Krummacher, Gottfried Daniel - Die evangelische Lehre von der Rechtfertigung - 4. Predigt

Krummacher, Gottfried Daniel - Die evangelische Lehre von der Rechtfertigung - 4. Predigt

(gehalten am 31. Oktober 1830)

Ein König macht auch billig königliche Geschenke, wenn er welche macht. So hat's auch in diesen Tagen Se. Maj. unser teurer König gegen die Armen der beiden Residenzstädte bewiesen, denen er ein Geschenk von 6000 Thalern übermachen ließ.

Wie bewundernswürdig erscheint in dieser liberalen, großartigen Beziehung der König, den der Herr eingesetzt hat auf seinem heiligen Berge Zion. Zu ihm trat einst ein Bettler, und bat ihn, freilich schüchtern und bescheiden, jedoch zuversichtlich, um ein Almosen, das jedoch mehr an Wert sein, und ihn glücklicher und reicher machen sollte, als 6 Tausend oder 600 Tausend oder 6 Millionen Thaler es vermochten, wiewohl er um etwas bat, was sich nicht unter Zahlen bringen läßt, nämlich bloß um sein Andenken. „Gedenke an mich“, sprach der Bettler, den ihr jetzt alle an seiner Stimme erkennt, wenn ihr gleich seinen Namen nicht wisset.

Der König zu Zion war oder schien eben so arm, wie der Bittsteller selbst. Seine Untertanen hatten ihn freilich erhöht, aber nicht auf einen Thron, sondern an ein Kreuz. Statt der Krone hatten sie ihm einen Kranz von Dornen aufs Haupt gedrückt. Er hatte kein Hemd mehr am Leibe, geschweige denn einen Rock, über welchen sie eben das Los warfen, und so die Schrift erfüllten. Er selbst mußte um etwas bitten. Und um was denn? Um einen Trunk in seinem großen Durst.

Dennoch war dieser arme König reich genug, jenem armen Bettler das Himmelreich zu schenken, und schenkte es ihm wirklich mit den Worten: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“

Ihr wisset die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, welcher ob er wohl reich ist, ward er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet. Wovon sollten wir auch diesmal anders reden, als von der Gnade dieses reichen Königs?

Laßt uns nur arm, laßt uns nur Bettler sein, und uns zwar in tiefster Demut, aber auch mit herzlicher Zuversicht an ihn wenden! Er wird uns nicht leer entlassen.

Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, geoffenbaret und bezeuget durch das Gesetz und die Propheten. Ich sage aber von solcher Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesum Christ zu allen und auf alle, die da glauben.
Römer 3, 21.22

Die Frucht der Erlösung, die durch Jesum Christum geschehen ist, nämlich die Versöhnung und die Gottesgerechtigkeit, war der Gegenstand unserer vorigen Betrachtung. Jetzt haben wir noch zweierlei zu erwägen.

Das Erste ist: Die Bestätigung der paulinischen Lehre, nachdem sie geoffenbaret ist durch das Gesetz und die Propheten.

Das Andere betrifft die Art und Weise, dieser Versöhnung und Gerechtigkeit teilhaftig zu werden.

I.

