Schlatter, Adolf - Der Römerbrief - Kap. 9, 1-29. Das Recht Gottes zur Verwerfung Israels.
Ich habe große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen; das ist das nächste, was Paulus auf jenen jubelnden Triumph einer freudigen, gewissen Hoffnung folgen lässt, womit der erste Hauptabschnitt des Briefes schloss. Nun kommt gleich der tiefste Schmerz zum Ausdruck. Man möchte wohl fragen: wie hat beides so nah nebeneinander Raum? Eben darum bezeugt Paulus nachdrücklich die Wahrheit seiner Versicherung. Wenn er von seinem Schmerz um Israel spricht, so redet er in Christo, aus seiner Gemeinschaft mit ihm heraus, die sich mit Lüge und Täuschung nicht verträgt, und nicht nur seine Worte, sondern sein Gewissen, sein inwendiges Bewusstsein bezeugt seinen Schmerz, und dasselbe ist beleuchtet und gestaltet durch den heiligen Geist, Vers 1. Er erwartet, dass sie ihm sagen werden: „Du hast dich vom Gesetz gelöst und Israel ist dir versunken und verschwunden; du vermagst dich mit jener vollkommenen Hoffnung am Evangelium und seiner Frucht unter den Heiden zu freuen; aber uns tut das Herz weh um Israel.“ Nein, sie sollen wissen, dass auch er um sein Volk Leid trägt und auch ihn unablässig der Schmerz in der Seele brennt, wenn er Jerusalems gedenkt. Das ist innerer Reichtum, wenn das Herz so weit wird und scheinbar so entlegenes umspannt. Die wahre Freude in Gott macht zum Leiden nicht unfähig und unwillig; im Gegenteil: unsere Fähigkeit zur Freude und zum Leiden wachsen mit einander, und sie stören einander nicht, denn sie entspringen aus verschiedener Quelle: jener fröhliche Triumph bricht hervor aus dem Aufblick zu Gott, dieser Schmerz aus dem Blick auf die Menschen.
Wie viel verbindet ihn mit Israel! Bande des Bluts und der Natur, und auch sie schon sind kräftig und heilig, aber mehr noch, das herrliche Werk Gottes unter Israel, das darin gipfelt, dass aus ihnen Christus kommt nach dem Fleisch, der, dem die Anbetung gilt, weil er Gott in Erhabenheit und Macht über alles ist. Ein Israelite war's, von dem es heißt: Gott geoffenbart im Fleisch; Israel wurde der geschenkt, in dem die Fülle Gottes leibhaft wohnt. Und nun dennoch dieser Unglaube, dieses Widerstreben, diese bittere Feindschaft gegen Jesus, dieser Fall! Das lag als schwerer Druck und Schmerz auf der ganzen ersten Christenheit. Sie trugen Leid um Jerusalem nicht weniger als Jeremia auf den Trümmern der heiligen Stadt. Es gibt nun einmal kein zweites Volk wie Israel. Wie schwach und kümmerlich ist das, was wir an Liebe zu unserm Volke in uns tragen, weil wir es uns erst mühsam zum Bewusstsein bringen müssen, was ein Volk ist, dass die Völker nicht von ungefähr wachsen, sondern Gottes Gründung sind, dass wir nichts sind abgelöst von unserm Volk. Dem Israeliten stand dies in klarster Deutlichkeit vor der Seele. Sein ganzes Gut, auch sein Zutritt zu Gott hing daran, dass er Glied seines Volkes war und zu seiner Gemeinde gehörte, die Gott gegründet hat. Darum trat alle Kraft und Innigkeit seiner Liebe zu Gott auch hinein in die Liebe zu seinem Volk. Und nun hatten sich die jüdischen Gläubigen um Christi willen scheiden müssen von Israel und waren hinausgestoßen aus seiner Gemeinschaft. Sie mussten wieder den Weg Abrahams gehen, der Freundschaft und Vaterland verlassen musste, ja ihr Weg war noch schwerer als der Abrahams; denn sie verließen mehr als er. Das tat weh; aber wie rein und heilig bleibt dieser Schmerz. Er haftet nicht an dem, was sie selbst verlieren und opfern müssen; nein, sie trauern nicht um sich selbst, sondern nur um das Geschick ihrer Brüder, um die, welche zurückgeblieben sind in der ungläubigen Judenschaft.
