Quandt, Carl Wilhelm Emil - Micha - Zweites Kapitel.
In Jesu Namen. Amen.
Daß die richtende Gerechtigkeit Gottes sich in Strafgerichten offenbaren würde, zuerst an Samaria und dem Zehnstämmereich, sodann an Jerusalem und dem Zweistämmereich, hatte der Prophet im ersten Kapitel in ernster Anschaulichkeit geschildert. Er hatte auch, Kap. 1, 5, kurz angedeutet, welches der dunkle Grund sei für das Hereinbrechen der göttlichen Zorngerichte, nämlich die Uebertretungen Jacobs, die Sünden des Hauses Israels. Diese kurze Andeutung führt er nun im zweiten Kapitel näher und weitläufiger aus, indem er einzelne Laster nennt und den ganzen krankhaften Volkszustand aufdeckt, dadurch die Gerichte herbeigezogen würden. Er hat bei dieser Schilderung vorzugsweise Jerusalem und Juda im Auge, mit denen er schon seit Kap. 1, 9 sich allein beschäftigt hatte. Und hier sind es nun vor Allem die Machthaber im Lande, denen sein strafendes Wort gilt. Im grellen Gegensatz zu der ernsten und scharfen Drohrede, die das zweite Kapitel enthält, erscheint in den beiden Schlußversen eine trostreiche Verheißung von einer neuen Sammlung und Zurückführung Israels zur Aufrichtung für die wenigen Stillen im Lande, die als zerstreute Weizenhalme unter all' dem Unkraut vorhanden waren.
V. 1. „Wehe denen, die Schaden zu thun trachten, und gehen mit bösen Tücken um auf ihrem Lager, daß sie es früh, wenn es licht wird, vollbringen, weil sie die Macht haben.“ - Die die Macht haben, sind die Fürsten und Großen im Lande; ihnen ruft der Prophet zuerst das Wehe zu und sagt damit: Ueber euch werden die Kap. 1 genannten Gerichte am schrecklichsten kommen. Nämlich nicht, weil sie die Macht hatten, sondern weil sie die Macht mißbrauchten, Schaden zu thun und Tücke zu vollbringen. Und zwar ist ihre Schändlichkeit um so ärger, da sie nicht in Uebereilung und ohne Nachdenken sündigen, sondern vielmehr mit großer und langer Ueberlegung zu Werke gehen, indem sie sogar ihre Nächte, die dem Herrn und der Ruhe gehören, zur Ausbrütung ihrer sündenvollen Pläne opfern. Die böse Leidenschaft beherrscht sie so, daß sie ihnen selbst die Ruhe und Feier der Nacht raubt. Psalm 36, 5 werden uns ähnliche Gottlose geschildert: „sie trachten auf ihrem Lager nach Schaden.“ Anders, ganz anders bringt der gläubige Mensch seine Nächte zu. Wenn in der Nacht nach dem Abendgebet der Schlummer seine Augen flieht, dann beschäftigen ihn solche Gedanken, wie die, denen der Sänger Tersteegen Ausdruck verleiht, wenn er sagt: „Nun schlafet man, und wer nicht schlafen kann, der bete mit mir an den großen Namen, dem Tag und Nacht wird von der Engel Wacht Preis, Lob und Ehr' gebracht; o Jesu, Amen.“
V. 2. „Sie reißen zu sich Aecker und nehmen die Häuser, welche sie gelüstet; also treiben sie Gewalt mit eines Jeden Hause und mit eines Jeden Erbe.“ - Wörtlich: „Sie treiben Gewalt mit dem Mann (d. h. dem Besitzer) und seinem Hause.“ Dieser Vers beschreibt, in welcher Weise das Böse, das die Mächtigen des Nachts gesponnen, an das Licht der Sonnen tritt. Sie haben in der Nacht gesündigt gegen das neunte und zehnte Gebot und das Feuer der unreinen Begierden nach des Nächsten Eigenthum in ihrem Busen geschürt; am Tage schreiten sie nun zur Ausführung und vollenden im Werk, was sie in Gedanken begonnen. Acker und Häuser waren die Gegenstände ihrer nächtlichen Gelüste, diese reißen sie nun zu sich und nehmen sie, indem sie Macht vor Recht gehen lassen. Eine sehr ähnliche Schilderung der Ungerechtigkeiten und Vergewaltigungen Seitens der Großen in Juda giebt der Prophet Jesaias Kap. 5, 8-10. Die Sünde Ahabs, der Naboths Weinberg an sich riß, ist zur Tagesordnung in Juda geworden. Wo es aber also steht in einem Lande, da ist die Herrlichkeit des Volks dahin, und es weht ein Geruch des Todes zum Tode, der die Adler anlockt. Glücklich ein Christenvolk, das solche Unbilden nicht zu tragen hat. Lasset uns Bitte, Gebet und Fürbitte und Danksagung thun für unsere Obrigkeiten, daß wir unter ihrem Schutze ein stilles und geruhiges Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.
