Christoffel, Raget - Die Waldenser und ihre Brüder – I. Die Waldenser

Christoffel, Raget - Die Waldenser und ihre Brüder – I. Die Waldenser

Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.
Matth. 5,2

An der Mündung der Rhone in das mittelländische Meer gründeten Griechen aus Kleinasien ums Jahr 588 vor Christo eine Stadt, die sie Massilia nannten. Diese wurde die Pflanzstätte griechischer Bildung für Gallien und Helvetien, indem von ihr aus sich namentlich der Rhone entlang Handelsverbindungen anknüpften und dann die Söhne der angesehensten Gallier und Helvetier hier eine Ausbildung empfingen, die früher in ihrer Heimat unbekannt war. Mit dem Mutterlande Kleinasien unterhielt diese griechische Kolonie einen sehr belebten geistigen und Handelsverkehr. Als daher der Apostel Paulus mit seiner feurigen Liebe zum Herrn die Botschaft des Lebens in den Städten und Landschaften Kleinasiens verkündigte, wiederhalte bald seine Predigt, durch treue Jünger vermittelt, auch in Massilia und fand hier freudigen Anklang. Von hier aus verbreitete sich das Evangelium der Rhone entlang, wie früher Handel und griechische Bildung, durch Gallien und nach Helvetien hinein. In Vienne, Lyon und Genf blühten bald ansehnliche Gemeinden von glaubenseifrigen Christen, die mit den Muttergemeinden Kleinasiens in ununterbrochener Verbindung standen. In der Folge wurden sie auch beide gewürdigt der Gemeinschaft der Leiden Christi (Philipper 3,10) und die Bluttaufe seiner Jüngerschaft (Matth. 20,22) zu empfangen. Zuerst erging ums Jahr 167 nach Christo eine heftige Verfolgung über die Christen in Kleinasien. In derselben ward auch der greise Bischof von Smyrna Polycarpus, der Schüler des Apostels Johannes von den Häschern des römischen Statthalters ergriffen und weil er Christo nicht fluchen wollte, „in dessen Dienste er schon 86 Jahre gestanden und der ihm nie etwas zu Leide getan,“ zum Feuertode verurteilt, den er unter herzlichen Dankgebete für die ihm vom Herrn verliehenen Gnadengüter standhaft erlitt. Zehn Jahre darauf (177) entbrannte gegen die Christengemeinde Galliens, namentlich gegen die zu Lyon und Vienne eine heftige Verfolgung. Viele wurden zu der Zeit grausam gemartert; indem man sie zwingen wollte, die unnatürlichen Laster zu bekennen, die ihnen die Heiden angedichtet hatten. Da zeigte sich wohl mancher schwach, die Mehrzahl aber bekannte standhaft den Glauben an Christum und erklärte mit Bezug auf die ihnen angedichteten Laster: „Wir sind Christen und bei uns geschieht nichts Böses.“ Mit dem Feldgeschrei: „Ich bin ein Christ“ und mit Gebet auch für die Dränger und Mörder gingen diese glaubenseifrigen Jünger des Herrn freudig dem qualvollen Tode entgegen. In dieser Verfolgung erlitten namentlich Photinus, der greise Bischof von Lyon, Sanctus, Diakonus von Vienne, Attalus von Pergamus, eine Säule und Stütze der Kirche, Maturus, der erst vor Kurzem erleuchtet worden und die Sklavin Blandina, an welcher Christus zeigte, dass das, was unter Menschen für gering und verächtlich gilt, bei Gott großer Ehre gewürdigt ist, den Märtyrertod. Schmerzlich ergriffen von dem, was sie erfahren, meldeten „die Knechte Christi in den Gemeinden von Vienne und Lyon den Brüdern in Asien und Phrygien, welche mit ihnen denselben Glauben und dieselbe Hoffnung der Erlösung haben, die Größe ihrer Bedrängnisse und die heftige Wut der Heiden gegen sie und was die seligen Märtyrer erduldet haben.“ Auch Irenäus, gebürtig aus Smyrna und ein Schüler des Polycarpus, der dem Märtyrer Photinus in der Bischofswürde zu Lyon gefolgt, ward 202 gewürdigt, den Herrn durch seinen Märtyrertod zu preisen. So wurde den Gemeinden Kleinasiens und Galliens das Siegel der Bewährung aufgedrückt, indem sie gewürdigt wurden, wie der Apostel Paulus, der sie gepflanzt1), die Malzeichen Christi (Gal. 6,17) zu tragen. Die gemeinsam erduldeten Leiden verbanden sie nur enger mit einander. Daher behaupteten auch die gallischen Gemeinden standhaft die asiatische Weise und Sitte, als der römische Bischof die in seiner Kirche herrschende ihnen aufdringen wollte. Irenäus erwirkte auch beim römischen Bischofe Victor die Duldung der asiatischen Sitte für die Gemeinden an der Rhone. Der gleiche Feuereifer, der in der großen Seele des Apostel Paulus glühte, neue Jünger für Christum zu gewinnen, erfüllte auch die von ihm gepflanzten Gemeinden. So wurden namentlich die römischen Soldaten der 22. Legion, die von 69 nach Christo bis im Anfange des vierten Jahrhunderts von Lyon bis Mainz stationiert war, für den Glauben an das Evangelium gewonnen und in der Folge die Vermittler für die Verbreitung des Christentums unter den heidnischen Bewohnern dieser Gegenden. Solches bekunden die christlichen Sinnbilder, welche aus den Gräbern, die die Zahl dieser Legion tragen, von Lyon bis Mainz hinunter herausgegraben worden. Die weiße Taube, das Sinnbild der Sittenreinheit und Sanftmut ward von den damaligen Christen vorzugsweise geliebt und „die Bilder von Daniel in der Löwengrube“ veranschaulichten die Verfolgungen, die sie erduldet. Beide Sinnbilder finden sich nun in den Gräbern der 22. römischen Legion, die von Lyon, von Irenäus so segensreich gewirkt, ihren Ausgangspunkt hatte. Die erlittenen Verfolgungen veranlassten die christlichen Gemeinden an der Rhone mit aller Sorgfalt und Treue die apostolische Lehre und Sitte in ihrer Reinheit und Einfalt zu bewahren, als dieselbe anderswo durch eingeschlichene heidnische und jüdische Irrtümer getrübt zu werden begann. Namentlich maßte sich der römische Bischof im geraden Gegensatze zu dem Auftrage Christi an seine Jünger (Matth. 