Das war kein müßiger Schmerz, der nur in Klagen und Tränen bestand. Wo wäre ein Opfer, zu dem Paulus nicht bereit wäre für Israel? Er würde gerne für sie sterben, und nicht nur den leiblichen Tod, sondern auch sein Leben und seine Seligkeit in der Gemeinschaft mit Christo für sie willig opfern. Aber das ist ein unerfüllbarer Wunsch. Nicht der Mensch kann den Menschen von Schuld und Gericht erlösen und keiner für den andern stellvertretend eingehen in den ewigen Tod. Die Liebe kann nicht sterben. Christus stellt den nicht unter seinen Fluch und Bann, in dem sein Geist und seine Liebe so mächtig sind, dass er für andere verbannt zu sein begehrt. Eben dies gibt aber dem Schmerz des Apostels seine Schärfe, dass er vorerst für Israel nichts zu tun vermag.
Aber auch für diesen Schmerz gibt es Trost, und Paulus macht sich nun zum Tröster der Gemeinde in ihrem Leid um Israel, und die Weise, wie er's tut, 9, 6-11, 36, ist ein herrliches Muster und Vorbild dafür, wie man wahrhaft und gründlich trösten soll.
Er entfernt zuerst, Vers 6-13, die ungläubigen Gedanken aus jenem Schmerz. Es darf ihnen nicht scheinen, als wäre dieser Gang der Dinge ein Bruch des göttlichen Worts. Das brächte ein ungläubiges Murren und Auflehnung gegen Gott in ihre Trauer und gäbe ihr Bitterkeit. Der Jude hat kein Wort Gottes empfangen, das ihm wegen seines natürlichen Zusammenhangs mit dem heiligen Volk den Anteil an Gottes Gütern gäbe. Nicht darum weil er nach der Natur von Israel abstammt, ist er auch Israelite im geistlichen und göttlichen Sinn, und nicht darum weil er zu Abrahams Same gehört, ist er auch dessen Kind, so dass er auch Erbe seiner Verheißung wäre, sondern es gibt Nachkommen Abrahams, welche aus der Kindschaft ausgeschlossen sind, weil sie nur durch das Band der Natur mit ihm verbunden sind und nur Same Abrahams, nicht auch Kinder Gottes sind. Gottes Gabe ist nicht so ins Naturband hineingebunden, dass dieses für sich allein jene schon mit sich brächte. Das war eine Wahrheit, die Israel in der Schrift aufs klarste vorgehalten war. Es wusste, dass auch die von Abraham abstammenden fallen und verderben können. Auch die Rotte Korahs waren Israeliten und auch die zu Nebukadnezars Zeit von Gott verworfenen waren Same Abrahams. Was die Gabe Gottes dem Menschen zu eigen gibt, das ist Gottes eigene, freie Verheißung und Zusage, die allein Kinder Gottes macht.
Paulus geht auf den Anfang Israels zurück, auf die Weise, wie es von Gott geschaffen worden ist. Schon hier tritt aufs hellste ans Licht, dass Gott nicht gebunden ist an die natürliche Fortpflanzung des Bluts. Ismael war auch Abrahams Sohn, nicht nur Isaak, und doch wurde nur dieser Erbe des Segens. Was gab ihm den Vorzug? Gottes Verheißung, nichts anderes; ihm hat Gott seine Gaben nach seiner eigenen freien Entscheidung bestimmt und zugesagt. Noch auffallender tritt dies im folgenden Geschlechte bei den Söhnen Isaaks hervor. Ismael und Isaak standen einander noch nicht völlig gleich, da der eine nur der Sohn der Sklavin war. Aber Esau und Jakob stehen von Natur völlig auf derselben Stufe; ja Esau hat den Vorzug, da er der ältere ist und im Vorrecht der Erstgeburt steht. Dennoch wird nur Jakob zu Israel, und die Ordnung Gottes kehrt das natürliche Verhältnis um: der größere wird dienstbar dem kleineren. Wie ward also Jakob zum Vater des heiligen Volkes? Durch Gottes Bestimmung, und diese Bestimmung war eine Wahl, die ihn erkor und zu sich berief, nicht um deswillen was er selber war, nicht erst als Antwort auf seine Werke, sondern darum, weil Gott selbst ihn lieben wollte und ihm von sich aus eine Güte entgegenbrachte und erwies, die er Esau, und seinem Volk versagte, neben welcher Gottes Verhalten zu Esau wie Hass erscheint, weil er ihm seine Offenbarung verschloss und seine Hilfe entzog. Diese freie Wahl und Berufung Gottes ist allein der Grund und die Quelle, aus der Israels ganzer Vorzug und alle seine Gaben stammen; nicht aber kommen sie aus seinem Fleisch und Blut oder aus seinem eigenen Werke. Wenn also Christus jetzt der Judenschaft entzogen und ihr damit das Reich verschlossen ist, so ist das kein Widerspruch gegen Gottes Wort, sondern steht in vollem Einklang mit demselben. Es wiederholt sich damit nur dieselbe Handlungsweise Gottes, auf der Israels ganze Stellung ruht: Gott gibt seine Gaben, wem er will.