V. 3. „Darum spricht der Herr also: Siehe, ich gedenke über dies Geschlecht Böses, aus dem ihr euren Hals nicht ziehen und nicht so stolz daher gehen sollt; denn es soll eine böse Zeit sein.“ - Darum, um dieses sittlichen und religiösen Verfalls willen, gedenkt der Herr Böses über dies Geschlecht (über das ganze Volk, dessen Sünde in der Sünde seiner Häupter gipfelt) und spricht diesen Gedanken durch den Mund seines Propheten aus. An und für sich können freilich von Gott, von dem lauter gute und vollkommene Gabe kommt, auch nur gute Gedanken kommen; sein Tichten und Trachten ist gut von Ewigkeit zu Ewigkeit; böse Gedanken kommen nur aus dem argen Herzen gefallener Creaturen. Das Böse, das der Herr gedenkt, wird nur so genannt, weil es den Bösen böse erscheint, in Wahrheit aber ist es fromm und gut: es sind die Gedanken des zürnenden Eifers Gottes wider den sündenvollen Muthwillen der Gottlosen, gleichwie es Jeremias 51, 11 von Gott heißt: „Seine Gedanken stehen wider Babel, daß er sie verderbe.“ So erscheint dem Verbrecher auf der Anklagebank böse, was der Gerichtshof wider ihn denkt und beschließt, während doch in Wahrheit die vom Gerichtshof nach Recht und Gerechtigkeit über den Verbrecher verhängte Strafe gut und gerecht ist. Das böse Verhängniß, das der Zorn Gottes über die Häupter Jerusalems schickt, schwebt dem Propheten vor als ein Joch, das den sich sträubenden Frevlern mit den Nacken gelegt wird wie störrigen Rindern, daß sie ihren Hals nicht herausziehen können und wider Willen gebeugt einhergehen müssen, sie, die zuvor einherstolzierten mit aufgerichtetem Halse. Es erfüllt sich au ihnen: Wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget werden. Eine böse Zeit soll es sein - böse für die Bösen, weil es ihre Strafzeit ist. Es kann auch für Gottesfürchtige böse Zeit geben, das ist dann solche Zeit, wo das Böse die Zeit beherrscht und erfüllt. In diesem letzteren Sinne spricht Amos 5, 13 von böser Zeit, wo das Verständige schweigen muß; in demselben Sinne ist jetzt böse Zeit, da die Liebe bei Vielen erkaltet ist und die Ungerechtigkeit Ueberhand genommen hat; ja in diesem Sinne ist die ganze Weltzeit seit dem Sündenfall eine böse Zeit, da die Welt im Argen liegt und die Sünde herrscht.
V. 4. „Zur selbigen Zeit wird man einen Spruch von euch machen und klagen: Es ist aus, wird man sagen, wir sind Verstöret. Meines Volkes Land kriegt einen fremden Herrn. Wann wird er uns die Aecker wieder zutheilen, die er uns genommen hat?“ - Zur selbigen Zeit, zu der bösen Zeit der Strafe, wenn die Großen und Mächtigen aus ihren geraubten Häusern und von ihren mit Frevel erlangten Aeckern fort in die Gefangenschaft geführt werden, werden die Heiden nicht blos ihre Häuser und Aecker in Besitz nehmen und vertheilen, sondern obenein noch über die gestürzten Herren sich lustig machen und zum Spott ihnen den Jammerruf in den Mund legen: „Es ist aus mit uns, wir sind nun verstört u.s.w.“ Der Satz: „Wann wird er uns die Aecker wieder zutheilen, die er uns genommen hat?“ würde in dieser Luther'schen Fassung eine Frage und Klage der Verzweiflung sein, des Sinnes: „Wann wird Gott uns wiedergeben, was er uns jetzt nimmt? Das wird nie geschehen.“ Der Satz, im Hebräischen etwas dunkel ist, erleidet auch eine andre Uebersetzung, nämlich die: „Wie nimmt er's mir und theilt unsre Aecker aus unter die Abtrünnigen/“ Die Abtrünnigen sind die heidnischen Eroberer, von Israel verachtet als von Gott Abgefallene und Verworfene; diese Abtrünnigen sind die Vollstrecker der göttlichen Strafe an Israel, das das Maß seiner Abtrünnigkeit voll gemacht hat.
