Schopf, Otto - Vom Wachsen
(Unvollendete Notizen über Joh. 3,30)
„Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen ..“
Wachsen, das ist für uns eine wichtige Form, in der sich das Leben äußert. Die Pflanze wächst, das Tier wächst, der Mensch wächst, selbst der Bergkristall wächst. Und diesem Gesetz hat sich auch der Herr Jesus unterworfen; er nahm zu an Alter, wie an Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen. Uns so wie er äußerlich und innerlich wuchs, so wuchs er auch in seiner Bedeutung, und diese Tatsache war es, die die Aufmerksamkeit der Johannesjünger erregte, die aber dem Johannes nicht wie seinen Jüngern Unbehagen, sondern das freudige Zeugnis abnötigte: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen!“
Welcher Art ist aber nun das irdische Wachstum? Es strebt einem gewissen Höhepunkte zu, und wenn es den erreicht hat, dann geht es abwärts. Alles Wachstum ist nicht nur Lebensäußerung, sondern Sterbeprozeß. So kommt es, daß man nicht ohne Wehmut das Frühjahr begrüßen oder ein Kind betrachten kann. Auch die Größten unter den Menschen sind diesem Gesetz unterworfen: Sie nehmen ab! Auch der Heiland hat sich diesem Gesetz unterworfen: hinab ging Christi Weg! Aber indem er hineinging in diesen Weg hinab, in dieses Abnehmen, indem er von der Herrlichkeit schritt in die tiefste Erniedrigung, hat er das Wunder vollbracht und das Abnehmen zu einem Wachsen gemacht. Durch Erniedrigung zur Höhe, durch Geringsein zur Majestät, durch Armsein zum Reichtum, durch Sterben zum Leben!
In der Tat ist alles Wachstum in irdischer Beziehung nur möglich auf Grund eines Abnehmens. Die Blüte kostet der Knospe das Leben, die Frucht das Leben der Blüte. Der Sommer macht dem Frühling ein Ende, der Sommer muß dem Herbste weichen. Das Kind verschwindet, wenn der Jüngling oder die Jungfrau an seine Stelle tritt. Ein Leben bildet die Vorsprosse des andren. So ist denn auch alles Wachstum Kampf. Und auch das finden wir im Leben Jesu. Als er aufging als Sonne der Gerechtigkeit, mußte der Stern des Johannes erbleichen. Und das ist nun das Großartige an Johannes, daß er gerne Jesu Platz macht, daß er es als seine Aufgabe erkennt, als eine selige göttliche Notwendigkeit, die er als Gesetz anerkennt und freudig gut heißt: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen!“
Diese Stellung des Johannes war die einzig richtige, denn dieses Platzmachen war sein eigener Vorteil. Wenn der Mond vor die Sonne tritt, verdunkelt er sich selbst; wenn er in der rechten Stellung zur Sonne steht, dann leuchtet er in ihrem Licht. Alles Platzmachen einem höheren Leben gegenüber bedeutet ein Hinaufgenommenwerden, und unser Abnehmen unser Gewinn, denn ihn anschauend werden wir umgestaltet von einer Klarheit zur andern. -
Daß er wachsen muß, das sagt uns auch schon, daß es zuerst besonders langsam geht, wie das den irdischen Verhältnissen entspricht. Langsam ging es damals, als Jesus auf Erden war. Erst dreißig Jahre und dann drei dazu! Aber was ist nun in 1900 Jahren dazu gekommen! Mit welcher Stille setzt die Entwicklung ein, wie großartig wird sie danach! -
Und das Ziel des Wachstums ist sicher. Jesus muß wachsen, damit ist die Sicherheit seines Sieges ausgesprochen! Unser Abnehmen ist damit als sicher bezeugt, die Torheit des Widerstandes ist gründlich klargelegt. Das Wachstum zersprengt Felsen, es hebt die größten Lasten. - Jesus muß wachsen, dafür spricht Jesu Ursprung, Jesu Art, Jesu Gottes- und Menschenliebe, dafür spricht das Elend der Welt und die Ohnmacht Satans. In diesem allen liegt das „Muß“ des Wachsens Jesu. Er kann nicht anders als wachsen; die Kraft des göttlichen Lebens in ihm ist zu groß und gewaltig. Es kennt keine Hindernisse. Von seinen Kräften getragen vollzieht sich sein Wachstum in den Seinen. Da ist die Kraft des Wortes und das Leben des Geistes. Beides wird in der Gemeinschaft mit Jesu dem Gläubigen zu teil und läßt ihn wachsen in ihm. Die Kräfte des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung strömen von Jesu auf ihn über und treiben ihn hoch. Freud und Leid des Lebens wirken dazu als Sonnenschein und Regen.
„ICH“ muß abnehmen! - Wer war dieser „Ich“ zunächst? Der doch, von dem Jesus selber sagte, daß kein Größerer als er vom Weibe geboren sei, der, der ohne Zeichen und Wunder, allein durch die Macht seines Wortes das jüdische Volk in unbeschreiblichste Aufregung brachte und zu dem die Treuesten und Besten aufrichtig emporsahen …. Was wollen wir sagen, wenn ein Johannes abnehmen muß? - Warum muß aber auch dieser Mann abnehmen? Weil auch er ein Sünder ist, der durch seine natürliche Geburt nicht in das Reich Gottes hineingeboren ist. Wie viel nötiger wird uns - im Vergleich zu dem heiligen Wandel und Leben des Propheten im härenen Rock - Abnehmen und Wachsen in Jesu sein!
Und wie nahm Johannes ab? Indem Jesu Einfluß an Stelle seines Einflusses trat und Jesu Werk an Stelle seines Werkes. Nicht anders ist der Weg zum Abnehmen auch für die andern alle gewesen, die sich je Jünger Jesu nannten. Nicht anders ist er für uns. Petrus mußte abnehmen in seiner Meinung von sich, er mußte erkennen: „Ich bin ein sündiger Mensch!“, er mußte lernen, wie wenig er sich trauen konnte, er mußte abnehmen im eigenen Planen, er mußte lernen, sich nicht selber gürten, sondern sich von Jesu gürten zu lassen und hingehen, wohin er nicht wollte. Paulus mußte sein Damaskus haben, mußte seinem Können, Wissen und Wollen absagen, mußte lernen, in Jesu Kraft allein stark zu sein. O, in wie vielem müssen wir abnehmen! In unsern Wünschen und Begierden, im Geltenwollen und Seinwollen, in unsern Ansprüchen, in unserer Meinung von uns. Und das alles ist möglich vom Kreuze her, ist möglich durch den Geist, der aus Jesu kommt. Das ist der beste Christ, der ernstlich lernt und begehrt, mit dem Apostel zu sprechen: „So lebe nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir!“ Nicht ich bin etwas, sondern er soll alles in allem sein. - Schenke er uns solches Abnehmen, damit er in uns wachse.
Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1922