Tholuck, August - Apostolikum - Predigt 4

Tholuck, August - Apostolikum - Predigt 4

Auch heute vernehmet, Jünger des Herrn, jenes Wort des Apostels, an welches wir bisher unsere Erklärung des apostolischen Glaubensbekenntnisses angeschlossen haben und an welches wir auch diese unsere vorletzte Betrachtung darüber anschließen werden. Es ist das Wort, welches am Schlusse des 11ten Cap. des Briefes an die Römer also lautet: „Von ihm, durch ihn, zu ihm sind alle Dinge.

Zu ihm, zu Gott sind alle Dinge - das ist das Wort, auf welches der dritte Artikel des apostolischen Glaubens hinweist. Daß es unser Ziel sei: zu Gott hin, das hat unsere erste Betrachtung uns gelehrt; wie wir zu ihm hinkommen, wie wir in ihm bleiben, das soll die heutige uns lehren. Es ist der heilige Geist und die Wurksamknt seiner Gnade, welche den Sterblichen zu Gott führt und immer vollkommener zu ihm hinanführt, bis daß er in Gott ein neuer Mensch geworden ist. So werden wir denn nach diesem dritten Artikel mit einander erwägen, „wie der heilige Geist den Menschen zu Gott führe“, und zwar werden die einzelnen Stücke dieses dritten Artikels unseres Glaubens uns die Antwort darauf geben, nämlich: erstens durch die heilige christliche Kirche, zweitens durch die Vergebung der Sünden, drittens durch das ewige Leben. Nur das erste dieser Stücke werden wir heut erwägen und, so es Gott gefällt, in unserm nächsten Gottesdienste mit der Betrachtung der beiden andern unsere Betrachtungen über das apostolische Glaubensbekenntniß beschließen.

Wir sagen also: der Heilige Geist führt den Menschen zu Gott durch die von ihm gestiftete Kirche. So fragen wir uns denn zuvörderst: Was ist diese Kirche Christi und wie hat der Heilige Geist sie gestiftet? Dann aber lasset uns erwägen: inwiefern diese Kirche das Mittel sei uns zu Gott zu führen.

Wir hatten in unserer letzten Andacht das Erdenleben unseres Herrn an unsern Blicken vorübergehen lassen, unser geistiges Auge war ihm nachgefolgt, als er sich zum Himmel erhob, und zur Rechten des Vaters sich setzte. Von seinen Jüngern, als ihn die Wolke hinwegnahm, steht geschrieben: „sie aber beteten ihn an und kehrten wieder nach Jerusalem mit großer Freude.“ Wie? mit Freude, nachdem ihr Alles auf Erden von ihnen genommen war? Ja mit Freude; denn im Voraus war ihnen das Wort verkündet: „Ich will euch nicht Waisen lassen, ich komme zu euch; es ist noch um ein Kleines, so wird die Welt mich nicht sehen; ihr aber sollt mich sehen, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ Wohl möchte man, wenn man diese Worte liest, meinen, es sei von keinem andern Wiedersehen die Rede, als von dem nach der Auferstehung des Herrn; und doch wird so Ueberschwengliches von dem Tage jenes Wiedersehens verkündigt, daß man nicht anders kann, als an jenes geistige Wiederkommen und Wiedersehen denken, damals als der Heilige Geist ausgegossen wurde in ihre Herzen. Daß an dem Tage ihr Herz sich freuen sollte „mit einer Freude, die Niemand von ihnen nähme,“ daß an dem Tage „sie um nichts mehr ihn fragen sollten,“ hat der Herr ihnen verheißen (Joh. 16, 22. 23.); in jenen vierzig Tagen aber zwischen der Auferstehung und der Himmelfahrt, was sind sie in dieser Zeit noch für arme, rathlose Wesen gewesen! Er hat in seinen Abschiedsreden in dem Evangelium Johannes von dem Geiste, dem Tröster gesprochen und hat von diesem verheißen, daß er ihren Herzen Freude und Licht geben würde; nun spricht er von seiner eigenen Wiederkunft und sagt, daß diese der Tag der Freude und der Erleuchtung für sie seyn werde. Wie können wir nun anders glauben, als daß, wenn er von seiner Wiederkunft spricht, er eben von seinem Wiederkommen im Geiste spreche? Ja, Geliebte, dieser heilige Geist, der Tröster der Gemeinde Jesu Christi, er ist nichts anders, denn Christus selber, welcher die Beschränkung seines einzelnen irdischen Daseyns abgestreift hat, um nunmehr, wie er sagt, Wohnung zu machen in seiner Gemeinde und damit Allen gleich gegenwärtig zu werden. Darauf deutet der Evangelist hin, wenn er bei dem Worte des Herrn: „wer an mich glaubt, von deß Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen“ - wenn er bei dem Worte hinzufügt: „das sagte er aber von dem Geiste, welchen empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Heilige Geist war noch nicht da, denn Jesus war noch nicht verklärt.“ So war denn das seine Verklärung, als er abstreifte die sinnliche Hülle und wieder kam als der Geist, um bei den Seinigen im Geiste zu bleiben bis an der Welt Ende. Christen, fühlt ihr die Höhe dieser Wahrheit, daß derselbe, der dort in Galiläa wandelte in der Vergangenheit, verklärt worden und nun als der Geist der ewig Gegenwärtige ist für alle, die ihn suchen?