V. 5. „Ja wohl, ihr werdet Kein Theil behalten in der Gemeine des Herrn.“ - So spricht Micha, der Herr durch Micha, zu den gottlosen Machthabern, das zukünftige Spottlied der Feinde zuvor bekräftigend. Die Gemeine des Herrn ist das Israel rechter Art, das trotz aller Gerichte und Gefangenschaften sich der großen Bundesverheißung von 5 Mose 30, 4. 5 getrösten durfte: „Wenn du bis an der Himmel Ende verstoßen wärest, so wird dich doch der Herr, dein Gott, von bannen sammeln und dich von dannen holen, und wird dich in das Land bringen, das deine Väter besessen haben, und wirst es einnehmen und wird dir Gutes thun und dich mehren über deine Väter.“ Da die gottlosen Machthaber innerlich von dieser Gemeine des Herrn sich abgelöst hatten, so war die natürliche Folge, daß sie auch äußerlich an ihren Vorzügen nicht Antheil haben konnten. Da sie Gottes Gebote mit Füßen traten, so beraubten sie sich damit auch selber des Segens der göttlichen Verheißungen. Es mußte ihnen gehen nach Psalm 37, 9: Die Bösen werden ausgerottet, die aber des Herrn harren, werden das Land erben.
V. 6. „Sie sagen, man soll nicht traufen, denn solche Traufe trifft uns nicht, wir werden nicht so zu Schanden werden.“ - In wörtlicher Uebersetzung lautet der Vers also: Nicht sollt ihr träufeln (d. i. weissagen), träufeln sie (nämlich die falschen Propheten); träufeln sie (nämlich die wahren Propheten) nicht diesen (d. i. den gottlosen Machthabern), so weicht nicht die Schmach (so bricht der schmachvolle Untergang unaufhaltsam herein). - Als Helfershelfer der gottlosen Gewaltigen in Juda wirkten falsche Propheten, die geistigen Bundesgenossen der rohen Gewalt. Diese Hofpropheten, die selber nur redeten, wie ihren Gönnern die Ohren juckten, warfen Micha die Härte seiner Reden ^ und behaupteten, daß dieselben unwürdig seien eines Gottes, der da gnädig und barmherzig sei. Sie redeten wider seine Weissagungen und verwarfen sie, indem sie heuchelten, daß ihr Reden und ihr Verwerfen aus dem heiligen Geiste wahrer Weissagung komme. Noch heute wird das Amt der Prediger der Gerechtigkeit besonders erschwert durch heuchlerische Menschen, die ihre eigene Weisheit für Gottesweisheit, ihr unheiliges Fleisch für den heiligen Geist ausgeben und rufen: Friede, Friede! und ist doch kein Friede.
Ach Gott, es geht gar Übel zu,
Auf dieser Erd' ist keine Ruh';
Viel Sekten und groß' Schwärmerei
Auf einen Haufen kommt herbei.
Den stolzen Geistern wehre doch,
Die sich mit Gewalt erheben hoch
Und bringen stets was Neues her,
Zu fälschen deine rechte Lehr'.