Die Gemeinde darf also nicht klagend und murrend sagen: Gott muss Israel zu Christus berufen, als hätte dasselbe darauf ein Recht, und der Jude darf nicht fordernd und pochend vor Gott treten, als wäre Gott gebunden an ihn. Ein solches Recht des Menschen, das Gott an ihn bände, gibt es nicht. Der Jude leitete dasselbe gerne von den Vätern her. Wenn ihm sein eigenes Verdienst als mangelhaft und unzureichend erschien, dann tröstete er sich mit dem Verdienst der Väter: „hilft mir Gott nicht um meinetwillen, so hilft er mir doch um der Väter willen; ihr Verdienst kommt mir zu gut“. Das ist alles Einbildung. Gott hilft dir nicht um deinetwillen noch um der Väter willen, sondern um seiner selbst willen, weil er dich in seiner eigenen Gnade beruft. Alle diese Ansprüche müssen fallen, und auch Israel muss sich völlig Gott ergeben, dass er an ihm handle nach seinem Vorsatz und nach seiner Wahl. Darin besteht die Ähnlichkeit dieses Abschnittes mit dem ersten Teil: hier wie dort fordert Paulus vor allem aus eine volle, ganze Ergebung, die sich vorbehaltlos in Gottes Hände legt, vgl. 3, 19. 20; auf sie erbaut sich alles, was er Israel zum Trost zu sagen hat.
Aber eben diese unbedingte Unterordnung unter Gott wird dem Menschen schwer und sein Herz ist voll von Einreden. „Gott wählt und beruft; dem einen gibt er, dem anderen nicht; ist das nicht Ungerechtigkeit?“ Die göttliche Antwort lautet: ich erbarme mich, des ich mich erbarme! V. 15. Ja, sein Handeln ist frei, ungebunden, durch ihn selbst bestimmt, aber es ist Erbarmung! Ist Erbarmen Ungerechtigkeit? Freilich liegt es nicht an meinen Entschlüssen und Vorsätzen noch an meiner Emsigkeit und Tätigkeit, sondern an Gott. Aber dieser Gott ist kein Tyrann, keine herzlose Macht, sondern er ist der Barmherzige. Was soll ich daraus folgern, dass ich mit meinem Heil und Leben auf den Gott geworfen bin, der nach seinem eigenen Erbarmen an uns handelt? Dies, dass ich ihm glaube, dass ich mein Vertrauen an ihn hänge, dass ich mich bittend an ihn wende, suchend und anklopfend bei seiner Barmherzigkeit. Das allein ist die gerade, richtige Folge dazu, dass wir auf Gottes freie Wahl und Erbarmung verwiesen sind.
