Tholuck, August - Das Lob der Liebe (1).
Was ist das für eine Liebe, der Paulus dieses Loblied singt?
Wir haben in unserer letzten Andacht1) eine Seite der göttlichen Wahrheit betrachtet, die vielleicht Diesen und Jenen von euch in seinem Innern hat erbeben lassen; wir haben ein Wort aussprechen müssen, was vielleicht in manches Herz wie ein scharfer Pfeil gedrungen ist; lasset uns heute ein Thema mit einander erwägen, von dem ihr lieber werdet sprechen hören. Der Gegenstand unserer heutigen Betrachtung sei das Lob der Liebe. Die Liebe, das ist allerdings ein Thema, welches eigenthümlich christlich ist, da es erst seit der Zeit laut über die Erde hin erschallt, seitdem die ewige Liebe Mensch geworden. Zwar spricht auch der alte Bund von einem Gotte, der unsere Sünden so fern von uns seyn läßt, wie der Morgen vom Abend ist, und die Missethat der Reuigen tilgt, wie eine Wolke; aber in der Bundeslade, darauf seine Gegenwart thront, ruhen die steinernen Tafeln des Gesetzes: darum wird die lockende Stimme seiner Liebe von den Donnern seiner Gerechtigkeit übertönt. Wollt ihr aber hingehen zu den Weisen des alten Griechenlands und Roms - von der Weisheit und Gerechtigkeit tönen ihre Hallen wieder, doch von der Liebe schweigt ihre Stimme. Wo in der ganzen alten Welt findet ihr den Gesang, der schöner das Lob der Liebe tönte, als die apostolischen Worte, an welche wir unsere heutige Erbauung anknüpfen: 1 Cor. 13. „Wenn ich mit Menschen- und mit Engel- Zungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz, oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte, und wüßte alle Geheimnisse, und alle Erkenntniß. und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe, und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre es mir nichts nütze. Die Liebe ist langmüthig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibet nicht Muthwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungeberdig, sie suchet nicht das Ihre, sie lässet sich nicht erbittern, sie trachtet nicht nach Schaden, sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit, sie verträgt Alles, sie glaubet Alles, sie hoffet Alles, sie duldet Alles, Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden, und die Sprachen aufhören werden, und das Erkenntniß aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind, und war klug wie ein Kind, und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, that ich ab, was kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich es stückweise; dann aber werde ich es erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größeste unter ihnen.“
Unerschöpflich dehnt sich der verlesene Text vor meinen Augen aus; lange Reihen von Betrachtungen vor euren Ohren würden ihn nicht ausschöpfen können. Keine Pracht der Rede vermag ihn würdig zu schildern, nicht Menschen-, nicht Engelzungen mögen alle seine Tiefe ergründen. Daß wir wenigstens in einigem Maße die Länge und Breite und Tiefe und Höhe desselben kennen lernen, so lasset uns eine zwiefache Betrachtung daran anknüpfen:
- Was ist das für eine Liebe, welcher Paulus dieses Loblied singt?
- Warum ist sie die größeste unter allen Tugenden?
Lasset die letzte Frage einer zukünftigen Andacht aufbewahren. Nur die erste Frage beschäftige uns in unserer heutigen Betrachtung.
Was ist das für eine Liebe - fragen wir also - welcher der Apostel dieses Loblied singt? Unsere Antwort ist: Es ist die christliche Liebe. - Wohl ist er tief in den innersten Gründen des Herzens niedergelegt, jener Zug der Seele, den wir Liebe nennen. Aber, Geliebte, ihr wißt es, was für gar verschiedene und zum Theil sündliche Triebe und Neigungen es sind, welche unser Sprachgebrauch unter dem Worte Liebe zusammen zu fassen pflegt. Hat aber die Liebe, welche hier der Apostel euch malt, euer Herz ergriffen, so wisset, daß dies die christliche Liebe ist.
