Offenbarung der Liebe und Macht des Herrn am Grabe des Lazarus.

Wir begreifen, daß Jesus unter solchen drohenden Umständen sich wiederum aus der Oeffentlichkeit in Judäa zurückzieht, er begibt sich an einen entlegenen und einsamen Ort, und verweilt daselbst mit seinen Jüngern (s. Joh. 11, 54). Schon vor dieser letzten Wendung in Jerusalem, als er von Peräa nach Betanien aufbrechen wollte, um Lazarus aufzuwecken, wenden seine Jünger ein: „Meister, so eben suchen dich die Juden zu steinigen und du gehst wieder dorthin“ (s. 11, 8). Diese Aeußerung der Jünger beweist deutlich, daß sie, obwohl sie von seiner Entschlossenheit und Gefahrverachtung einen starken Eindruck haben, daneben doch ganz fest voraussetzen, Jesus begebe sich niemals muthwillig und trotzig in Gefahr, welche Voraussetzung sie natürlich ebenfalls aus dem ganzen Verhalten Jesu werden entnommen haben, wie wir dies auch nach unserer bisherigen Beobachtung des Ganges Jesu erwarten müssen. Jesus beruhigt ihre Sorge mit der Hinweisung darauf, daß für ihn bis dahin noch der helle Tag am Himmel stehe und er demnach noch ohne Anstoß wandeln könne (s. Joh. 11, 9. 10). Indessen das eigentliche Geheimniß des Lebens und Wirkens Jesu, die Einheit seines göttlichen und heiligen Willens bleibt den Jüngern immerdar noch verschlossen, sie merken wohl, daß er sich zurückzieht, und gewahren dann wieder, daß er seinen Feinden entgegengeht, sie ahnen wohl, daß das Erste so wenig feige Selbstschonung, wie das Letztere tollkühnes Wagniß sein kann, aber wie Beides durch einen und denselben Willen in ihm verknüpft ist, das bleibt ihnen ein Räthsel. Weil sie also noch nicht in vollem Sinne seine Freunde sind und noch nicht wissen, was ihr Herr thut (s. Joh. 15, 15), so bleibt ihnen Nichts übrig, als ihm blindlings zu folgen. Das ist nun auch, wie wir gesehen, von Anfang dieser letzten Reise her ihre Grundstimmung und diese findet in dem Wort des Thomas bei jenem Aufbruche von Peräa nach dem Grabe des Lazarus ihren Ausdruck, Thomas sagt nämlich zu seinen Mitjüngern, nachdem Jesus ihnen angekündigt: „wir wollen zu Lazarus uns aufmachen,“ „laßt auch uns uns aufmachen, damit wir mit ihm sterben“ (s. Joh. 11, 16). Es ist dies nicht ein Wort der Verzweiflung, welche unter den damaligen Umständen in der Jüngerschaft Jesu keinen Raum hat, sondern, da wir den Thomas auch sonst als einen selbstständigen Charakter kennen lernen (s. Joh. 14, 5. 20, 24-29), Thomas gibt der unbedingten Hingabe der Jünger an Jesum einen bestimmten Ausdruck, wie er der damaligen Sinnesweise des apostolischen Kreises entsprechend war.