Die sich selbst überlassene Vernunft weiß von der Lehre, die wir betrachten, durchaus nichts. Es ist nie in eines Menschen Herz gekommen. Kein Ohr hat es außer dem Evangelio gehört, kein Auge gesehen. Gewiß müssen wir vielen alten und auch neueren Philosophen Augen und Scharfsinn zuerkennen, müssen gestehen, daß sie viel Merk-, ja Bewunderungswürdiges gefunden und gesagt haben, obschon ihnen die Offenbarung nicht zu Hilfe kam. Sie geben auch sehr gute Lebensregeln. Aber von dieser Lehre trifft man bei ihnen allen auch nicht die leiseste Ahnung an. Sie mußte offenbaret, sie mußte von Gott offenbaret werden. Sie ist es auch. Aber, selbst seitdem sie das ist, bleibt sie vielen verborgen, anderen rätselhaft, vielen verhaßt, einigen dunkel und wenigen lebendig klar, ja alle erkennen nur stück- und teilweise, und sehen wie durch einen Spiegel in ein dunkles Wort, und jeder versteht sie nur in dem Maße, als es dem heiligen Geist gefällt, ihn in dies gottselige Geheimnis einzuweihen und darin zu erhalten. Selbst in den Evangelien, welche in der Übergangsperiode aus der Nacht des alten zu dem Tage des neuen Bundes, in die Zeit der Morgendämmerung gehören, kommt diese Lehre nur noch verschleiert, wenn gleich als Fundamental-Lehre, vor. Christus tauft mit Feuer. Er verbrennt und zerstört die falsche Gerechtigkeit mehr, als er geradezu die wahre eigentlich ins Licht stellt. Die Pharisäer, als Verfechter und Standhalter jener falschen Selbstgerechtigkeit aus dem Gesetz, sind ein vorzüglicher Gegenstand, den er bestreitet. Aber indem er es feststellt: „Es sei denn eure Gerechtigkeit besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht ins Reich Gottes kommen“, spricht er sich doch im Ganzen über diese bessere Gerechtigkeit nicht mit völliger Deutlichkeit aus, welche der Zeit nach der Ausgießung des Heiligen Geistes vorbehalten war und zu denjenigen Dingen gehörte, wovon Jesus zu seinen Jüngern sagte: „Ich hätte euch noch vieles zu sagen, ihr könnt es aber jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird auch die Welt überzeugen von der Gerechtigkeit“. Nur einmal gedenkt er der Gerechtigkeit Gottes als eines Guts, wonach wir am ersten trachten sollen, wo uns denn alles Übrige zufallen werde; nur einmal sagt er: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist,“ - veranlaßt dadurch zwar viel Nachsinnens, sagt aber erst lange nachher: Er sei der Weg. Mit Worten sagt er nie: Ich bin eure Gerechtigkeit, wenn er gleich sagt: „Uns gebühret es, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ Mit der Tat aber beweiset er's sehr oft, und am glänzendsten kurz vor seinem Tode, indem er vielen ihre Sünden vergab und unter diesen auch solchen, die in besonderem Sinne Sünder waren, ja sogar Macht erteilte, in seinem Namen Sünden zu vergeben oder zu behalten.

Nach der Ausgießung des Heiligen Geistes aber wurden die Schleier und Windeln ganz weggenommen, und die Rechtfertigungslehre, die Lehre, daß Christus selbst unsere Gerechtigkeit sei, tritt wie ein heller Morgenstern hervor. Dem Apostel Paulus aber, einem vormals strengen Pharisäer und gewaltigen Eiferer fürs Gesetz und die Gerechtigkeit aus demselben, an dem aber Christus vornehmlich den Reichtum seiner Gnade erwies, scheint es, vor den andern Aposteln her, verliehen worden zu sein, diese Lehre mit besonderer Deutlichkeit und Kraft zu verstehen und vorzutragen, weswegen er auch wohl bei einigen Christen aus den Juden verdächtig wurde, als hebe er das Gesetz auf. So war's auch unter den Reformatoren des sechszehnten Jahrhunderts dem, auch vorher so pharisäischen, mönchischen Luther vorbehalten, diese Lehre, wenigstens mit besonderer Lebendigkeit und Eifer, vorzutragen, und sich da in keine Widersprüche zu verwickeln, wie es sonst bei diesem großen, vielbeschäftigten Manne oft der Fall ist, und auch auf den Teil der Kirche, die sich nach ihm nannte, unverkennbar seinen Geist vererbte, insofern sie nicht samt der übrigen protestantischen Kirche abtrünnig geworden ist. Auch er mußte sich um dieser sehr ehrwürdigen Ursache willen sehr verketzern lassen. Darum erweiset der Apostel, daß er keine neue Lehre vortrage, sondern eine Lehre, welche im Gesetz und in den Propheten bezeuget ist. Es würde eine sehr angenehme Beschäftigung sein, die Zeugnisse des Alten Testaments von der Glaubensgerechtigkeit zusammenzustellen, wenn dieser Zeugnisse nicht zu viele an der Zahl wären. Der Apostel führt hauptsächlich drei an; eins aus dem Gesetz, wo von Abraham gesagt wird: Er hat Gott geglaubet, und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet„; das andere aus den Psalmen: „Selig ist der Mann, dem der Herr die Sünde nicht zurechnet“ - woraus der Apostel den Schluß macht, daß die Seligkeit sei allein des Menschen, welchem Gott zurechnet die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke; das dritte aus den Propheten: „Der Gerechte wird aus dem Glauben leben“, aus welchen Sprüchen er die wichtigsten Schlüsse herleitet, welche an ihrem Ort Römer 4 und Galater 3 mögen nachgelesen werden. Übrigens, was kann Herrlicheres gesagt werden, als wenn es heißt: „Dies wird sein Name sein, daß man ihn nennen wird: Herr, der unsere Gerechtigkeit ist“. Ja, wenn die Kirche selbst so genannt wird, wie sie in der Offenbarung als ein Weib mit der Sonne bekleidet erscheint, wenn Christus die Sonne der Gerechtigkeit genannt wird, wenn die Kirche rühmt: „Er hat mich mit dem Rocke der Gerechtigkeit bekleidet“, wenn ihr gesagt wird: „Alle Zunge, so sich wider dich setzt, sollst du im Gerichte verdammen, das ist das Erbe der Knechte des Herrn und ihre Gerechtigkeit von mir, spricht der Herr“. Wer also gegen diese Lehre angeht, der bestreitet die ganze heilige Schrift und hat nicht bloß den einigen Paulus und seine Lehre wider sich, sondern das Gesetz, die Psalmen und Propheten, also Gott selber, und versucht, wenn gleich vergeblich, den Grund einzureißen, worauf die ganze Gemeine erbauet ist, welche die Pforten der Hölle nicht überwältigen können.