Es ist das ewige Erbarmen,
Das alles Denken übersteigt;
Es sind die offnen Liebesarmen
Deß, der sich zu dem Sünder neigt,
Dem allemal das Herze bricht,
Wir kommen oder kommen nicht. -
Sehet da, meine Freunde, den Quell, aus welchem allein solche Liebe stammt. Von dem Tage an, wo der Mensch sich von seinem Gotte geschieden, hat die Sünde, welche die Scheidewand aufrichtete zwischen ihm und seinem Gotte, auch die Scheidewand der Selbstsucht aufgerichtet zwischen ihm und seinen Brüdern. Nur in dem, welcher Alles liebt, was er geschaffen hat, können auch wir seine Geschöpfe mit reiner Liebe umfangen; nur in ihm ist Leben, und wo Leben ist, da ist die Verbindung aller Glieder zu Einem Körper; außer ihm ist der Tod und mit dem Tode die Verwesung und die Vereinzelung der todten Glieder. Darum kann sie denn auch anders nicht in unser Herz wieder einziehen, jene selbstverleugnende Liebe zu den Brüdern, als getragen von der Liebe des Vaters aller Geister. Es kann, sage ich, die Scheidewand, die den Menschen vom Menschen trennt, nicht fallen, als wenn die Scheidewand fällt, die ihn trennt von seinem Gotte. Was anders aber hat in das Menschenherz die Liebe zu Gott wieder zurückgeführt, als jener alles Denken übersteigende Rathschluß des Erbarmens, nach welchem er uns geliebet hat in seinem Sohne, und ist unter uns erschienen und hat, indem er die Welt versöhnete mit sich selber, uns zugleich ein Vorbild hinterlassen, wie wir einander lieben sollen? Sehet da, dieser Glaubensgrund ist es, welcher die Liebe erweckt, von der Paulus zeuget! Könnte sie auf irgend eine andere Weise geweckt werden, nun so saget mir, warum begegnet ihr der Predigt von der Liebe nicht in den Weisheitshallen der alten Welt? Warum tönt dies hohe, heilige Wort der Liebe erst seit der Zeit laut in der Welt, seitdem das Kreuz auf Golgatha der Sammelplatz geworden für alle liebesuchenden und liebespendenden Seelen? Ihr daher, die ihr an solcher holden Predigt, wie die des Apostels, euer Wohlgefallen habt, die ihr die Liebe der Christen wollet, ohne ihren Glauben: wie möget ihr die Zweige haben, die ihr die Wurzel verschmäht? wie möget ihr den Bach haben, die ihr die Quelle verachtet?
Auf welche Weise aber dieser christliche Glaube der Quell einer solchen Liebe werde, das lasset uns näher miteinander erwägen in Bezug auf jene einzelnen Züge, welche uns der Apostel von dieser Liebe aufgezeichnet hat. Es wird dabei euch deutlicher werden, wie der christliche Glaube es allein ist, der solches heiliges Feuer anzündet.
Die christliche Liebe ist langmüthig. Sie eilt nicht mit der Strafe - und wie sollte sie, da sie auf einen Gott hinblickt, dessen Donner über dem Frevler oft so lange warten, daß ein Assaph bekennen muß: „Ich dachte nach, daß ich es begreifen möchte, aber es war mir zu schwer.“ Ergreifend steht er vor uns als ein Bild des Kampfes Gottes mit jedem einzelnen abtrünnigen Menschenherzen, der Kampf, in welchem der Heilige Israels fünfzehn Jahrhunderte lang mit dem Volke liegt von hartem Nacken und eherner Stirne - ja ist nicht eben gerade darum vor allen anderen Völkern dies Volk mit dem hartem Nacken und der ehernen Stirn auserlesen worden zum Volke des Eigenthums, auf daß in einem hellen Spiegel der Welt sich darstelle das langmüthige Erbarmen göttlicher Liebe? Wie hat er ein Mal über das andere seine Knechte, die Propheten, abgeschickt und sie samt dem Worte seiner Gnade verschmähen lassen, und wird über das Alles nicht müde, sondern nach allen seinen Knechten schickt er den einzigen Sohn, der kommt in sein Eigenthum, und die Seinigen nehmen ihn nicht auf - was sage ich aber: sie nahmen ihn nicht auf? Ach! sie haben die Liebe, als sie persönlich unter sie trat, gegeißelt und an's Kreuz geschlagen. Unter diesem Kreuze erbebt die Erde, und über ihm kleidet der Himmel sich in