Die Verborgenheit Jesu in Ephraim, wohin sich Jesus nach der Auferweckung des Lazarus zurückgezogen, erreicht ihr Ende, sobald das Passafest herannaht und die Festzüge von Peräa her sich in Bewegung setzen, um über den Jordan zu gehen und durch Jericho nach Jerusalem zu ziehen (s, Joh. 12, 55). Jetzt beweist Jesus thatsächlich, daß seine Zurückgezogenheit nicht Furcht ist; trotzdem, daß der hohe Rath in Jerusalem inzwischen die drohendsten Beschlüsse gegen ihn gefaßt hat, schließt er sich dem Festzuge an und gelangt mit demselben nach Jericho, um von da aus in offener Wallfahrt nach Jerusalem zu gehen. In der Nähe von Jericho finden wir ihn von einem großen Volkshaufen umgeben und die Erzählung von den beiden Blinden, die ihn als Sohn Davids anrufen und die der Herr heilete, beweist, daß er wiederum in die volle Oeffentlichkeit eingetreten und sich wiederum zum Mittelpunkt der Gedanken und Aeußerungen der Volksmenge eingesetzt hat (s. Matth. 20, 29. 34, Marc. 10, 46. 52. Luk. 18, 35-43).- Lukas hat uns in seinem Reisebericht mitgetheilt, bei wem Jesus bei diesem Durchzug durch Jericho Nachtherberge gehalten, und wir dürfen uns die dabei eingetretenen merkwürdigen Umstände nicht entgehen lassen. In Jericho, dem wichtigen Grenzort und Durchgangspunkt, erzählt Lukas (s. 19, 1-14), wohnte ein reicher Oberzöllner, Namens Zachäus. Dieser hatte ein großes Verlangen, Jesum zu sehen, da er aber klein von Gestalt war und Jesus inmitten einer großen Volksmenge einherzog, wußte er seinen Wunsch nicht anders zu erreichen, als daß er an der Landstraße, auf der Jesus vorbeikommen mußte, einen Maulbeerbaum besteigt. Dieses Benehmen des Oberzöllners, in welchem das Verlangen seiner Seele einen so natürlichen und sprechenden Ausdruck fand, entging dem heiligen Auge des vorüberziehenden Jesus nicht und er erkannte darin sofort die ganze Empfänglichkeit des Mannes. Jesus schaut hinauf zu Zachäus und ruft: „Zachäus, eilends steig hernieder, denn heute muß ich in deinem Hause Herberge halten“; und eilends stieg er herab und nahm Jesum auf mit Freuden. Unter dem Volk entstand aber ein allgemeines Murren darüber, daß Jesus bei einem Manne, der ein Sünder sei, Nachtherberge halten wolle. Wir müssen nicht glauben, daß Jesus in dem allgemeinen Vorurtheil der Juden gegen die Klasse der Zöllner, welche sich mit den Römern eingelassen und dadurch sich ihrem Volke entfremdet hatten und außerdem in ihrem Geschäfte leicht zu Uebervortheilung gegen ihre Volksgenossen verleitet wurden, durchaus nichts Wahres und Richtiges erkannt hätte. Wir vernehmen ein Wort seines Mundes, in welchem er seine völlige Uebereinstimmung mit diesem Volksurtheil ausspricht: er sagt nämlich von dem unverbesserlichen Gliede der Gemeinde: „er sei dir ein Heide und Zöllner“ (s. Matth. 18, 17). Aber eben so, wie ihm die Verkehrtheit und Unwahrheit der Samariter eben so ausgemacht gilt, wie jedem anderen Juden, deßungeachtet aber sein Judenthum sein menschliches Verhältniß zu den Samaritern nicht aufhob, eben so hindert ihn die Anerkennung der antinationalen Stellung der Zöllner keineswegs, dem falschen Nationalstolz der Juden im Verhältniß zu den Zöllnern entgegenzutreten und das Menschliche in der Zöllnerklasse ohne Vorbehalt anzuerkennen. Diese gänzliche Freiheit Jesu von dem hochmüthigen Beisatz jenes jüdischen Vorurtheils wird für viele Zöllner eine anziehende Macht, und daraus entsteht zwischen Jesus und manchen Zöllnern ein inneres Verhältniß, ja Einer unter den Zwölfen, Matthäus, ist ein Zöllner (s, Matth. 9, 9-13). In dem Zerrbild, welches unsere christliche Gegenwart auch in dieser Beziehung uns vorhält, erkennen wir auch hier das heilige Urbild unseres Herrn am leichtesten und sichersten. Wie allgemein verbreitet ist in den gegenwärtigen christlichen Kreisen die blinde Vorliebe für gewisse Stände und Richtungen; und wie blind und lieblos ist andererseits das Vorurtheil gegen andere Stände und Richtungen! Und Jeder, der sich mit freiem Blick umsteht in der Gegenwart, kann es wahrnehmen, einen wie unermeßlichen Schaden diese scheinheilige Parteilichkeit anrichtet. Diese Parteilichkeit ist das Hinderniß, daß es niemals zu solchen herrlichen Erfahrungen kommen kann, wie uns Lukas hier von Zachäus erzählt. Jesus, der dem scheinheiligen Volksvorurtheil Trotz bietet, hat den Oberzöllner richtig erkannt. Nachdem Zachäus Jesum in sein Haus aufgenommen hat, tritt er zu dem Herrn hin und sagt ihm: „siehe, die Hälfte aller meiner Güter, Herr, gebe ich den Armen und wenn ich Jemanden übervortheilt habe, so gebe ich das Vierfache wieder.“ Es könnten diese Worte an den Selbstruhm des bekannten Pharisäers im Tempel erinnern, Zachäus rühmt sich einer Wohlthätigkeit gegen die Armen, welche alles gewöhnliche und gesetzliche Maß weit übersteigt, und einer freiwilligen Wiedererstattung bei vorfallender Veruntreuung, welche das Gesetz für einen der schwersten Fälle als Strafe bestimmt hat (s. 2 Mos. 22, 1). Indessen dem Herrn gegenüber kommt es nicht sowohl auf die Worte an, als vielmehr auf den Sinn, jener Pharisäer will sich über Andere erheben, der Oberzöllner will mit seiner Erklärung vor dem Herrn lediglich zeigen, wie er seinen verachteten Stand und sein verrufenes Geschäft behandle, er glaubt ihm dieses um der Ehre willen, die er seinem Hause angethan, schuldig zu sein. Dann aber zeigt sich, genauer besehen, auch in dem beiderseitigen Wort doch ein merklicher Unterschied: das, was der Pharisäer von sich als etwas Sonderliches rühmt, ging nach damaligem Maßstab nicht über die strengere Sitte und Gesetzmäßigkeit hinaus; während das Selbstbekenntniß des Oberzöllners ein solches Maß von Uneigennützigkeit zeigt, daß darin das Vorhandensein einer inneren Quelle der Liebe zu Tage kommt. Darum findet auch Jesus nicht nöthig, diesem Oberzöllner eine Mahnung zu geben, er findet in dem Hause dieses äußerlich von seinem Volksthum Abgefallenen einen wahrhaft israelitischen Sinn, ein kindliches, aufrichtiges und gerades Gemüth, wie einst bei Natanael. Darum spricht Jesus zu ihm Nichts, als Heil und Trost, „heute,“ sagt er, „ist diesem Hause Heil widerfahren, sintemal auch er ein Sohn Abrahams ist, obwohl ihn alles Volk einen sündigen Mann nennt, denn gekommen ist des Menschen Sohn zu suchen und zu retten das Verlorene.“

Am anderen Morgen bricht Jesus von Jericho auf und kommt mit dem Festzuge nach Betanien; da er hier den Festzug, dem er sich angeschlossen hat, weiter gehen läßt, und hier in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt in seiner liebsten Umgebung gastfreundlich verweilt, womit, wie wir nächstens sehen werden, ein Neues eintritt, so wollen wir hier unseren Reisebericht schließen.

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