Lang, Heinrich - 5. Das Ewige im Vergänglichen.
Prediger Salomo 1, 14:
Ich sahe an alles Thun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war Alles eitel und Jammer.
„Ach! wie nichtig, ach! wie flüchtig
Ist der Menschen Leben!
Wie ein Nebel bald entstehet,
Und auch wieder bald vergehet.
So ist unser Leben, sehet!
Ach! wie nichtig, ach! wie flüchtig
Sind der Menschen Sachen!
Alles, Alles, was wir sehen.
Das muß fallen und vergehen;
Wer Gott hat, bleibt ewig stehen,“
So, meine christlichen Freunde, singt ein christlicher Dichter. Die Vorstellung von der Hinfälligkeit und Nichtigkeit der menschlichen Dinge ist keine von denjenigen, die wir erst in die Leute hineinpredigen müßten; „Alles ist eitel!“ so hören's wir ja sowohl aus dem Munde des genußsüchtigen Weltmenschen, dem aus dem Kelche der Lust an seinem Lebensende Uebersättigung und Ueberdruß schäumt, als aus dem Munde des Frommen, der sich weltverachtend in ein anderes Leben hinübersehnt. Aber den Meisten von Denen, die so laut klagen über die Eitelkeit der Welt, dürfte zugerufen werden: Erkennet doch vor Allem, daß eure Klagen über die Nichtigkeit der Welt unter allem Nichtigen das Nichtigste sind. Wendet auf eure Seufzer und Klagen das Wort des Predigers an: Alles unter der Sonne ist eitel. Es gibt eine Frömmigkeit, die nach dem Ausdruck eines kräftigen Predigers unserer Zeit „den Himmel anweint und der Erde den Rücken kehrt,“ die dem Ewigen nur wie einem Schatten nachjagt und dasselbe nie erreicht, die Gott und Welt als zwei Verhältnisse ansieht, von denen das Eine nur drüben, das Andere nur hüben ist; so bleibt natürlich diese Welt immer geist- und gottlos, durchaus nichtig und eitel, wie der Leib, vom Geiste verlassen, nur Staub und Asche ist.
Lasset uns den Klagen über die Nichtigkeit des Menschenlebens entgegensetzen dessen Wichtigkeit, indem wir betrachten
Das Ewige im Vergänglichen.
1.
Gehen wir den Klagen über die Nichtigkeit alles Irdischen weiter nach, so finden wir, daß sie sich zuerst richten auf die Beschaffenheit der menschlichen Arbeiten, Geschäfte und Sorgen. Wie eng und beschränkt ist der Kreis der täglichen Sorgen und Mühen, in dem sich das Leben der meisten Menschen von der Wiege bis zum Grabe bewegt; welches ermüdende Einerlei; welche geisttödtende Gleichförmigkeit! Wie nichtig also und eitel die menschlichen Arbeiten und Sorgen! Freilich sind eure Arbeiten und Geschäfte eitel; eure Arbeiten sind euch Gewohnheitssache, eure Religion ist euch Gewohnheitssache; ihr arbeitet im Schweiß eures Angesichts, und daneben müsset ihr auch beten. Ihr machet eure irdischen Geschäfte ab und daneben müsset ihr auch „Gottesdienst verrichten;“ darum bleiben eure Arbeiten, wie eure Religion, herzlos und geistlos; ihr vermöget nicht, die ganze Wärme eures Herzblutes in dieselben zu legen, die Glut der Liebe denselben mitzugeben und den Stempel des Ernstes aufzudrücken,– mit einem Wort: ihr verstehet es nicht, im Vergänglichen das Ewige zu finden und darzustellen. Wohl sind sie einförmig, an sich selber klein und unbedeutend, daher scheinbar nichtig die Geschäfte und Sorgen z. B. einer Gattin und Mutter; jeden Morgen und Abend die gleichen Geschäfte und Mühen, fast jede Woche die gleichen Begegnisse, ein enger, eintöniger Kreis des Lebens fürwahr! Aber welch ein ewiger Inhalt läßt sich in diesen Kreis einschließen, wenn die Liebe zu Gatten und Kindern ihr die Hand bietet; die Geduld, die den Schwachen trägt, die Freundlichkeit, welche den Müden erquickt, die Hoffnung, welche den Gedrückten erhebt, die Sanftmuth, mit der sie in Allem waltet, die Zartheit und Milde, mit der sie immer unvergängliche Rosen in das vergängliche und wechselnde Leben hineinzuflechten weiß. Wie werden da alle Geschäfte nicht bloß verschönert, sondern auch erleichtert. O trage das Ewige nur erst in deinem eignen Herzen klar und lebendig, so wirst du Alles, was du thust, auch das scheinbar Unbedeutende, mit demselben berühren, überhauchen, durchdringen; habe den heiligen Geist nur kräftig in dir, so wirst du, ob hoch oder niedrig gestellt, alle Formen des Lebens, die dich umgeben, in Familie, Kirche und Staat mit dem Hauch des Geistes und dem Odem des ewigen Lebens durchdringen; lege nur die ganze Kraft deines sittlichen Wollens und deines liebenden Herzens in die Verhältnisse, in die du hineingestellet bist, so wirst du einen solchen Gottesfrieden, eine solche Freude im heiligen Geist, eine solche innere Befriedigung erfahren, daß du mit Klagen über die Eitelkeit des Lebens nicht mehr zu viel Zeit verschwendest.