Finsterniß; doch siehe! Gottes Donner schweigen noch. Der eigene Mund der bethörten Menge ruft sie herbei: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ - und sie schweigen noch, schweigen noch ein ganzes Menschenalter, während dessen seine Boten herumgehen und Buße und Vergebung der Sünde anbieten. - O du ewige, langmüthige Liebe, ich brauche dich ja aber nicht erst kennen zu lernen aus fernen Geschichten: sehe ich nicht überall, wie deine milde Sonne über den Bösen aufgeht, und dein milder Regen die Fluren der Ungerechten tränkt? Habe ich es nicht erfahren an mir selber, daß du warten kannst mit deiner Strafe? Ach, hab' nicht einst auch ich den Götzen geopfert dieser Welt, wie dein Volk Israel, und sind nicht deine Propheten gekommen einer nach dem andern und haben mich zu dem lebendigen Gotte eingeladen, und ich habe sie verschmäht in meiner Blindheit, und du hast zurückgehalten deine Donner und deine Blitze, und bist zu mir gekommen, wie zu Elias, im sanften Säuseln des Windes? Ja, langmüthige Liebe, an dieser deiner Langmuth habe ich auch lernen geduldig seyn mit der Uebertretung meiner Brüder, habe ich auf Buße harren lernen Wochen, Monde, Jahre, wie du geharret hast. Kann deiner Liebe Sonne so lange über dem Haupte der Unbußfertigen stehen bleiben, ohne die Strahlen ihres milden Segens in Wetterstrahlen gerechter Rache zu verwandeln - o wie soll der das nicht auch lernen, der es an sich selber von dir erfahren hat?!
Christliche Liebe ist freundlich - denn sie gedenket des Gottes, der, so oft er auch sein Volk in die Wüste geführt, nach jedem Schlage gleich wiederum gerufen: „Tröstet, tröstet mein Volk! Redet mit Jerusalem freundlich, und prediget ihr, daß ihr Kampf ein Ende hat, denn ihre Missethat ist bezahlt“ - bis sie endlich mitten unter uns im Fleisch erschienen ist „die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes unsers Heilandes,“ und „nicht um der Gerechtigkeit willen, die wir gethan, sondern nach Gottes Barmherzigkeit“ uns selig macht. Die christliche Liebe ist freundlich, denn sie blickt in den Spiegel eines Heilandes, aus dessen Antlitz allerwege die Freundlichkeit strahlt. Wir haben sein Antlitz nicht geschaut, auch wissen wir nicht, ob je ein wahrhaftiges Abbild desselben zu uns gekommen ist; doch ehe du noch sein Bild von Künstlers Händen geschaut, hat sein eigener Geist sein Bild in die Seele gezeichnet. Es mag in Jedem von uns verschiedene Züge haben; aber keinem dieser Abbilder fehlt neben der Majestät des Eingebornen vom Vater die Freundlichkeit dessen, der die Kindlein zu sich kommen läßt, und zu dem gebeugten Sünder spricht: „Mein Sohn, sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben!“ Und wenn nun in diesen Spiegel christliche Liebe alle Tage blickt: soll sie nicht freundlich werden? Sie sollte nicht freundlich werden, wenn sie daran gedenket, wie er ihr selbst mit so holdem, freundlichem Ernste ist nachgegangen, als sie noch ferne war, und hat sie gerufen und gelocket, bis daß sie sich umschaute und ihm in die Arme sank, und nun selber das Wort vernahm: „Mein Sohn, sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben“? Sie sollte nicht freundlich seyn, wenn sie daran denkt, wie er noch täglich sich gegen sie verhält bei ihrer Untreue? Macht er es nicht bei dir, wie bei Petrus, als er ihn verleugnet hatte? Er droht nicht, er schlägt nicht, er sieht dich nur an - christlicher Bruder, kennst du ihn nicht, den mild-ernsten Blick, mit dem der Herr die Seele ansieht, die ihn verleugnet hat? Und bist du dann nicht auch hinausgegangen und hast bitterlich geweint, wie Petrus? Und wenn er dann auf's Neue sich zu dir neigte und fragte: „Simon Johanna, hast du mich lieb?“ - o sagt, müßte es nicht von Stein seyn, das Menschenherz, das bei solcher Freundlichkeit und Milde nicht freundlich werden wollte?