Christus nun im heiligen Geiste hat dir Kirche gestiftet. Was ist die Kirche? Die Kirche ist eine Gemeinschaft, und zwar die innigste Gemeinschaft, eine Gemeinschaft wie die der Glieder des Leibes. Das lebendigste Bild einer Gemeinschaft stellt uns der Leib dar; jedes Glied an ihm hat seine eigene Thätigkeit und doch würken sie alle zu einem gemeinsamen Zwecke, dieweil Ein Geist ist, der sie alle regiert und jedem für seine Thätigkeit die Kraft giebt. Ein solcher Leib ist nun die Kirche des Herrn, und zwar ist sie ein Leib des Herrn, das heißt: in diesem Leibe ist der Herr selbst die Seele. Ist es jemals euch so gut gewesen, eine solche Kirche des Herrn, eine solche Gemeinde aus Erfahrung kennen zu lernen? Eine solche christliche Gemeinde habt ihr vielleicht noch niemals gesehen, aber doch vielleicht eine christliche Familie; eine in der rechten auf Gott gegründeten Liebe verbundene Familie habt ihr wohl schon gesehen. Nun wohl, eine solche Familie ist eine Kirche Christi im Kleinen. O des seligen Bildes eines solchen Familienlebens, wo jedes Glied an seinem Theil in Liebe verrichtet, wozu es berufen ist, und wo in ihnen allen die ordnende und regierende Seele der Wille des frommen Familienvaters ist. Eine solche Gemeinschaft war die erste Gemeinde der Christen. So lange der Herr auf Erden wandelte, war noch keine Kirche. Hie und da hatte das Wort und das Werk des Herrn, als er noch auf Erden wandelte, in Galiläa und in Judäa Funken aus den Herzen geschlagen und ein Band der Liebe gestiftet; zur Zeit, wo der Himmel ihn aufnahm, standen alle diese Pflänzlein vereinzelt, es war noch kein Garten Gottes, denn das ist die Kirche. An jenem Tage aber des heiligen Pfingstfestes, da ist er wiedergekommen im Geiste zu den Seinigen, und die Seelen, die er vorher geweckt hatte, die hat er nun gesammelt. An jenem Tage, wo das Gottesfeuer in die Herzen herabfiel, da wurde die kleine Schaar der Hundertzwanzig, die in Christi Namen zusammen waren, zu einer Kirche vereinigt, da schloß sich Herz an Herz zusammen, und von dem an reichte alles, was in Galiläa und Judäa an den erhöhten Gottessohn war gläubig geworden, sich die Hand zum Bruderbunde. Nun waren die Gläubigen allzumal Ein Leib, und der Eine Geist, der sie regierte, war der Herr; und zum Zeichen dieser Einigkeit heißt es, daß sie alle ihre Güter und Habe verkauften und alle Dinge unter, einander gemein hielten. - Eine solche Gemeinschaft war eine heilige Gemeinschaft; eine solche Gemeinschaft war eine Gemeinschaft der Heiligen, und wenn unser Bekenntniß zu den Worten: „ich glaube an eine heilige Kirche“ hinzusetzt: „eine Gemeinschaft der Heiligen“, so will dieses nichts anderes sagen, als die vorhergehenden Worte, nur als eine Erklärung ist es hinzugefügt und in mehreren Berichten über dieses Bekenntnis) daher auch hinweggelassen.

