8. Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens.
Er hatte einen erblindeten Vater und einen mit der Fallsucht behafteten Bruder, sonst hatte er Niemand auf der Welt, mit dem ihn Blut oder Freundschaft verbunden hätte. Er ernährte sich selbst und den Vater und den Bruder mit Stundengeben, aber allzu viel Stunden konnte er nicht geben, den er trug die Schwindsucht mit sich umher.
In den Häusern, in welchen er unterrichtete, war er gern gesehn; denn er war nicht nur tüchtig und hatte viel gelernt und wußte wohl zu lehren, sondern er hatte auch eine gar freundliche, bescheidene und sanfte Art des Auftretens und des Umgangs. Auch in dem Häuslein der Hintergasse, in welchem er seine Miethswohnung hatte, war er bei Wirthsleuten und Miethsgenossen werthgehalten; und wenn er vom Stundengeben heimkehrend die Treppe zu seinem Stüblein heraufstieg und sich dann oben erschöpft und nach Luft ringend auf einem Stuhl niederließ, dann hielt die Frau Wirthin in der Regel schon eine Tasse Kaffee oder sonst etwas bereit für den armen jungen Mann zu seiner Labung und Stärkung.
Er hatte aber noch eine andere Labung und Stärkung. Im Gebet mit dem Herrn, seinem Gott, zu reden und aus der heiligen Schrift den Herrn, seinen Gott, mit sich reden zu lassen, das war ihm die allerschönste Labung unter der Last und Hitze seines kummervollen Lebens, das stärkte ihm seine Seele, wie geschrieben steht im schönsten der Psalmen: Und ob ich wanderte im finstern Thal, fürchte ich kein Unglück; denn Du bist bei mir; Dein Stecken und Stab trösten mich.
Doch sein Leibesleben wurde immer siecher und hinfälliger und die Zahl der Stunden, die er gab, immer kleiner und kleiner. Indessen verdiente er immer gerade so viel, als er zu des Leibes Nahrung und Nothdurft brauchte, zumal sein Vater und sein Bruder bald hinter einander von ihren Leiden erlöst worden waren. Er sehnte sich auch nach Erlösung, aus seinem kleinen Kämmerlein heraus nach dem großen, freien, schönen Himmelslande, wo es keine Schwindsucht giebt, wo man auch keine Stunden mehr geben darf, denn alle Stunden und Zeiten sind dort verschlungen von der seligen Ewigkeit.
Als er einmal an seine freundliche Wirthin die letzte Miethe berichtigt hatte, ging er hinein in seine Kammer und ging nicht wieder heraus, sondern die Wirthin und die Andern haben ihn gefunden, vor dem Bette knieend, das Haupt auf’s Kissen vorne über gebeugt, und vor ihm lag das neue Testament aufgeschlagen, das siebzehnte Kapitel des Evangeliums Johannis: „Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir seien, die Du mir gegeben hast, daß sie meine Herrlichkeit sehen, die Du mir gegeben hast“, das hatte er zuletzt gelesen, und so war er eingeschlafen, entschlafen. Er ist nun todt, sagten die Leute; aber ich meine, nun ist das rechte Leben für ihn erst angegangen.