V. 7. „Das Haus Jacobs tröstet sich also: Meinest du, des Herrn Geist sei verkürzt? Sollte er solches thun wollen? Es ist wahr, meine Reden sind freundlich den Frommen.“ - Dieser Vers gewinnt sein wahres Acht erst durch die wörtliche Uebersetzung, die also lautet: „Sollte ich denn das Haus Jacobs aufgeben? Oder meinest du denn, daß des Herrn Geist unmuthig geworden sei? Pfleget also sein Thun zu sein? Sind nicht meine Reden freundlich mit den Frommen?“ Es sind das Worte, die der Herr selber spricht, und in denen er seine ernsten Drohungen gegen die Frevler rechtfertigt vor denen, die sie verachten. Würde Gott fünf gerade sein lassen und gegen die Sünden seines Volkes nicht in göttlicher Weise protestieren, so würde das nur ein Beweis sein, daß er das Volk Jacobs aufgegeben habe; denn ein Vater, der das ungehorsame Kind nicht mehr schilt, noch straft, liebt es auch nicht mehr. Aber das ist des Herrn Art eben nicht. Er redet mit Israel zum Zeugniß, daß er es nicht aufgegeben hat, vielmehr es zur Buße erwecken möchte. Daß er nicht freundlich redet, sondern eifrig, ist nicht seine, sondern des Volkes Schuld; es ist Gottes Lust, mit den Frommen freundlich zu reden - „Gott ist freundlich!“ wie oft wiederholen die Psalmen dieses Wort - aber an den Gottlosen wäre seine Freundlichkeit übel angebracht, dieselben würden dadurch erst gar in die schrecklichste Sicherheit eingewiegt werden; mit ihnen kann Gott nur scheltend und drohend reden, um durch solche Strenge und Schärfe sie, wo es möglich wäre, zur Umkehr zu bewegen.
V. 8. „Aber mein Volk hat sich aufgemacht, wie ein Feind; denn sie rauben beides, Rock und Mantel, denen, so sicher dahergehen, gleichwie die, so aus dem Kriege kommen.“ - Das Volk Israel, besonders in seinen mächtigen Vertretern, ist eben nicht fromm, daß Gott freundlich mit ihm reden könnte, sondern rebellisch; es hat sich vorlängst gegen den Herrn gestellt als ein Feind; denn wer sich an den Armen und Wehrlosen vergreift, vergreift sich an Gott selbst, der der Patron der Armen ist und dessen privilegierte Stände die Machtlosen bilden. Ach, daß alle Vergewaltiger der Armuth bedenken möchten, daß sie, indem sie den armen Bruder feindlich behandeln, dem großen Gott im Himmel als Feinde gegenübertreten. Sicher gehen die Leutlein in Israel daher, gleichwie Krieger, die aus dem siegreichen Kriege kommen und keines Ueberfalls mehr gewärtig sind –, Da überfallen die Gottlosen sie als Räuber und nehmen ihnen Rock und Mantel. Wenn aber so diejenigen Gott ein Gräuel sind, die den Nächsten leiblich ausplündern, welch' einen Abscheu müssen ihm denn doch diejenigen einfloßen, die den Nächsten geistlich ausplündern und durch lose Rede und falschberühmte Kunst ihm den Rock des Heils und den Mantel der Gerechtigkeit rauben, wie auch in unseren Tagen geschieht?
V. 9. „Ihr treibet die Weiber meines Volks aus ihren lieben Häusern und nehmet stets von ihren jungen Kindern meinen Schmuck.“ - Die Missethat der Gottlosen, die sie an den Wehrlosen verüben, offenbart sich in voller Schändlichkeit in ihrem Verfahren gegen die Wehrlosesten, die Frauen und Kinder, die wegen ihres Geschlechtes und Alters am leichtesten können geschädigt werden. Sie treiben die Weiber, jedenfalls solche, die des Schutzes von Männern entbehrten, also die Wittwen, aus ihren Häusern, in denen sie in stiller Behaglichkeit lebten; in diesem Stück waren sie die Ahnen der Pharisäer zu Christi Zeit, von denen der Heiland sagte, daß sie der Wittwen Häuser fressen. Sie nehmen den jungen Kindern, nämlich den vater- und schutzlosen, den Waisen, den Schmuck Gottes, d. i. den Schmuck, den Gott ihnen gegeben, ihr Erbgut, das ihnen nach dem Gesetz immer bleiben sollte; der Herr nennt die Gabe der Waisen seinen Schmuck, weil er der Vater der Waisen ist und sie ihnen gegeben. Wittwen und Waisen berauben, ist Teufelsdienst; Gottesdienst ist, Wittwen und Waisen in ihrer Trübsal besuchen. Die in diesem Vers gerügte dunkle Sünde wird ähnlich Jes. 10, 2 geschildert, wo es heißt, daß sie die Sachen des Armen beugen und Gewalt üben im Recht des Elenden, daß die Wittwen ihr Raub und die Waisen ihre Beute sein müssen.