II.

Von der höchsten Wichtigkeit ist nun die Frage: wie und auf welche Weise ein Sünder dieser Gerechtigkeit und Versöhnung teilhaftig wird, so daß sie ihm zu Gute kommt?

Ernstlich geschieht dies nicht so ohne Weiteres, wie wenn jemand bei gutem Wetter ausginge und plötzlich von einem Gewitterregen überfallen und durchnäßt würde. Es geht damit nicht, wie wenn ein König, der bisher Krieg geführt hat, Frieden schließt, dessen Vorteile die Untertanen ohne Weiteres genießen, mögen sie den Friedensschluß genehmigen und billigen, oder nicht, worauf auch bei Abschließung des Friedens gar keine Rücksicht genommen wird; sondern wenn wir davon ein Bild machen wollen, so verhält es sich damit, wie etwas mit einem Kranken- oder Armenhause, was doch noch mancherlei voraussetzt, mit einem Schiff oder sonstigen Fahrzeug, das Menschen irgend wohin führt. Mit deutlichen Worten: Man kann nun denken oder sagen: „wohlan! wir sind nun versöhnet, wir haben nun eine vollkommene Gerechtigkeit, die ist Christus, wir haben uns nun um weiter nichts zu bekümmern oder zu sorgen, zu grämen oder zu ängsten. Vor Gottes Gericht brauchen wir uns nicht zu scheuen, denn wir haben ja einen Bürgen und ein vollgültiges Lösegeld. Werke kommen hierbei nicht in Anschlag. Was brauchen wir uns darum Sorgen zu machen! Die bösen Werke hat Christus auf einmal bezahlt und die guten Werke sind für uns vollbracht. Mögen nun diejenigen es sich sauer werden lassen, die da meinen, sie müßten oder könnten das. Wir nicht also. Wir leben wie es uns gut dünkt, tun und lassen, halten und übertreten, was uns recht ist.“ Nein, so stehen die Sachen keineswegs, und können sie nicht stehen. Dann wäre Christus ein Sündendiener; nicht ein Zerstörer, sondern ein Beförderer der Werke des Teufels; dann würde er die Sünde nicht wegnehmen, sondern beschützen und die Sorglosigkeit, Frechheit, Gesetzlosigkeit und den Aufruhr wider Gott autorisieren, nicht die Gottlosen, sondern die Gottlosigkeit, nicht die Sünder, sondern die Sünde rechtfertigen, und er gliche einem Häuptlinge einer Bande von Meuchelmördern, die er beschützte, um unter seinem Schirm ihre Übeltaten ungestraft auszuüben. Freilich ist es von Pauli Zeiten her im Schwange gewesen, der Rechtfertigungs-Lehre solche ungeheure Aufbürdungen zu machen, solche erschreckliche Folgerungen daraus herzuleiten und sie solcher verderblichen Grundsätze zu beschuldigen. Schon Paulo setzte man mit der Frage zu: „sollen wir in der Sünde beharren, damit die Gnade desto mächtiger sei? Mögen wir sündigen, dieweil wir nicht unter dem Gesetz sind, sondern unter der Gnade?“ und nötigte ihn zu der vortrefflichen, ablehnenden Beantwortung dieser boshaften Fragen, welche wir Römer 6 lesen. Schon Paulus mußte sich von übelgesinnten Leuten, wir wir im Anfang unseres Textkapitels lesen, beschuldigen lassen: Er lehre, man solle Böses tun, damit Gutes daraus komme, weil doch unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit preise, und seine Wahrheit durch meine Lügen herrlicher werde, über welche Lehre er das Verdammungsurteil fällt.