Ist aber das zu verstehen unter, einer christlichen Kirche, mit welchem Rechte mögen wir nun noch allsonntäglich bekennen: „ich glaube an eine heilige christliche Kirche,“ das heißt, daß es auch jetzt noch eine solche giebt; ja wie mögen wir selbst von der „allgemeinen“ christlichen Kirche sprechen, gleichsam als ob dieser Bruderbund schon die Enden der Erde umfaßte? - In dem Sinne wie am Anfange giebt es ja freilich nicht mehr eine heilige brüderliche Gemeinschaft der Christen. Ach, hat doch auch diese kein einziges Jahr lang ein Leib bleiben können mit lauter lebendigen Gliedern! Lesen wir nicht schon bald nachher von dem Ananias und der Sapphira, welche in trügerischem Sinne dem Herrn gelogen hatten und von der Rache Gottes getroffen wurden? Ananias und Sapphira, sie sind die ersten todten Glieder an dem jugendlich frischen Leibe der ersten Kirche. Wie muß aber nicht nachher ein Paulus seine Stimme erheben und grollen über der Verderbniß der Gemeinden? Dennoch ist es derselbige Paulus, der von der Kirche in seiner Zeit spricht als von einem Leibe des Herrn, wo ein Glied am andern hanget „durch alle Gelenke und Christus das Haupt ist“, an dem er hinanwächst! Und doch ist es Paulus, der über alle Christenhäuslein, die damals gesammelt waren, hinruft: „Ein Herr, Ein Glaube, Eine Taufe, Ein Gott und Vater unser aller, der da ist über euch alle und durch euch alle und in euch allen.“ - Daß in der von ihm gestifteten Gemeinde in jenem Gottesgarten, den er das sichtbare Reich Gottes auf Erden nennt, nicht alle Pflanzen „solche seyn würden, die sein himmlischer Vater gepflanzt“, das hat der Heiland selbst vielfach ausgesprochen.

Ein Netz, so sagt er, soll das Gottesreich, die Kirche seyn, darin „allerlei Fische“ gefangen werden, und erst der große Entscheidungstag wird die todten von den lebendigen sondern. Wenn nun aber derselbige Mund nichtsdestoweniger bezeuget hat, daß auch die Pforten der Hölle die von ihm gestiftete Gemeinde nicht überwältigen werden, was ist hiemit anders gesagt, als daß, in welches Verderben diese Kirche auch sinken möge, ein Same der Gerechten übrig bleiben solle, ein „heiliger Same“, eine wahrhafte Gemeinde, in welcher sich erhalten solle der reine Glaube und die reine Liebe, die reine Lehre und das reine Sacrament. Und die Pforten der Hölle haben angestürmt gegen die Burg Gottes und es sind die Zeiten gekommen, wo fast der ganze Leib geschlagen war von der Sohle bis zum Scheitel und Schwären und Eiterbeulen trug, und doch hat der Herr an seinem Leibe sich lebendige Glieder erhalten, in denen die Gemeinschaft des Bruderbundes blieb, ein Israel Gottes, das seine Kniee vor keinem Götzen beugte. Und ist des Herr n Wort Wahrheit, daß in Ewigkeit nicht der Hölle Pforten über seine Kirche siegen werden, so müssen wir ja auch selbst dann, wenn unsere Seele nicht Eine verwandte Seele mehr fände, mit der sie beten könnte, glauben, daß dennoch der Herr eine heilige christliche Kirche auf Erden hat; ja selbst dann, wenn eine Zeit käme, wo diese Dome verödet ständen und dort am Altare des Sacraments der Priester einsam harrte mit dem Leibe des Herrn, den keiner begehrte, selbst in einer solchen Zeit müßten wir laut bekennen: „Ich glaube, ja ich glaube, daß auch jetzt noch mein Herr eine Kirche auf Erden hat, ein Israel Gottes, das seine Kniee keinem Götzen beugt!“ - Wenn nun ferner diese christliche Kirche in unserm Bekenntniß auch die „allgemeine“ oder, wie es in der Ursprache heißt, die „katholische“ genannt wird, so habt ihr dieses also zu verstehen. Als in jenen ersten christlichen Zeiten die Irrlehre hie und da in der Gemeinde auftauchte, da nannte sich die große Masse der Christen, welche der Lehre treu geblieben, die sie von den Aposteln empfangen, jenen einzelnen Irrlehrern gegenüber die allgemeine oder die katholische Kirche, so daß dieses Wort nichts anderes sagen will, als: die acht christliche Kirche mit apostolischer Lehre; wie denn auch unser Luther in seiner Uebersetzung des apostolischen Glaubensbekenntnisses das Wort „allgemeine Kirche“ nur verdollmetscht hat durch „christliche Kirche.“ Nachdem aber in jene allgemeine Kirche selbst in vielen Stücken der Irrthum eingedrungen war, so hat auch die Benennung der allgemeinen Kirche aufgehört, mit der Benennung der apostolischen Kirche ein und das, selbige zu seyn.