Aber das macht den Menschen oft so unzufrieden mit sich und der Welt, daß er die gottgesetzte Schranke nicht lieben lernt, sondern immer in's Maßlose strebt und sein Glück in unerreichbaren Fernen sucht; sich beschränken müssen, macht sittlich; sich beschränken können, macht glücklich. Lebe im Ganzen; aber lerne lieben und achten die Schranke, die Gott um dich gesetzt hat. Schaue nicht mit neidischem Auge auf die Gebiete des menschlichen Lebens, die deiner Kraft verschlossen sind; beneide Andere nicht um ihre Gaben, Talente und Stellung, und meine nicht, wenn du auf ihrer Stufe ständest, so würdest du glücklicher sein. Das Ewige und Göttliche läßt sich im kleinsten Raume finden und darstellen, wie im größten; für die Erreichung des höchsten Zieles, das dem Menschen gesteckt ist, kommt es nicht an auf dieses oder jenes, was der Eine vor dem Andern voraus hat, die Sittlichkeit ist zu einem Gemeingut aller Menschen bestimmt und nur in ihr ruht dein Werth und darum dein Glück. Die Mutter, welche Leben und Tod nicht achtet, um ihren Säugling am Leben zu erhalten, und süße Lust findet an ihrer großen Last, sie ist so groß, als der Fürst, der über Tausende wacht oder der Feldherr, der sein Leben dem Vaterland weiht. Wer im Schweiße des Angesichtes das ehrliche Brod sucht für sich und die Seinen, trägt denselben Gottesfrieden in sich, wie der in hoher Stellung Arbeitende. Der Herr im Gleichniß spricht zu dem Knecht, dem er fünf Centner gegeben, wie zu dem Andern, dem er nur drei verliehen hatte, die gleichen Worte: „Ei du treuer und frommer Knecht, du bist über Wenigem treu gewesen, gehe ein zu deines Herrn Freude.“ Fülle nur Jeder den Platz aus, den ihm Gott angewiesen hat, und gelange Jeder von dem Punkt aus, wo er steht, zur Anerkennung des göttlichen Gesetzes, so wird das Himmelreich, d. h. das Ewige im Vergänglichen, von selber kommen.
2.