Es steht aber fest, daß niemand der Versöhnung und Gerechtigkeit Gottes so ohne Weiteres, ohne daß dabei in seinem Verstande, in seinem Willen, in seinem Herzen, etwas Neues und Besonderes vorginge, teilhaftig werde. Ist es undenkbar im Natürlichen, daß nichts in dem Gemüte eines Menschen vorginge, den sein König, dem er nach dem Leben getrachtet, dessen Sohn er ermordet, nicht nur begnadigte, sondern noch obendrein königlich beschenkte, so ist es im Geistlichen durchaus unmöglich bei einem Sünder, der von Gott um Christi willen von allen seinen Sünden los- und gerechtgesprochen wird, daß dabei nicht etwas Besonderes und Merkwürdiges in seinem Gemüte vorginge, und vorhergegangen wäre, wie wir nachher noch genauer bezeichnen werden.

Zweitens aber wird man auch der Versöhnung und Gerechtigkeit Gottes nicht teilhaftig durch Werke, welcherlei Art und Vortrefflichkeit sie auch sein mögen. Das ist der Weg durchaus nicht. Abraham hatte in der Tat wohl Werke, die sich durften sehen lassen. Sie sind ihm aber zur Erlangung der Gerechtigkeit vor Gott nicht behilflich gewesen, sondern folgten erst nachher drauf. Das Erbe ward ihm durch Verheißung frei geschenkt. Diese Verheißung war auch drittehalb Tausend Jahre, oder von Abraham an gerechnet 430 Jahre älter, als das Gesetz. Sie ward aber durch dieses weder aufgehoben, noch beschränkt, sondern bleibt als ein zuvor auf Christum bestätigtes Testament fest. Das Gesetz kam aber um der Sünde willen neben ein, damit dieselbe desto klarer möchte erkannt, und so die Notwendigkeit der Verheißung desto deutlicher möchte eingesehen werden. Die aber mit des Gesetzes Werk umgehen, um sich dadurch zum Seligwerden durchzuarbeiten, erreichen ihren Zweck so wenig, daß sie vielmehr vor wie nach unter dem Fluche liegen bleiben, statt ihn von sich zu wälzen.

Wir geben es zu, daß diese Lehre allen denen, welche glauben etwas zu sein, eine sehr verdrießliche Lehre sei, weil sie ihren ganzen Grund umwirft, den sei eben auf ihre Werke bauen. Wir wissen, daß die geängstete Natur sich freuen würde, wenn die Gnade an die Erfüllung irgend einer, wenn auch beschwerlichen, Bedingung geknüpft wäre, und daß mancher sich an dieselbe machen würde. Wir wissen, daß der glaublose Mensch weit lieber sein Heil in seinen eignen Händen, als lediglich und ganz in Gottes Hand erblickte, und daß die heutzutage herrschende falsche Lehre eben aus dieser fleischlichen Neigung herfließt, so wie das Papsttum sich eben darauf gründet. Wir wissen auch, daß man allerlei und namentlich auch die Einwendung dagegen gemacht hat, es würden nur zeremonielle Werke gemeint, der ausgesprochenen und immer wiederholten Beschuldigungen gegen diese Lehre nicht zu gedenken. Endlich wissen wir, daß diese Lehre nur auf den Trümmern der eigenen Gerechtigkeit und Kraft sanft einherfährt und Eingang ins Herz findet, daß große und gründliche Demütigungen ihr den Weg bahnen, sie köstlich, erwünscht und lieblich machen. So lange aber jenes nicht vorangegangen, läßt sich dieses nicht erwarten.