Und nun, nachdem wir den Sinn des Wortes verstanden, nun erhebe sich unter uns wer da glaubt, daß auch in unserer Zeit der Hölle Pforten die Kirche seines Herrn nicht überwunden haben, und zeuge laut aus fröhlichem Herzen: ja ich glaube, daß der Herr auch noch jetzt eine heilige christliche Gemeinde auf Erden hat! Ja, bezeuget das laut mit fröhlich-dankbarem Herzen, denn diese Kirche ist es, durch die der Heilige Geist, der sie gestiftet hat und der sie erhält, euch zu Gott führt. Und das ist die andere Wahrheit, die wir zu betrachten haben.

Der Heilige Geist führt uns durch die Kirche, die er gestiftet hat und erhält, zu Gott, denn die Kirche Christi ist die Mutter unsres Glaubens, denn sie ist es, der wir den Besitz der heiligen Schrift verdanken, ihr Verständniß und den Glauben. Aber wie, ist das nicht die Lehre der römischen Kirche, wenn wir die Kirche, die Gemeinde Christi, die er auf Erden hat, die Mutter unsers Glaubens nennen, wenn wir bekennen, daß wir die Schrift selber und ihr Verständniß der Kirche verdanken? Welches von beiden sollen wir sagen: daß die Kirche es sei, welche die Schrift gegründet hat, oder daß die Schrift es sei, welche die Kirche gegründet hat? Können wir aber läugnen, Geliebte, daß der Grundpfeiler der Gemeinde Jesu Christi schon längst gelegt war, als jene schriftlichen Zeugnisse entstanden, welche die Urkunden unseres neuen Testamentes bilden? Jene Schriften der heiligen Männer Gottes, was sind sie anders als die Zeugnisse des Glaubens, welche sie den Gemeinden abgelegt haben, damit, wie ein Johannes in seinem ersten Briefe schreibt, „ihre Freude vollkommen sei,“ damit, wie ein Lukas schreibt, „sie gewissen Grund erfahren möchten der Lehre, in der sie unterrichtet waren.“ Und ist es nicht die Verehrung und die Andacht der ersten Gemeinden gewesen, welche diese Zeugnisse uns aufbewahrt hat und bis auf unsere Tage herab überliefert? So ist denn also in Wahrheit die Schrift eine Gabe, die wir von der Kirche empfangen haben.

Es ist unläugbar, wie den Besitz der heiligen Schrift, so verdanken wir auch ihr Verständniß der Kirche Christi. Und nicht darin, werden wir bekennen müssen, ruht der Irrthum der römischen Kirche, daß sie die Kirche Jesu Christi als die Mutter des Glaubens bezeichnet, sondern darin, daß sie der römischen allein, welche doch nicht mehr die rein apostolische ist, dieses Vorrecht zuerkennt.

Ich sage: nicht blos den Besitz der h. Schrift verdanken wir der christlichen Gemeinde, sondern auch das Verständniß ihres Inhalts und den Glauben daran. Das erste, was wir zum Verständnisse der h. Schrift mitbringen müssen, das ist Ehrfurcht und Vertrauen. Oder ist nicht das Vertrauen zum Lehrer überall ein wesentliches Erfordernis, des Verständnisses desselben? Welch ein Unterschied, wenn ich dieses Buch in die Hand nehme wie jedes andere von den Millionen andern Büchern, und wenn ich es in die Hand nehme mit dem Gedanken: dies ist das Buch, aus welchem achtzehn Jahrhunderte die Keime der Bildung, der bürgerlichen Ordnung, des Familienglückes, die Ruhe der Gewissen, die Reinigkeit des Herzens genommen haben! wenn ich es in die Hand nehme mit dem Gedanken: dies ist das Buch, an dem meine Aeltern und Großeltern groß gewachsen sind, mit dem sie den Anfang ihrer Tage begonnen und das Ende ihrer Tage beschlossen haben, wo in den trüben Zeiten ihre Seele das Licht fand und in den müden Stunden die Kraft! Dieses vertrauensvolle Bewußtseyn um das Wort Gottes, wir verdanken es der Gemeinde und zunächst der Familie, welche, wenn des Herrn Geist sie erfüllt, ja nur eine Gemeinde im Kleinen ist. Sagt, war es nicht etwas Schönes, als vordem jedwede Familie ihre Familienbibel hatte, die vom Vater auf den Sohn vererbt war, und hat es nicht etwas Rührendes, wenn man in solchen alten Familienbibeln wohl auch manchmal noch ein Zeugniß des Vaters, der Mutter liest, das den Kindern verkündet, was ihnen das Buch in wichtigen Zeiten ihres Lebens gewesen? Ist auch mit jener alterthümlichen Einfalt der Sitten dieser Gebrauch verschwunden, ach ist leider vor tausend andern Büchern mit Menschenworten das Gotteswort in unzähligen Familien in den Schatten getreten: etwas von seiner heiligen Scheu und Ehrfurcht vor dem Worte Gottes hat doch wohl noch jedweder aus dem Schooße seiner Familie mitgebracht; und wäre er auch noch so sehr zurückgetreten, auch im Leben des Ungläubigsten kommen Stunden wo dieser Eindruck wieder wach wird, und wo der Mensch, dem alle Sterne dieser Welt untergegangen sind, doch noch einmal die Schrift in die Hand nimmt mit der scheuen Frage: und wie wenn dennoch? und wie wenn dennoch? -