Christliche Liebe läßt sich nicht erbittern. Immerdar kann sie nicht ein freundliches Gesicht den Uebertretern der Wege Gottes zeigen. Wird vom Himmel her Gottes Zorn offenbar, wie die Schrift sagt, über alle Ungerechtigkeit; hat der Heiland für die Ehre seines Vaters geeifert, also, daß er mit der Geißel in der Hand seines Vaters Haus von denen gereinigt hat, die es zur Mördergrube machen wollten: so kann auch christliche Freundlichkeit nicht getrennt seyn von einem heiligen Ernst und Zorn über die Sünde - aber erbittern läßt sich christliche Liebe nicht; sie zürnet und strafet wohl, aber bitter wird das Herz nimmer. Fühlt ihr es ihm nicht ab, dem Gottessohne, wie auch mitten in seinem Eifern und seinem Strafen sein Herz nicht bitter wird? Wäre es anders, woher dann die himmlische Ruhe in seinem Zürnen? Bleibt nicht also das Herz des Himmels in tiefer Ruhe, wenn er in finsteren Gewitterwolken seine Donner auf die Erde schickt? Eben diese innere Ruhe und heilige Gelassenheit, sie ist es nun auch, an der man überall christliches Zürnen von fleischlichem Zürnen unterscheiden wird: auch mitten in ihrem Zürnen wird christliche Liebe nicht erbittert.
Christliche Liebe eifert nicht, d. h. neidet nicht, und suchet nicht das Ihre. Sehet da das innerste Wesen christlicher Liebe. Was sie draußen vor den Pforten des himmlischen Jerusalems mit dem edeln Namen Liebe benennen, das könnet ihr hier nicht vergleichen; da haben sie eine Liebe, die da liebt, damit sie wieder empfangen möge, eine Liebe, deren innerster Kern die Selbstsucht ist. Gemeinde Gottes, es ist eine andere Liebe, von der der Apostel euch verkündigt - es ist die Liebe nach dem Ebenbilde dessen, „welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, sich selbst entäußert und Knechtsgestalt angenommen hat, und sich selbst erniedrigt hat und gehorsam ward bis zum Tode“; es ist die Liebe des Herrn der Herrlichkeit, der unter unseren Hütten seine Wohnung aufgeschlagen, damit er durch seine Armuth uns reich machte. O wahrlich, er ist nicht auf die Erde gekommen, um das Seine zu suchen. Saget, was hat er finden können hier auf der armen Erde? Thränen, eine Dornenkrone und das Kreuz. Wahrlich, er hat nicht das Seine gesucht, als er zu uns gekommen ist: das Deinige, verlorne Seele, hat er allein gesucht, dein Heil, deinen Frieden, deine Seligkeit. An dieser Liebe haben die Christen eine neue Art Liebe gelernt, eine Liebe, der „das Geben seliger ist, als das Nehmen.“ Ihr wisset, Geliebte, daß dieser Ausspruch uns in der Apostelgeschichte von dem Apostel Paulus als ein solcher erwähnt wird, den der Herr selbst gethan. Ja wohl muß er vom Herrn gekommen seyn, ein Menschenherz hätte ihn nicht erfunden; er muß von dem gekommen seyn, über dessen ganzem Leben die Ueberschrift stand: Geben ist seliger denn Nehmen! Nach diesem Vorbilde nun geht die christliche Liebe aus und ladet zu ihrem Mahle - nach des Herrn Wort - nicht die Gefreundeten und Verwandten, sondern die Krüppel und die Mühseligen, sucht nicht die Gesunden