Leset und verstehet Jesaja 57! Am Schlusse des Kapitels heißt es: „Ich gab ihnen wieder Trost. Ich will Frucht der Lippen schaffen, die da predigen: Friede, Friede, beides denen in der Ferne und denen in der Nähe, spricht der Herr, und will sie heilen.“ Aber welcher Weg führt zu diesem Ziel? Davon heißt es im 10. Verse: „Du zerarbeitest dich in der Menge deiner Wege und sprachest nicht: Noasch, d.i. da wird nichts aus; sondern weil du findest ein Leben in deiner Hand, wirst du nicht müde.“ Nun aber heißt es weiter: „Ich will aber deine Gerechtigkeit anzeigen, und deine Werke, daß sie dir kein nütze sein sollen. Wenn du rufen wirst, so laß das, was du zusammen gebracht hast, dich retten. Aber der Wind wird alles wegführen.“ Fernere sagt Gott: „Ich war zornig über die Untugend ihres Geizes, schlug sie, verbarg mich, und zürnte. Da gingen sie hin und her in den Wegen ihres Herzens,“ griffen's bald so und bald anders an, versuchten's jetzt auf diese und dann auf eine andere Weise. Was wurde endlich aus ihnen? Sie wurden demütigen und zerschlagenen Geistes. Und was tat nun der Herr? Er fing an, bei ihnen zu wohnen, daß er erquickte den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen. Er befahl: „Machet Bahn, machet Bahn, räumet die Anstöße weg!“ Jetzt zeigt er ihnen den rechten Weg, wenn er sagt: „Wer auf mich trauet, wird das Land erben und meinen heiligen Berg besitzen.“ Jetzt sieht er sie an und heilet sie, und läßt einen Geist von seinem Angesicht wehen und macht Odem. Kurz, den Armen wird das Evangelium gepredigt, denen ist es recht, ist es willkommen, stimmt mit ihren Bedürfnissen überein.

Laßt uns jetzt aber zu der eigentlichen Art und Weise übergehen, wie der Sünder der Versöhnung und Gerechtigkeit teilhaftig wird. Diese Art ist zweifach. Erstlich von Seiten Gottes durch Zurechnung, zweitens von Seiten des Menschen durch Glauben.