Aber die Klage über die Nichtigkeit der Dinge trifft nicht nur die Beschaffenheit der menschlichen Arbeiten und Geschäfte, sondern auch deren Erfolg. Müde und verdrossen steht hie und da ein Wanderer zum Grabe still und sieht zurück auf die durchwandelte Bahn seines Lebens; so manche glänzende Aussicht seiner Jugend, so mancher schöne Lebensplan, so manche lange genährte Erwartung - wie leichte, schwebende Morgenwolken sind sie verschwunden in der schwülen Mittagshitze des Lebens; so manche heiße 'Thräne hat er einem unerbittlichen Schicksal geweint, so manche angstvolle Klage der verwehenden Luft geklagt, so manches mühsam vollendete Werk der schnellen Vergänglichkeit zum Opfer hingestellt! Unmuthsvoll ruft er: „Da ich ansehe alle meine Werke, die meine Hand gethan hatte, siehe, da war es Alles eitel und Jammer!“ Wie, Alles eitel und Jammer? ich denke doch nicht. Siehe, auch die Natur wirft manches edle Samenkorn aus, das sich nie entwickelt, und doch geht unter der Sonne nichts ohne Spur verloren. Und so weiß Gott auch jedes ausgestreute Samenkorn des Guten, das du spurlos verloren glaubtest, an irgend ein Plätzchen zu legen, wo es in stillem verborgenen Segen wirkt, im Segen sowohl für dich, der du es ausstreutest, als auch für die Welt. Für dich selbst: wohl geht manches Werk deiner Hände zu Trümmern, aber unter den Trümmern des Aeußeren bist du selbst stark geworden am inwendigen Menschen; wohl bleibt Manches nur im Keim, aber in dir selbst ist die herrliche Frucht der Geduld und Erfahrung ausgegangen; darum täuschen den Jüngling so manche Hoffnungen, denen er noch unklar das sichere Herz hingegeben hatte, damit er zum klar und kräftig wirkenden Manne heranreife; darum zerrinnt dem Manne so manches Werk unter der schaffenden Hand, damit der Greis, befreit von den Täuschungen des Wechselnden und den Banden des Vergänglichen, ruhig und sicher in Gott wurzele. O wie oft begegnet uns dasselbe, was dort von den Aposteln erzählt wird(Joh. 21, 1-14): eine ganze Nacht durch hatten sie die Netze ausgeworfen und am Morgen mußten sie sich bedenklich gestehen: wir haben umsonst gearbeitet; aber unter dem erschien eine Anfangs unbekannte Gestalt am Ufer, da erkannte sie zuerst der Jünger, den der Herr lieb hatte; „es ist der Herr,“ flüsterte er dem Petrus zu; „es ist der Herr,“ riefen Alle in freudiger Ueberraschung. Oft, wenn wir vergeblich gearbeitet und alle Mühe und Liebe angewendet haben, um ein theures Leben vom Tode zu retten, da lernt das blutende Herz ausruhen in Dem, der alles Andere ersetzt; oft, wenn wir Jahre lang gearbeitet haben und doch Noth und Unglück alle fröhliche Aussicht versperrt, da lernt das Auge schauen nach den Sternen einer ewigen Welt, der Glaube regt seine Flügel und innen ist es hell geworden. So geht ja unter der äußeren Erfolglosigkeit unserer Arbeiten das schöne Wort an uns in Erfüllung: „Die mit Thränen säen, werden mit Freuden ernten.“
Aber nicht bloß für dich, der du es ausgestreut hast, sondern auch für die Welt außer dir geht kein Samenkörnlein des Guten verloren. Das Gute ist ewig, auch in Trümmern; das Gute ist unzerstörbar, selbst im Keime; es geht nicht verloren, ob's auch eine Zeit lang verborgen bleibt. Sehet an die Männer aller Zeiten, die wie Berge Gottes da standen gegen den Strom des Verderbnisses und wie Leuchtthürme auf dem finstern, empörten Meere gottloser Zeiten. Zwar konnten sie den Strom nicht aufhalten, sie fielen selbst gar als Opfer der entfesselten Mächte des Bösen, Unwissenheit, Finsterniß und Rohheit brach unaufhaltsam herein über die Völker. Aber ist darum ihre Arbeit verloren gewesen? Das Blut der Märtyrer war der Same der Kirche; die Erinnerung an sie unterhielt in der Nacht der Zeiten das Verlangen nach besseren Tagen; die Tapferkeit, mit welcher die Treuen dem hervorbrechenden Strome Widerstand leisteten und ausharrten bis an's Ende, stärkte spätere Geschlechter zu neuem Kampf. So hatte ja ein Stephanus, unter den Steinwürfen der Feinde niedergesunken, das Schwert des Glaubens niederlegen müssen; aber Paulus hob es auf, um es noch kräftiger zu schwingen, und das Blut Stephani war die Aussaat gewesen, aus welcher diese Freudenernte emporsproßte; die Anschauung seines Engelsangesichts und seines brechenden Blickes, die Anschauung seines Glaubensmuthes und seiner Heldenstärke, die Anschauung seines versöhnten Herzens und seligen Entschlafens - das waren die Saatkörner, welche die stille Hand Gottes in das Herz eines Saulus niederlegte. Und siehe, als der Ruf an ihn erging: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ und als die kalte Eisrinde an seinem harten Herzen schmolz, da blühte die Aussaat auf und brachte Früchte zum ewigen Leben. „Die Edeln sterben früh,“ sagt das Sprichwort, aber laßt uns ihnen nicht nachtrauern in unthätigem Schmerz, die Hülle, das Vergängliche über Gebühr festhaltend, sondern ihren Geist in unser eigen Blut verwandeln, daß sie vor uns vorangehen und uns zeigen, das Ewige zu suchen im Vergänglichen.