auf, sondern die Kranken, isset und trinket mit den Zöllnern und Sündern, und erwählt sich das schwerste, aber auch das heiligste aller Geschäfte: zu weinen mit den Weinenden. Das sind die edelsten aller Früchte, welche christliche Liebe je und je erzeugt hat, die ihr aber auch am seltensten mit eurem Auge werdet gesehen haben; denn sie sind schon an sich selten. Gerade eine solche Liebe ist aber auch ein Gewächs, welches nicht das Sonnenlicht sucht, sondern das stille Dunkel. Gerade die Jünger solcher Liebe haben allezeit die glühenden Kohlen ihrer Liebe mit der Asche der Demuth zugedeckt. Du mußt ihren Spuren in tiefe Verborgenheit nachgehen; hat es sich aber ein Mal getroffen, daß Einer, der von solcher Liebe noch nichts wußte, aber ein empfängliches Herz hatte, ihre Spuren fand, da hat man wohl auch oftmals in dem Auge des Weltmenschen eine Thräne glänzen sehen, und es ist aus seinem Herzen der Wunsch gequollen: O daß ich mit dieser neuen Liebe lieben könnte! Und wie sollte nun eine Liebe, die so aufgehört hat, das Ihrige zu suchen, neiden können? Für wen Geben seliger denn Nehmen geworden ist, für den hat aller Neid ein Ende. Seligeres kann ihm nicht widerfahren, als daß er gewürdigt wird an seinem Theile in die Fußtapfen dessen zu treten, der da arm wurde, um uns reich zu machen, und aus der Fülle einer solchen überschwenglichen Liebe heraus ruft ein Paulus, von dem ihr wisset, was er es sich hat kosten lassen, seinen Herrn Christum zu gewinnen: „Ich sage die Wahrheit in Christo und lüge nicht - ich wünschte verbannt zu seyn von Christo für meine Brüder!“ - d. h. wenn es möglich wäre, dadurch sie zu retten.
Christliche Liebe treibet nicht Muthwillen und blähet sich nicht. Muthwillen treiben und sich blähen neben dem an geistigem und leiblichem Gut Aermeren als du, das sind Eigenschaften, die ihr überall da finden werdet, wo der Stolz ist auf eigenes Verdienst. O meine Freunde, und wo wäre das Blähen neben dem, das da ärmer ist, nicht? O es muß sehr tief in der menschlichen Natur begründet seyn, wenn ihr es selbst bei dem Weisen finden könnt, den wir in einer unserer Betrachtungen den größten der Weisen der alten Welt nannten, weil er wußte, was ihm fehlte. Und nun, da es alle die Andern neben ihm nicht wissen, und man meinen sollte, daß er mit herzlichem Erbarmen und einer Thräne in den Augen an den Scharen seiner verblendeten Brüder hingehen würde, seht ihr ihn mit dem spöttischen Lächeln beißendes Salz in die Wunden streuen! O großer Weiser - wie groß du auch warst - an deine Brust konnte sich doch kein geängstetes Herz legen, um Trost zu finden! Nein, nur an deine Brust, du großer Gottessohn mit der Dornenkrone, können die wunden Herzen sich legen und kindlich ausweinen! Deine heilige Liebe hat sich niemals gebläht, deine heilige Liebe hat niemals Muthwillen getrieben mit den Verblendeten und mit den kranken Herzen! An deinem Vorbilde und an keinem andern haben wir mit einer Erbarmung lieben lernen, die sich nimmer bläht, auch nicht neben der Geringsten Einem.
