4. Die rauschende See.
Rauschende See! Wogendes, wallendes Meer! Wie athmest du das Menschenkind so morgenfrisch, so lebenskräftig an! Wie tönt das alte und doch immer neue Lied deiner Wellen, so erinnerungsvoll, so ahnungsreich in’s Menschenherz hinein! Wie groß, wie schön bist du, rauschendes Meer.
Die Heiligen Gottes lieben dich, wogende, wallende See. Als Paulus von Troas aufbrach, wo er gepredigt und den Jüngling, der während seiner Predigt aus dem Fenster gefallen war, aus dem Tode in’s Leben zurückgerufen hatte, ließ er seine Gefährten auf dem Schiffe gen Assus voranfahren, er selbst aber, um sich bethauen zu lassen mit neuer Kraft, wanderte den Weg nach Assus allein am Strande des Meeres dahin, umhaucht von deinem Athem, rauschendes Meer, umsungen und umklungen von deinen Liedern, wogende See.
Die Heiligen Gottes lieben dich, wallendes Meer, und weil sie dich lieben, so trauern sie, daß in unsern Tagen so viele Gäste, die in dienen Wellen Heilung ihres siechen Leibes suchen, deinen reinen Strand entweihen mit mancherlei Unreinheit der staubumwirbelten Städte. Ach, jener Bußprediger hatte wohl Recht, da er einst am Meeresstrande vor einer großen Versammlung dörflicher Fischer und großstädtischer Badegäste eine Predigt hielt über das allererste Bibelwort: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ und den Badegästen in’s Gewissen schob, daß sie zum Dank für die leibliche Erfrischung, die sie aus dem Elemente der sündlichen Lust mitbrächten durch ihre See-Concerte und See-Bälle und sonstigen See-Vergnügungen. Könnt ihr durchaus nicht leben ohne Opernmusik und Ballscherze, so treibt das im Lande, aber entweiht nicht noch den stillen Strand durch eure laute Lust!
Die Heiligen Gottes lieben dich, unermeßliche, nimmer versiegende See. Und wenn die Mühe und Arbeit des Lebens auch ihnen die Glieder ermattet und die Seele abspannt dann eilen auch sie gerne an den Strand des Meeres, daß ihnen das Meer die Glieder erfrische und die Seele stähle. Da trifft es sich wohl oft, daß am Strande Kinder Gottes verschiedener Zungen sich begegnen, die so gern mit dem murmelnden Meere zusammen dem Herrn ein Loblied singen und können’s doch nicht zusammen thun, da es in unsern geringen Tagen nicht mehr ist wie am Tage der Pfingsten, sondern vielmehr wie am Tage, wo der babylonische Thurm einstürzte und Keiner des Andern Sprache verstand. Drei Männer, die den Heiland liebten, hatten sich so getroffen am Meer und wanderten am Strande dahin und nur einer war ein Deutscher, der andre war ein Niederländer und der dritte war weither gekommen, aus dem Caplande Afrika’s. Sie konnten wohl zur Nothdurft mit einander reden von dem Helfer in aller Noth, aber mit dem gemeinschaftlichen Singen wollte es lange nicht gehen. Schon neigte sich die Sonne ihrem Untergange zu und die abendlichen Schatten wurden länger, da stimmte der aus Afrika an: „Müde bin ich, geh‘ zur Ruh, schließe beide Aeuglein zu, Vater, laß die Augen dein über meinem Bette sein;“ dies Kinderlied war das einzige deutsche Lied, das er konnte, und der andere kannte es auch und sang mit, und der Deutsche sang es erst recht mit und die Wellen im Meer sie sangen es auch mit, feierlich rauschend im milden Abendroth.
Rauschende See! Wogendes, wallendes Meer!