3.
Aber hieran knüpft sich eben die dritte Klage über die Nichtigkeit des Menschenlebens: So viel Leiden, so viel Trübsal, so viel Kreuz, und endlich das letzte und bitterste, der Tod. „Es ist ein elend jämmerlich Ding um aller Menschen Leben, bis sie in die Erde gelegt werden, die ihrer Aller Mutter ist, da ist Nichts als Furcht, Hoffnung und zuletzt der Tod.“ „Wir müssen Alle durch viel Trübsale in's Reich Gottes eingehen.“ „Jeder Tag hat seine Plage.“ Und neben dem allgemeinen Kreuz, das allen Menschen gemeinsam ist in verschiedner Weise, so daß selbst Einer der Glücklichsten unter den „Weltkindern“ von sich sagte, er sei nicht drei Tage hinter einander ungetrübt glücklich gewesen, bringt das Christenthum noch ein besonderes Kreuz mit sich, indem es den Geist aus den Fesseln der ihn umschlingenden Sinnlichkeit befreien und so die zwei Gesetze im Menschen zu einem Kampf bis auf's Blut erregen will, indem es uns außerdem durch die rückhaltslose Tugendübung, die es verlangt, oft in einen Kampf verwickelt mit der „Welt,“ die nun ihre Thoren und ihre Weisen, ihre Schwächlinge und ihre Bösewichte gegen uns aufstellt. Da erfahren wir oft, daß es dem Jünger nicht besser geht, als dem Meister, welcher, obwohl er hätte mögen Freude haben, doch das Kreuz erduldete; da seufzen wir oft schwer unter der Knechtschaft des Vergänglichen und möchten oft nur die ersten Stufen der gebrochnen Freiheitsbahn erblicken. Nur durchgebrochen! die Freiheitsbahn wird sich öffnen; der Glaube wird auch hier die Welt überwinden; das Vergängliche wird auch hier verschlungen werden in den Sieg des Ewigen. Hört ihr's rufen: „Ich bin frohen Muthes in Schwachheiten, bei Schmähungen, in Nöthen, in Verfolgungen, in Aengsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, bin ich stark“ (2. Cor. 12, 10); wenn der aeußere Mensch verweset, so wird der innere erneuert und verklärt. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen; wir haben Trübsal, aber wir ängsten uns nicht; wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um; wir tragen allezeit das Sterben Christi an unserm Leibe, auf daß auch das Leben des Herrn an uns offenbar werde (2. Cor. 4, 8. 9.). „Darum, wer kann uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Schwert? In dem Allem überwinden wir weit um dessen willen, der uns geliebet hat (Röm. 8, 35 f.).“ Wer ruft so? ein Menschenkind, wie wir, derselben Dürftigkeit und Armuth des Lebens, denselben Schwachheiten, Versuchungen und Gefahren wie wir unterworfen; und das sind nicht etwa rednerische Bilder und hohe Worte, sondern es sind Thaten. So hat er, so haben Viele nach ihm gelebt, und so sind sie gestorben, selig in Gott, im Besitz des ewigen Lebens schon hienieden. So stehst du also Nicht allein, Kreuzträger; du bist ein Ring in der großen Kette Derer, die alle durch viel Trübsal eingegangen sind in's Himmelreich, bist in deiner Drangsalshitze umweht von dem Geiste Derer, die fröhlich gewesen sind, daß sie gewürdiget wurden, Trübsal zu leiden um Christi willen. Wo ein solches Bewußtsein in einem Herzen lebt, da verwandelt sich die Schwere des Leidens in eitel Ehre, da ist jeder Tod verschlungen in den Sieg des Glaubens und des Reiches Gottes über die Welt und über die Gewalt des Fleisches; da erhellt sich die Kammer des Leidenden vor dem wunderbaren Licht eines tiefen Gottesfriedens, und der Sterbende, um dessen Haupt der Tod die schwarzen Flügel schlägt, hört zu seinen Häupten die Palme des Ueberwinders rauschen; noch mitten unter den Leichengefilden ist schon das Ewige angebrochen.
Möge Gott uns Allen ein so seliges Ende verleihen!