Christliche Liebe stellet sich nicht ungeberdig d. i. ungeziemend. Sie macht keine Ansprüche, sie drängt sich nimmer vor, sie läßt jedem sein Recht. Woher anders kommen jene Ansprüche, jene Beeinträchtigung Anderer, jenes Vordrängen, als weil wir Alle mehr dazu geneigt sind, an das zu denken, was wir besitzen, als an das, was uns fehlt? als weil wir mehr an das Unsere denken, als an das, was des Andern ist? Erst christliche Sündenerkenntniß, erst christliche Beschämung über die unverdiente Liebe Gottes in Christo hat jene Zartheit der Liebe erzeugt, die stets sich bewußt bleibt, was ihr fehlt, die jedem Andern den Vorrang gönnt, nach des Apostels Wort: „Achtet euch einer den andern höher als sich selbst!“ Erst durch christliche Liebe seht ihr jene Kluft ausgefüllt, welche die Verschiedenheit der Stände, der Gaben und Güter unter den Menschen erzeugt. Aeußerlich aufgehoben hat das Christenthum alle diese Unterschiede nicht, aber es hat sie aufgehoben im Geiste. Christliche Liebe läßt den Unbegabten und Ungeehrten erkennen, daß das Pfund, welches er empfangen hat, ein geringes ist, läßt willig Dem Ehre geben, dem Ehre gebührt, und läßt den Begabten und Vornehmen in jener Liebe, die nicht das Ihre sucht, sich wieder herabneigen zu dem, was gering ist und verachtet vor der Welt. So bildet christliche Liebe mitten unter allen äußern Verhältnissen der Welt jene Brüdergemeinde, jenen Leib Christi, wo jedes Glied seine Stelle einnimmt, die Gott ihm beschieden, und doch Alle Allen dienen, so daß Alle haben in der Liebe, was jeder Einzelne hat. So gibt es auch in der christlichen Gemeinde Reiche und Arme, Kleine und Große, Gelehrte und Ungelehrte, und es ist doch wieder wahr, was der Apostel sagt: „Alle sind Einer in Christo!“
Christliche Liebe trachtet nicht nach Schaden, freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, freuet sich aber der Wahrheit. Wie - werdet ihr bei dieser Eigenschaft christlicher Liebe fragen - und es sollte würklich einen geben, der sich der Ungerechtigkeit und des Schadens Anderer freuete? - O daß die menschliche Sprache kein Wort für die Schadenfreude hätte! Es ist ein trauriges Zeugniß dafür, daß die Menschen die Sache unter sich haben! Ich will die Wahrheit jenes Ausspruches nicht untersuchen, den ein hochgeachteter Weltweiser der neueren Zeit gethan: „Auch in dem Unglück unsers besten Freundes ist etwas, was uns nicht ganz mißfällt,“ ich will mich ganz wegwenden von dieser Seite, von eurer Freude an der Ungerechtigkeit und am Schaden, will nur fragen: Ihr Christen, freuet ihr euch denn recht der Wahrheit? Könnt ihr recht kindlich und innig euch freuen über jedes Fünklein derselben, wo ihr es auch findet, bei Freund und Feind, in der Hütte oder auf dem Throne? O es ist das ein eigenthümliches Reich der Freuden, was eigentlich auch erst der Glaube an den Herrn in seiner Vollkommenheit bereitet hat. Ihr begreift ja wohl, recht innig sich freuen über jeden auch noch so geringen Schimmer der Wahrheit und Gerechtigkeit, der aus einem umdüsterten Menschenherzen oder Zeitalter hervorbricht, das kann nur der, welcher einen recht tiefen und ernsten Abscheu vor der Ungerechtigkeit und einen recht tiefen Eindruck von der Beseligung, die das Leben in der Wahrheit gibt, gewonnen hat. Wo aber wird ein solcher Abscheu vor der Sünde, wo ein solcher Eindruck von der beseligenden Kraft der Wahrheit gewonnen, wie unter dem Kreuze dessen, der sich für die Sünde der Welt in den Tod gegeben, damit sie „Leben und volle Genüge habe“? Habt ihr daher nicht bemerkt, wie, vor allen anderen Religionen, den Genossen des christlichen Glaubens das Streben eigen war, auszugehen in alle Welt und zu werben für „ein Reich Gottes auf Erden!“ „Wir können es ja nicht lassen, daß wir nicht reden sollten von dem, was wir gesehen haben“ - so riefen die ersten Zeugen der Wahrheit in Christo aus. (Apg. 4, 20.). „Wir können es ja nicht lassen!“ so tönet es aus jedem Christenherzen; Ist es euch nicht an denen, die anderswo als bei Christo ihre Weisheit und Gerechtigkeit gefunden haben, oftmals aufgefallen, wie sie so wenig sich von Herzen freuen können, wenn das, was ihnen Wahrheit ist, in einer Menschenbrust aufkeimt und Wurzel schlägt - wie dagegen der Jünger des Herrn so innig beseligt wird bei jedem leisen Schimmer christlichen Glaubens, der in einer Brust aufdämmert? Ja, nur christlicher Glaube und christliche Liebe ruft mit dem Dichter aus:
O geht hinaus auf allen Wegen
Und ruft die Irrenden herein.
Streckt allen eure Hand entgegen
Und ladet Alle zu uns ein.