Allerdings versagt Gott auch sein Erbarmen und verhärtet, wen er will, V. 17 u. 18. Wen er aber verhärtet, das zeigt die Schrift an Pharao, eben den, der sich nicht in Gottes Macht ergeben und vor ihm sich nicht beugen will, sondern sich mit Trotz und Pochen ihm entgegenstellt und mit dem eigenen Wollen und Laufen wider ihn anstürmt und ihn zu zwingen und zu überwältigen gedenkt. Der Tor! er meint, er leiste Gott Widerstand, und sogar die Härte, mit der er ihm widersteht, hat er von Gott. Gott gibt ihm das trotzige Herz, mit dem er prahlt, und den harten, unbeugsamen Nacken, dessen er sich rühmt; in seinem Kampf gegen Gott vollzieht sich Gottes Gericht an ihm. Auch so muss er ihm dienen und bleibt Werkzeug in Gottes Hand, durch welches dieser seinen Namen groß und herrlich macht. Das gilt nun auch von der Judenschaft, die Christo widersteht und das Evangelium verwirft: „eben dazu habe ich dich erweckt“. Sie durchkreuzt mit ihrem Widerstand Gottes Willen nicht, sondern vollführt ihn dadurch. Diese Härte des Herzens, mit der sie die Boten, welche sie zum königlichen Hochzeitsmahle luden, verachtet, misshandelt und getötet haben, war auch ein Werk Gottes, ein Werk seines Zorns, ein Werk des Richters, der ihre trotzige Überhebung über ihn an ihnen heimgesucht hat. Wie wir in der Heidenwelt die Offenbarung des göttlichen Zornes sahen, 1,13 ff., so zeigt sie uns hier der Apostel auch im Unglauben Israels; auch hier weist er auf jenes heilige, gerechte Wirken Gottes hin, das den Menschen auch in seine Sünde hinein begleitet und ihn festhält in derselben und sie in ihm vollendet und zur Reife bringt, dem Menschen zum Gericht. Und auch die Judenschaft hat wie Pharao durch ihren Widerstand gegen Gott nur das erreicht, dass Gottes Name verkündigt wurde in allen Landen und seiner Verherrlichung zum Werkzeug gedient. Sie kreuzigten Jesus, Gott hat ihn auferweckt; sie unterdrückten das Evangelium in Jerusalem, es brach in die Heidenwelt hinaus. Aber wie völlig und wie schmerzlich hat sich die Stellung Israels verkehrt, da es nun in Pharao sein Bild und Gleichnis hat!
Wenn Gott den Menschen in seinem Widerstreben und Unglauben verhärtet und ihm sein Erbarmen verschließt, was sollen wir angesichts solcher Gerichte tun? Gott fürchten und alle Überhebung vor ihm fahren lassen, und uns zu ihm flüchten, zu seiner Erbarmung.
Aber auch wenn der Mensch die Obmacht Gottes anerkennen muss, so grollt er doch innerlich weiter gegen ihn und klagt ihn an und beschuldigt ihn. „Dann trifft“, heißt es da, „uns kein Vorwurf mehr; Gott hats gewollt und ihm kann man nicht widerstehen; die Schuld fällt auf Gott“, Vers 19. Dieser grollenden, murrenden Unterwerfung unter Gott, die doch ihre Ansprüche an ihn festhält und Anklagen auf ihn wirft, antwortet Paulus damit, dass er uns die Macht Gottes nach ihrem ganzen Umfang vor Augen hält und uns zeigt, was wir durch unser Murren von ihm erlangen. Ja, du hast recht, wenn du sprichst: wer kann Gott widerstehen? Du liegst in Gottes Hand, wie der Ton in derjenigen des Töpfers. Lass es dir darum nicht einfallen, ihm widerstreben zu wollen und ihm Vorwürfe zu machen; bringe dieses vorwurfsvolle „warum? warum?“ zum Schweigen in dir. Der Töpfer kann allerdings aus seinem Lehm ein Kunstwerk machen, das hoch in Ehren steht und von allen geschätzt und bewundert wird; aber niemand zwingt ihn dazu, sondern er kann aus demselben Lehm auch ein gewöhnliches Geschirr bilden, das niemand achtet, und dem Lehm geschieht darin kein Unrecht, weil er alles, was er ist, durch den Töpfer ist. So ist am Menschen alles, was Gerechtigkeit und Leben heißen kann, Gottes Werk. Gleichwie die Kunst im Kunstwerk nicht aus dem Lehm stammt, sondern aus dem Künstler, der seine Kunst in den Lehm hineingebildet hat, also ist auch alles, was unser Gut und unsern Besitz ausmacht, von Gott in uns hineingeschaffen und hineingebildet und zwar durch Gottes Barmherzigkeit. Wir sind Gefäße der Barmherzigkeit. Weil uns Gott in seinem Erbarmen sucht und zu sich erhebt, darum werden wir Empfänger seiner Herrlichkeit. Aber auch Gott zwingt niemand zu seinem Geben; fordern kannst du nichts von ihm. Du kannst auch etwas anderes als Gnade an Gott erleben, nämlich dies, dass er dich zum Gefäß seines Zornes macht und dich dabei mit großer Langmut trägt, so dass du Raum zu all deiner Bosheit hast und ihm nach deines Herzens Lust widerstreben kannst, bis das Verderben kommt. Und das wirst du erleben, so gewiss du gegen Gott grollst und murrst und mit deinem Rechten und Pochen dich wider ihn erhebst, solange du sprichst: „warum beschuldigt er noch mich? ich kann ihm ja nicht widerstehen!