Von Seiten Gottes wird der Sünder der Gerechtigkeit und Versöhnung teilhaftig durch Zurechnung. Was Zurechnung sei, ist jedem bekannt. Im moralischen Sinne rechnet man jemandem eine Handlung und deren Folgen zu, die er durch sich selbst oder andere aus freien Stücken ausgeführt hat. Der Tod des Urias wird dem David zugerechnet, obschon er selbst keine Hand an ihn legte. In Geldsachen giebt's, insbesondere bei Bürgschaften - Schulden und Zahlungen, welche andern Personen zugerechnet werden, als die sie gemacht haben. Spricht oder handelt jemand im Namen eines anderen, so wird dies gerechnet, als ob's der andere selbst verrichtet hätte. Hier ist die Rede von einer Zurechnung, welche von Seiten Gottes geschieht, jedoch nicht von jener verderblichen Zurechnung, welche David verbittet, wenn er ausruft: „Herr, so du willst Sünde zurechnen, wer kann vor dir bestehen?“ Rechnet Gott jemandem seine Sünden zu, so läßt er ihm dieselben in ihrer ganzen Strafbarkeit entgelten, und er ist verloren. Wir reden hier aber von der Zurechnung als einem Mittel und Weg, der Versöhnung, der Gerechtigkeit Jesu Christi teilhaftig zu werden. In unserm Text, wie in dem ganzen Textkapitel, ist freilich nirgends von Zurechnung die Rede, desto öfter aber in dem folgenden, wo derselben zehnmal gedacht wird. Dies ist ein äußerst merkwürdiger, trostreicher Begriff, eine dem Evangelio ganz eigentümliche Lehre. Gott, als oberster Richter, rechtfertigt einen bisherigen Sünder dadurch, daß er ihm den leidenden und tätlichen Gehorsam, daß er ihm die Gerechtigkeit seines eingebornen Sohnes zurechnet, als ob er dies alles in seiner eigenen Person getan und gelitten, als ob er nie keine Sünde weder begangen noch gehabt hätte, und wird für so gerecht und heilig gehalten, wie Jesus Christus selber. Ist das nicht etwas Außerordentliches? Ist das nicht etwas über alle Maßen Vortreffliches und Herrliches? Ist das nicht etwas so Glänzendes, daß es uns durch seine Strahlen blenden, etwas so Großes, daß es uns unglaublich, unmöglich vorkommen möchte? Was wollen wir dazu sagen? Was wäre das für eine Handlung, wenn ein Gläubiger seinem Schuldner nicht so sehr seine ganze unbezahlbar Schuld erließe, sondern vielmehr ihm ein erstaunlich großes Kapital so zu gut schriebe, als ob's ihm angehörte, und das in allem Ernst und rechtskräftiger Form. würde jemand, dem das widerführe, nicht Mühe haben, seinen eignen Augen und Ohren in dieser Sache zu trauen? Würde sein Erstaunen, seine Verwunderung, seine Bestürzung samt seiner Dankbarkeit und Freude nicht um so lebhafter werden, je unwidersprechlicher ihm bewiesen würde, daß durch den Reichtum und die Güte seines Gläubigers ein solcher glücklicher Wechsel in seinen Vermögensumständen vorgegangen, da er auch ganz anders, nach aller Strenge mit ihm hätte verfahren können, wenn er gewollt. Und wie leicht wäre er zu solch' einem Glück gekommen! Aber welch' ein matter Schatten ist dies gegen dasjenige hohe Gut, wovon wir reden! Welch' ein Weg, welch' ein wunderbarer Weg, gerecht zu werden durch Zurechnung! Und durch was für eine? Durch eine Zurechnung, vermittelst welcher die allerheiligsten Verdienste des Sohnes Gottes, die mehr wert sind, als Himmel und Erde samt allem, was darinnen ist und wohnet, dem Sünder gut geschrieben werden, der nichts als der ewigen Verdammnis wert ist, welche ihm auch schon zuerkannt war, der nichts dazu beitragen konnte! So kann freilich nur ein Gott beschenken. Wird diese Gerechtigkeit zugerechnet, so sind die Glücklichen, denen dies widerfährt, freilich nicht bloß Gerechte, wie Adam vor dem Fall einer war, sondern sie sind Gerechtigkeit Gottes, gerecht wie Jesus Christus selber. Wo ist eine Herrlichkeit, wie die des eingebornen Sohnes vom Vater, und wo ist eine Herrlichkeit, wie die seiner Armut, die einhergeht in seinem Schmucke? Er, die Sonne, sie der Mond, ja mit der Sonne bekleidet.

„Gott selbst mein Vater ist; ich bin des Sohnes Braut;
Sein Geist das Pfand und Band, wodurch ich ihm vertraut;
Gott hat mir mehr geschenkt als allen Seraphinen;
Die Engel stetig mich begleiten und bedienen;
Ich habe was ich will; die ganze Welt ist mein;
Die Hölle fürchtet mich, ich fürchte Gott allein;
Im Himmel wandle ich als eine Königin:
Sag, armes Weltkind, ob ich nicht was Großes bin!“

Was versäumt doch der, der dies versäumt, wovon jeder Kenner sagen wird:

„Hätt' ich der Engel Heiligkeit,
Ich legte ab dies schöne Kleid,
Und wollt' in Jesum mich verhüllen.“

Welch ein himmlischer Frieden muß daraus erwachsen, welcher göttlicher Friede, welche Beugung, welche Dankbarkeit, welche Liebe! O erfahret es selbst!

Jedoch ist uns noch eins zu sagen übrig, welches wir der folgenden Schlußbetrachtung vorbehalten. Das Alles, was wir gesagt und betrachtet haben, ist nun gut und wohl, wahr und unwidersprechlich. Aber nun kommt alles wieder darauf an, ob wir glauben können. „So du glauben könntest! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubet. Glaubest du, daß ich dir das tun kann, so mag's wohl sein. So du glauben würdest, solltest du die Herrlichkeit Gottes sehen. Dein Bruder soll auferstehen. Glaubst du das? Die Gerechtigkeit Gottes kommt durch den Glauben an Jesum Christum zu allen und auf alle, die da glauben.“

Denen aber hilft es alles nichts, die nicht glauben, und alle die sind verloren, von denen das Wort Johannes gilt: „Sie konnten nicht glauben,“ oder Christi Wort Joh. 10: „Ihr glaubet nicht, denn ihr seid meine Schafe nicht.“ Wer aber glaubet, der wird seine Seele retten. Das ist aber Gottes Werk, daß ihr an den glaubet, den er gesandt hat. Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

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