Der Himmel ist bei uns auf Erden,
Das kündigt Allen fröhlich an -
Die Eines Glaubens mit uns werden.
Auch ihnen ist er aufgethan!
Und diese Freude an der Wahrheit geht auch im Christenherzen auf, wenn es dem schwächsten Funken derselben außerhalb des Reiches seines Herrn begegnet. Wenn das Licht „das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen“ allüberall ist, so gehört auch alles, was Wahrheit ist außerhalb des Reiches des Sohnes Gottes, unter Seinen Scepter. Ist das Licht, welches matt und schwach in den Ueberlieferungen der Heidenwelt leuchtet, das Sternenlicht, und das, welches im Judenthume leuchtet, das Mondlicht, so entlehnen der Mond samt den Sternen sein Licht von der Sonne. Sehet ihr nicht, wie einem Paulus, der so streng im Judenthume erzogen, durch Christum das Herz weit gemacht wird, daß er sich über den Altar freuen kann, den die Athener dem unbekannten Gotte errichtet haben, und wie er den ihnen predigt, den sie anbeten, ohne ihn zu kennen?
Christliche Liebe endlich vertraget Alles, glaubet Alles, hoffet Alles, duldet Alles - Alles? Ja, meine Freunde, in einem gewissen Sinne könnt ihr sagen Alles. Für seine eigne Person möchte der Jünger des Herrn ja gern keine Grenzen stecken, und kein Ende machen dem Vergeben, dem Dulden, dem Glauben, dem Hoffen, dem Vertragen - möchte hoffen, auch wo keine Hoffnung mehr ist. Nur Gottes Wort, nur Gottes Ehre, nur des Nächsten eigenes Wohl und Wehe ist es, was ihn Grenzen kann stecken lassen. Für seine Person wäre ihm ja wahrlich nichts seliger, als wenn er überall segnen und überall die Bruderhand ausstrecken, und selbst die ganze Welt verhärteter Sünder an sein Herz drücken; er für seine Person sagt mit dem Heiland: „Ich richte Niemand, so ich aber richte, ist mein Gericht gerecht, denn ich bin nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat“ (Joh. 8,15.16.). Es ist das Wort Gottes, es ist der Geist Gottes, der ihm vorschreibt, wo er richten muß. Aber in seiner Seele wahrt er sich auch da, wo er richten muß, die Liebe, die lieber selig machen möchte als verdammen, lieber tragen als schlagen. Also der christliche Richter, welcher den Urteilsspruch spricht über den Uebertreter göttlichen Gesetzes; also der christliche Krieger, der in gerechtem Kampfe das Schwert erheben muß gegen den übermüthigen Feind; also der christliche Lehrer, der im heiligen Eifer zürnen muß den Feinden des Evangeliums; also der christliche Vater, der in gerechtem Zorne über sein ungerathenes Kind die Nuthe schwingen muß. Auch hier gilt wiederum: Christliche Liebe läßt sich nicht erbittern.
Sehet, da habt ihr das Bild einer christlichen Liebe. Wohl dünkt es euch ein schönes liebliches Gemälde; doch diesem Eindrucke allein darf ich euch nicht überlassen, wird doch schon zu viel eitele Empfindelei mit der hohen, heiligen Lehre des Evangeliums von der Liebe getrieben. Christen, ich habe eine strenge Frage an euch zu richten: wie, wenn nun einst ihr nach dem Maßstabe dieser Liebe gerichtet werdet? - Ihr sehet, es thut noth, nicht bloß an diesem Bilde uns zu freuen, sondern nach diesem Bilde über uns Gericht zu halten. Die Kinder unserer Zeit gleichen aber dem Geschlechte zur Zeit des Täufers; als er mit seiner Bußpredigt kam, da - sagt der Heiland selbst - waren sie wie die Kindlein, die eine kleine Weile an dem Glanze des Lichtes sich freuen wollen, statt daß es ihnen leuchten soll auf ihrem Wege. Und gibt es keinen andern Quell dieser Liebe, als das lebendige Anschauen der Liebe, die am Kreuz für uns gestorben ist: Christen, so stehe Gethsemane und Golgatha vor euren Augen allerwege, damit ihr lieben lernet! -