20,25) nach Art der römischen und jüdischen Oberpriester Herrschergewalt an und umgab sich mit fürstlichem Glanze, während Christus, dessen Stellvertreter auf Erden er sein wollte, in Knechtsgestalt hienieden wandelte und nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Die von Paulus mit so großem Ernste und Nachdrucke verkündigte Lehre, dass der Mensch allein aus Gnade durch den Glauben an Christum gerecht und selig werde2), wurde durch die römische Kirche dahin verfälscht, dass sie behauptete, wir erlangen durch das Verdienst der Werke die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt und die Seligkeit. Nachdem diese Grundlehren des Christentums in die gegensätzlichen Irrtümer verkehrt worden, riss der ganze Strom des Verderbens mit Macht in die Kirche ein und trübte und verkehrte auch die übrigen Lehren und Einrichtungen derselben. Die pharisäische Überschätzung der Verdienstlichkeit der äußeren Werke und die römische Herrschsucht hatten zur notwendigen Begleiterin die Verfolgungssucht, wie sie gegen Christum, seine Apostel und die ersten christlichen Gemeinden der apostolischen Kirche gewütet hatte. Unter diesen Umständen musste sich das christliche Leben und die christliche Sitte, die sich unverfälscht von den neu eingeschlichenen Irrtümern erhalten wollte, nur in der Stille und Verborgenheit fortpflanzen. Aber auch die Ströme der Erde bewahren bei der größten Winterkälte, wenn sich über ihre Oberfläche eine Eisesbrücke bildet, ihren gewohnten Lauf und fließen fort, bis sie in ihren Mündungen ihr Ziel erreicht haben. So bewahrten auch viele evangelischen Christen namentlich an den Ufern der Rhone, wo ihre Väter vormals für ihren christlichen Glauben so schwere Drangsale erduldet, christliches Leben und christliche Sitte, wie sie von den Apostelzeiten her empfangen, ungetrübt und unverfälscht und pflanzten sie als teures Vermächtnis an ihre Kinder fort, wie sie dieselben von den Vätern als heiliges Erbe empfangen. In der Mitte des zwölften Jahrhunderts trat unter ihnen Petrus Waldus, ein wohlhabender Bürger von Lyon auf, der sich große Verdienste um sie erwarb und ihnen seinen Namen lieh, unter dem sie noch jetzt zum Segen ihrer Umgebung fortbestehen und wirken. Nach der Forderung Christi an jenen reichen Jüngling: „Verkaufe, was du hast, und gib es den Armen,“ gab er all sein Gut seinen armen christlichen Glaubensbrüdern und fing an vor dem Volke zu predigen. Da er gemäß der heiligen Schrift nach der Apostel Vorbild lehrte und lebte, auch das Evangelium in die Volkssprache übersetzen und verbreiten ließ, gewann er immer mehr Anhänger, indem man mit Entrüstung den Unterschied zwischen den Worten Jesu Christi und den Satzungen der vom Papste regierten katholischen Kirche wahrnahm. Diese einfachen apostolischen Christen wurden bald die „Armen von Lyon“ genannt von ihrer Losung: „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“ bald die „Holzschuhträger,“ bald die „Wolfsschluchtbewohner“, weil sie in solchen vor ihren Drängern eine Zufluchtsstätte suchen mussten. Wie ihre Väter von Seite der römischen Kaiser die grausamsten Verfolgungen zu erdulden hatten, so hatten sie, als die würdigen Söhne jener Märtyrer die gleiche Wut der Verfolgungssucht von Seite der römischen Bischöfe zu ertragen. Unter diesen Bedrängnissen suchten sie vorzugsweise in den Hochtälern der Alpen Südfrankreichs, Savoyens und Piemonts eine Zufluchtsstätte vor ihren Verfolgern, um möglichst unbelästigt ihres Glaubens leben zu können. Aber auch hier wurden sie immer mehr eingeengt, so dass sie bei der immer mehr heranwachsenden Zahl ihrer Genossen genötigt waren von Zeit zu Zeit abteilungsweise auszuwandern und in der Ferne neue Wohnstätten zu suchen. Die gleiche Notwendigkeit trat nun auch in die Mitte des 14. Jahrhunderts ein und veranlasste sie zur Gründung einer Kolonie in Kalabrien.

1)
Unmittelbar durch seine Predigt und mittelbar durch seine Schüler.
2)
Ap. Gesch. 15,11. Ap. Gesch. 16,31. Röm. 3,28. Röm. 5,1. Röm. 9,12. Röm. 3,22,24. Ephes. 2,8. usw.
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autoren/c/christoffel/christoffel-waldenser/christoffel_-_waldenser_-_1.txt · Zuletzt geändert: von aj
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