“ Mit solchem Grollen und Hadern nötigst du Gott nicht, dich zu einem Gefäß der Barmherzigkeit zu machen, und bindest seinen Zorn nicht, der dich zum Verderben zubereitet. Hier hilft nur das, dass du dich wahrhaft Gott untergibst und Ernst machst mit dem Wort: wer kann ihm widerstehen! und eben darum nicht wider ihn murrest: warum beschuldigt er denn mich? sondern dich beugst vor dem Recht seines Zornes und bekennst: du bist gerecht, wenn du mich beschuldigest und rein, wenn du mich zum Gefäß deines Zornes machst.
So stelle sich der Jude vor Gott, statt, dass er wie der Pharisäer im Gleichnis vor ihn tritt!! Er erlebt jetzt Gottes Zorn und aus demselben Tone, aus dem Gott einst die Väter bildete zu Gefäßen der Ehre, die er mit seiner Erbarmung und Liebe überkleidete, bildet er nun Gefäße des Zorns, an denen er seine ganze richterliche Majestät zur Offenbarung bringt. Der Jude hat wohl recht, wenn er im Blick auf die Zöllner und Heiden, die Gott nun mit allen seinen Gaben beschenkt, sagt: sie sind nicht besser als ich. Gewiss! es ist derselbe Ton, aus dem Gott hier ein Gefäß der Barmherzigkeit, dort ein Gefäß des Zorns bereitet nach seinem eigenen Urteil und nach seiner Wahl. Aber hiergegen kann der Jude nicht protestieren; vielmehr macht ihn eben sein Protestieren zum Gefäß des Zorns. Israel lasse sich Gottes Handeln in einer wahren, aufrichtigen Ergebung wohlgefallen und nehme, was Gott ihm gibt. Es trete vor seinen Gott und spreche: ich habe Zorn verdient und wenn ich ihn tragen muss, so kann ich meinen Mund nicht auftun wider dich. Dann wird es erleben, dass es einen Erbarmer zum Gott hat, der mit Lust und von Herzen seine Herrlichkeit in die Gebilde seiner Schöpferhand niederlegt.
Der Apostel lehrt hier, dass der Mensch nichts hat und besitzt, womit er sich gegen den göttlichen Zorn schützen und decken und ihn von sich abwehren kann. In königlicher Obmacht stehen Zorn und Gnade über uns Menschen. Niemand fordert und zwingt der Gnade ihre Gabe ab, und niemand beschwört und bindet den Zorn. Nichts in der weiten Welt vermag ihn zu hemmen und zu stillen, als allein Gottes eigenes Erbarmen. Dagegen lehrt der Apostel nicht, dass Zorn und Gnade in Gott in gleicher Macht gleich ewig neben einander stehen, so dass Gott seinen Willen uranfänglich spalten würde in den Willen des Zornes, die einen zu verderben, und in den Willen der Gnade, die andern in die Herrlichkeit zu erhöhen. Gott ist aller Gott. Der Zorn ist Gottes Widerstreben und Widerstehen gegen die Bosheit. Darum verhält es sich mit dem Zorn nicht wie mit der Gnade, und was von dieser gilt, gilt nicht auch in derselben Weise von jenem. Die Gnade gibt nicht nach unsern Werken, sondern nach der Erbarmung dessen, der sich erbarmt; vom Zorn dagegen gilt nicht, dass er unabhängig sei von unsern Werken, sondern er vollzieht Gottes Recht wider das, was wir sind und tun, und erweist uns, was wir verdienen. Die Gnade hat und bedarf keinen Grund außer Gott; der Zorn hat seinen Grund nicht in Gott allein, sondern widerstrebt unserm Widerstreben gegen Gottes Recht und widersteht unserm Widerstand gegen Gottes Gnade. Die Gnade ist das schaffende; sie erzeugt die schöpferischen und erlösenden Gottesgedanken und vollführt sie durch ihr eigenes Wirken im Geschöpf. Darum ist sie das erste, völlig freie, anhebende. Der Zorn bereitet zum Verderben und zerstört; darum ist er nicht eine erste Wirkung Gottes, sondern dessen Gegenwirkung gegen das, was der Mensch wirkt. Gott verdirbt den Verderber und zerstört den, der Gottes Werk zerstört. Der Apostel wird uns sofort zeigen, womit Israel trotz seiner Frömmigkeit den Zorn Gottes gegen sich erweckt.