Dieser allgemeine Eindruck ehrfurchtsvoller Scheu vor der Schrift, den ihr dem Leben in der christlichen Kirche verdankt, er bahnt den Weg hin zu einem großen Pallast. Doch ist diese Ehrfurcht nur eine Vorbereitung und wir sind damit noch nicht in den Pallast selbst eingetreten. Wo ist der Schlüssel, der ihn aufschließt? Bringen wir ihn mit in der eigenen Brust? Ja, den Schlüssel, der die Pforten des Verständnisses der heiligen Schrift öffnet, könnt ihr mitbringen; er heißt Roth, Seelennoth. Wo ein Mensch Seelennoth kennen zu lernen angefangen hat, da tritt er ein in das Geheimniß des Wortes Gottes. Ihr standet draußen in Sturm und Wetter und eure Seele sehnte sich nach sicherem Obdache: dieser Sehnsucht öffneten sich die Thüren, ihr tratet ein und habt nun ein sicheres Obdach, aber die Schätze in diesem Pallaste, die lehrt uns jene Seelennoth noch nicht verstehen. Unmöglich ist es, daß der einzelne Christ, und wäre seine Heilsbedürftigkeit auch noch so groß, die Reichthümer alle entdecke, welche Gott hier niedergelegt hat. Da aber kommt euch wiederum die Gemeinschaft der Kirche entgegen. Was der Geist des Herrn von seinen Geheimnissen den treuen Knechten Gottes aller Zeiten offenbart hat, das ist auch mein Eigenthum. Es ist eine wahrhaftige Gemeinschaft mit den großen Verstorbenen, in die wir eintreten, wenn wir die Gedanken und Gefühle kennen lernen, welche die Heilige Schrift von Anfang an in den Herzen der Männer Gottes geweckt hat. Mit Erhebung meiner Seele werde ich es mir bewußt, daß auch ich, schwach und ohnmächtig wie ich bin, ein Glied bin an dem großen Leibe Jesu Christi, daran ein jungfräulicher Johannes, ein selbstverleugnender Chrysostomus, ein geisteshoher Augustinus, ein demuthreicher Huß, ein glaubenskräftiger Luther und wie sie alle heißen mögen, lebendige Glieder sind neben mir. Zu dem, was der Geist aus ihnen redet, finde ich in meiner Seele das Amen und zu meinen geheimsten geistlichen Erfahrungen finde ich in ihren Worten die Belege. O etwas überschwenglich Großes liegt in dieser Einheit der christlichen Erfahrung, die durch alle Jahrhunderte geht und die uns die Gewißheit giebt einer Einigen alle Jahrhunderte umfassenden Gemeinde Christi. Und hätte ich jetzt auch weit um mich her nicht eine einzige Seele, mit der ich in Gemeinschaft meinen Heiland verehren könnte, und müßte ich würklich glauben, daß in dieser Zeit keine Kniee mehr wären, die vor meinem Herrn und Heilande sich beugen: jene geistliche Gemeinschaft bleibt mir. Es hat in einer glaubensarmen Zeit ein hochbegabter Dichter, Novalis, gesungen:

Von Liebe nur durchdrungen,
Hast du so viel gethan,
Und doch bist du verklungen,
Und keiner denkt daran.