V. 10. „Darum machet euch auf, ihr müsset davon; ihr sollt hier nicht bleiben; um ihrer Unreinigkeit willen müssen sie unsanft zerstöret werden.“ - Das Land Canaan war dem Volk vom Herrn zur Ruhe- und Bleibstätte verordnet. „Der Herr euer Gott wird euch das Land zum Erbe austheilen und wird euch Ruhe geben von allen euren Feinden um euch her und werdet sicher wohnen“, so war es 5 Mose 12, 10 verheißen. Aber die Erfüllung dieser Verheißungen war an eine Bedingung geknüpft: „Alles, was ich euch gebiete, das sollt ihr halten, daß ihr danach thut.“ 5 Mose 12, 32. Die räuberischen Großen erfüllten die Bedingung nicht, so kam ihnen auch die Verheißung nicht zu Gute; das Land blieb ihnen keine Ruhestätte, sie mußten auf und davon. Statt „Ihr sollt hier nicht bleiben u. s. w.“ heißt es wörtlich: Denn dies ist leine Ruhestätte, um ihrer Unreinigkeit willen muß sie unsanft euch verderben. Die Ruhestätte selbst wird zur Stätte der Unruhe und des Unheils, weil sie besudelt ist mit Sünden und die Sünde der Leute Verderben ist,
V. 11. „Wenn ich ein Irrgeist wäre und ein Lügenprediger und predigte, wie sie saufen und schwelgen sollten: das wäre ein Prediger für dies Volk.“ - Wörtlich: „Wenn Einer käme. Wind und Trug löge: Ich will dir weissagen von Wein und von Rausch trank! der wäre der Weissager dieses Volks.“ Irrgeister sind verführerische Geister, die Andern leuchten wollen und doch selber finster sind; im neuen Testament heißen sie auch Irrsterne, denen behalten ist das Dunkel in Ewigkeit. Micha ist nicht ein solcher windiger Verführer, darum kann und darf er nicht predigen, was das Voll gerne hören würde, Lust und Freude und Frieden trotz der Sünden und ohne Gericht; aber darf und kann er das nicht, so ist er darum doch nicht ausschließlich ein Unglücksprophet, vielmehr kann er im Namen seines Gottes Heil nach dem Gerichte für den durch das Gericht hindurchgeretteten bußfertigen Rest Israels (die Gemeine des Herrn von V. 5) ankündigen, und das thut er nun in den beiden Schlußversen des Kapitels:
V. 12. 13. „Ich will aber dich, Jacob, versammeln ganz und die Uebrigen in Israel zu Haufen bringen; ich will sie, wie eine Heerde, mit einander in einen festen Stall thun und wie eine Heerde in seine Hürden, daß es von Menschen tönen soll. Es wird ein Durchbrecher vor ihnen herauffahren; sie werden durchbrechen und zum Thor aus- und einziehen; und ihr König wird vor ihnen hergehen, und der Herr vorn an.“ - Wie weiland im Diensthause Egypten Israel wuchs und sich mehrete unter allem Kreuz und Elend, so soll auch nun wieder im Elende der Gefangenschaft Israel sich mehren und gesammelt werden - davon handelt V. 12. Und wie Gott weiland, als die Zeit erfüllet war, seine Hand ausstreckte und sein Volk aus Egypten heraufführte, also soll es auch geschehen, daß der Rest Israels aus dem kommenden Elend wieder befreit wird - davon handelt V. 13.