Paulus erläutert uns die Absicht Gottes bei solchen Gerichten. Er will seinen Zorn zeigen und sichtbar machen, damit es nicht bloß ein leeres Wort bleibe, dass er dem Bösen widersteht, Vers 22. Darum brechen je und je Tiefen der Sünde hervor, und der Mensch bekommt Raum und Macht zum Widerstand gegen ihn, und muss seine Bosheit haben, groß machen und vollenden, damit es der Mensch je und je mit Augen sehe, wie ernst Gott rächend und richtend der Bosheit entgegentritt, und mit welcher Schärfe er sie heimsucht. Zugleich stellt er so seine Macht ans Licht. Der Mensch ist rasch bereit zu sagen: „Gott kann das nicht geschehen lassen!“ So sprach auch Israel: „Gott kann uns nicht verstoßen, es ist unmöglich!“ Nun, darum zeigt uns Gott, was er kann, und lässt das Verderben fluten und alle Dämme und Schutzwehr, die wir dagegen erbaut zu haben meinen, wie Sandhäufchen wegreißen, und über alle solche Zerstörung und allen Widerstand der Menschen hinweg vollzieht er doch seinen Rat. Der Endzweck aber in allen solchen Zorneserweisungen ist der, dass Gott den Reichtum seiner Herrlichkeit kund tue an denen, denen er seine Barmherzigkeit gewährt, Vers 23. Auch diese Gerichte werden zum Mittel für das Werk seiner Gnade. Israel soll eine so sichtbare und eindrückliche Hilfe empfangen, dass sie ihm für immer zum Bunde mit Gott wird, so dass es sich für alle Zeiten an dem Wort aufrichtet: ich habe dich aus Ägypten, aus dem Diensthaus hinausgeführt; darum erweckt Gott den Pharao und hält ihn aufrecht in seinem Trotz und Widerstand, und er muss sich gegen ihn sträuben. bis zum roten Meer. Jesus soll sterben für sein Volk; darum erweckt Gott den Kaiphas und den ganzen Rat der Ältesten und gibt ihnen ein hartes Herz und eine eiserne Stirne bis hinaus nach Golgatha. Nicht anders verhält es sich mit der jetzigen Verstockung Israels. Die Gemeinde Jesu sollte wachsen unter allen Völkern, darum wurden Pharisäer und Schriftgelehrte blinde Führer eines blinden Volkes, welche dasselbe in die Grube leiteten. Niemals tritt Zorn allein aus Gott hervor. Auch jetzt fehlt es nicht an solchen, welchen Gott seine Barmherzigkeit erwiesen hat, dadurch, dass er sie zu sich rief, Vers 24. Nur darf der Jude dieselben nicht bloß in Israel suchen, sondern sie finden sich auch in der Heidenwelt. Und dies entspricht dem Wort der Schrift, welches von einer Gnade redet, die das, was nicht Gottes Volk war, zu Gottes Volk macht, und zugleich die ganze Schärfe des göttlichen Gerichts Israel in Aussicht stellt, doch auch hier so, dass die göttliche Erbarmung einen Rest des Volkes sich erhält und zum Empfang ihrer Gaben führt, Vers 25-29. So fällt in allen Wegen Gottes der Gnade die Regierung zu und auch der Zorn dient ihr bei ihrem Werk.