Stellt es euch vor, daß das wahr werden könnte, stellt es euch vor, daß der Name Jesu, der Name, in dem allein Menschen selig werden, verklingen könnte auf der Erde, und keiner mehr daran denken -: und wär' ich als der Einzige auf der Erde übrig geblieben, der ihm die Thräne der Dankbarkeit weint, doch hätte ich eine Gemeinschaft, hätte eine Gemeinschaft mit den Anbetern von achtzehn Jahrhunderten und - wäre nicht allein! - Aber, sagt ihr vielleicht, das ist eine Gemeinschaft, die nur die Gelehrten haben, die nur diejenigen haben, welche würklich die Schriften aller jener Glaubenshelden lesen können. Aber ich sage euch: nein, auch das Kind, das Kind in der Schule und der Landmann hinter dem Pfluge hat an dieser Geistesgemeinschaft Theil, so lange es ein christliches Gesangbuch in den Gemeinden giebt. Denn hat nicht schon der Katechismus, der mich die ersten Blicke des Verständnisses in Gottes Wort thun ließ, hat nicht schon das Gesangbuch, in dem Hunderte von heiligen Seelen ihren Glauben und ihre Sehnsucht ausgehaucht haben, mich in Gemeinschaft gesetzt mit einer unsichtbaren Kirche, die durch alle Zeiten geht?

Doch, Geliebte, ein hoher Geistesschwung gehört dazu, bloß geistiger Weise dieser Gemeinschaft sich bewußt zu werden, wenn sie uns nicht auch im würklichen Leben entgegentritt. Ihr alle, die ihr die Gnade habt, an Jesum den Gekreuzigten als den Heiland eurer Seelen zu glauben, sagt, was erst recht mit lebendigem Griffel das Verständniß des Wortes Gottes und den Glauben daran in euer Herz schrieb, war es nicht der Anblick von Menschen, in denen ihr diesen Glauben verkörpert erblicktet? War es nicht der Anblick von Menschen, in denen Christus eine Gestalt gewonnen hat, war es nicht der Anblick von Menschen, denen auf der Stirn geschrieben stand: „Ich glaube, darum rede ich“? Ja Gottes Werk an einer Seele, Gottes Werk in seiner Gemeinde wirft erst das rechte Licht auf Gottes Worte. Ach wären sie uns allen auf unsern Lebensweg hingestellt solche Menschen des Glaubens und der Liebe, in denen nach dem tiefen Worte der Schrift „Christus eine Gestalt gewonnen hat“, ach wären wir Prediger zunächst Leute, die euch nicht blos sagten was Christenthum ist, die es euch zeigten: wie würde das Glauben und das Lieben uns so viel leichter werden! - Aber auch ihr, deren Glauben schon einen festen Anker geworfen hat, müßt ihr es nicht gestehen, daß fortwährend die Gemeinschaft mit denen, die eures Glaubens Genossen sind, eure Erkenntniß der Wahrheit fördert und verklärt? O in jenem lebendigen Austausche, wo jedweder ausströmt, was der Geist der Gnade ihm mitgetheilt hat, wo ein gemeinsames Geben und Nehmen zum Eigenthum Aller macht, was Einem gehört, da fühlt sich erst auf vollkommne Weise der Einzelne als das Glied eines geistigen Leibes, da erst wächst er an diesem Leibe hinauf bis zum Mannesalter dessen, der das Haupt ist, Jesus Christus.

O ihr Heiligen und Geliebten Gottes, führet so die Kirche Christi zu Gott, so laßt uns danach trachten, daß wir dieses Segens theilhaftig werden. Lasset uns jeder an seinem Theile die Kirche Christi bauen. Ihr zukünftigen Prediger, prediget von der Kraft der Teilnahme an den Segnungen der Kirche, erweiset euch selber als lebendige Glieder derselben, indem ihr den Leuten nicht bloß saget, was das Christenthum sei, indem ihr es ihnen zeiget! Aber ihr alle, bauet die Kirche Christi durch die Theilnahme am Gottesdienste, bauet sie in eurem geselligen Leben. Christus sei der Eckstein eurer geselligen Verhältnisse, Christus sei der Eckstein eurer Freundschaften, Christus der Eckstein eurer Ehebündnisse, Christus der Eckstein eurer Kindererziehung, Christus der Eckstein eures Glaubens und Hossens in Zeit und Ewigkeit! Amen.

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