Jacob, dich ganz will ich versammeln und die Uebrigen in Israel zu Haufe bringen - unter „Jacob und Israel“ ist weder das Zehnstämmereich allein, noch Juda allein, sondern das ganze Volk, Israel und Juda, zu verstehen. Es soll ganz, so weit es übrig ist, d. h. so weit es durch die göttlichen Gerichte in Buße und Glauben sich hat hindurchretten lassen, gesammelt werden aus allen Gegenden, dahin es zerstreut ist, durch Gottes Barmherzigkeit zusammengebracht werden. - „Ich will sie, wie eine Heerde u. s. w.“ heißt richtig übersetzt also: Ich will sie zusammenbringen wie die Schafe Bozra's, wie eine Heerde auf ihrer Trift werden sie lärmen vor Menschen. Bozra (was Luther wiedergibt mit: Fester Stall) war eine Hauptstadt der Edomiter, vier Tagereisen von Damaskus, berühmt durch Reichthum an großen Heerden, welche gute Weide hatten auf der großen, weiten arabischen Ebene, die bei der Stadt begann, und viel Gesträuch und blühende Gewächse enthielt. An Menge soll der gerettete Rest Israels gleichkommen den Schafen Bozra's; das Getöse, was eine dichtgedrängte, zahlreiche Heerde hervorbringt, bildet trefflich ab das Geräusch, welches die Folge ist einer zahlreichen Versammlung von Menschen. - Diese Vergleichung der Uebrigen Israels mit einer Heerde, und des erlösenden Gottes mit einem Hirten, der sie sammelt, liegt zu Grunde der bekannten Verheißung Jes. 40, 11: Er wird seine Heerde weiden, wie ein Hirte; er wird die Lämmer in seine Arme sammeln und in seinem Busen tragen und die Schafmütter führen.
Zur Befreiung des gesammelten Volkes aber wird Einer vor ihnen herausfahren, welcher das Gefängnißthor einbricht, so daß die Gefangenen hinter ihm drein durch die Mauern des Gefängnisses brechen und zum Thore der Stadt, worin sie gefangen waren, aus und einziehen können, und ihr König wird vor ihnen hergehen nämlich nach Jerusalem), ja der Herr vorne an. Bei der Befreiung aus Egypten zog Moses als Durchbrecher an der Spitze Israels einher; so wird auch für die zukünftige Befreiung Gott einen Durchbrecher erwecken und ausrüsten. Die Erlösung aus der babylonischen Gefangenschaft war nur ein schwaches Vorspiel der Erfüllung dieser gnadenreichen Verheißung; und Serubabel, der in Verbindung mit dem Hohenpriester Josua 42,360 Mann aus der Gefangenschaft nach Jerusalem führte, war nur in sehr beschränktem Sinne ein Durchbrecher. Der Durchbrecher, der zugleich des Volkes König und Gott ist, wie Micha ihn bezeichnet, ist Niemand anders, als unser Heiland Jesus Christus. Den Messias haben auch jüdische Ausleger hier unter dem Durchbrecher verstanden; und die letzten Worte des Kapitels lassen keinen Zweifel, daß der Messias gemeint sei. Erst Christus, unser Herr, hat das Thor des Gefängnisses ganz eingebrochen, und nur die Ihm nachfolgen, gelangen zur ganzen Befreiung. Die Befreiung aus dem Kerker Babels war selber nur eine Weissagung auf die ewige Erlösung durch das Blut des neuen Testamentes.
Diese trostreiche Weissagung Micha's vom Durchbrecher ist der biblische Grund des herrlichen Liedes von Arnold, dessen erster Vers lautet:
O Durchbrecher aller Bande,
Der du immer bei uns bist,
Bei dem Schaden, Spott und Schande
Lauter Lust und Himmel ist;
Uebe ferner dein' Gerichte
Wider unsern Adamssinn,
Bis uns dein so treu Gesichte
Führet aus dem Kerker hin.
Gott helfe uns, daß dieser Durchbrecher aller Bande allezeit auch unser Führer sei. Wenn wir uns in Demuth beugen unter seine Gerichte wider unsern Adamssinn, so wird er uns auch hindurchretten durch alle Leiden dieser Zeit und uns endlich auch durch die geöffneten Thore des Todes einführen in das obere Jerusalem als unser König und unser Gott. Wer aber verharret in Sunden und in der Hartnäckigkeit wider den Herrn, wird keinen Theil behalten in der Gemeine des Herrn, sondern zu Schanden werden ewiglich. Davor behüte uns, lieber himmlischer Vater, und stärke unfern Glauben an Jesum Christum, unfern großen Durchbrecher, so werden wir mit ihm durchbrechen und, durch ihn erlöst, einst sein wie die Träumenden. Amen.